Wahlkampf, aber keiner geht hin

Hallo Lage Team,

ich schätze ihr werdet, in der nächsten nach-Sommer-Lage den Wahlkampf einordnen.

Ich bin darauf sehr gespannt. Ich erlebe das gerade sehr merkwürdig. Drei Dinge fallen besonders ins Auge:

  • Insgesamt kommt mir der Umgang der Anhängerschaften untereinander gehässiger und zynischer vor. In den sozialen Medien wirkt Deutschland gespalten. Ich habe den Eindruck, dass das auch in die klassischen Medien durchschlägt. Da ist die:der jeweils andere Spitzenkandidat:in gleich der Untergang des Abendlandes. Beispielhaft hier im Kommentar von Sascha Lobo beschrieben.
  • Ich nehme wenig Auseinandersetzungen der Programme wahr. Ich kriege das irgendwie nicht mit, obwohl (?) ich viel Zeitung lese. Wir geht das erst anderen?! Wo sind die Duelle? Wo die Themen? Wo die Unterschiede?
    • Alle sind für Klimaschutz.
    • Alle wollen das mit der Industrie in Einklang bringen.
    • Alle wollen mehr Geld ausgeben.
    • Alle wollen mehr Geld für Pflegekräfte.
    • Alle wollen Digitalisierung.
  • Die Spitzenkandidat:innen sind alle schwach:
    • Scholz kann bis jetzt nicht verständlich erklären, warum nun gerade die SPD eine Regierung anführen sollte, und versucht wenigstens ein kompetentes Bild zu liefern.
    • Was für Hillary Clinton die E-Mails waren, sind für Baerbock der Lebenslauf, das Buch und die Einkünfte: überflüssig, vermeidbar, Lappalien, Kinkerlitzchen im Vergleich zu den Fehlern und Schwächen der Konkurrenten aber trotzdem ausreichend um ihre Kandidatur nachhaltig zu schaden. (Zur Erinnerung: Scholz Cum-Ex, G20-Gipfel-Krawalle; Laschet Würfel, van Laack etc.)
    • Laschet onkelt sich recht erfolgreich weil inhaltlos durch einen Wahlkampf ohne die eigenen Reihen so richtig hinter sich zu bringen. Regelmäßig muss er Angriffe von Parteimitgliedern ertragen. In der CDU Historie gab es stärkere Kandidaten.

Schwache Kandidat:innen, große Spaltung, wenig konkrete Positionen: Amerikanisiert sich unser Wahlkampf?

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Ich kann diesen Eindrücken nur voll zustimmen. Und hinsichtlich der Amerikanisierung: Ja, irgendwie schon. Nur dass da dann doch noch ein paar sehr polarisierte Themen (Abtreibung, Waffen) eine Rolle spielen.

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Ich finde das auch sehr schade. Zum einen, da ein inhaltlicher Wahlkampf gewaltige Unterschiede in der Herangehensweise der Parteien aufzeigen kann, die grade nicht so auffallen. Zum anderen, da so die Partei gewinnt, die am wenigsten zu bieten hat und damit am wenigsten Angriffsfläche bietet.

Es sind ein paar Tage her, dass ich den Post verfasst habe. Der Titel passt nicht mehr so ganz. Es gab zuletzt ein paar inhaltliche Auseinandersetzungen wie die große Untersuchung der Steuerprogramme durch das Zentrum der Europäischen Wirtschaftsforschung.

Einiges ist geblieben. Die Kandidat:innen bleiben schwach.

Laschet sieht im Moment wie der Sieger aus. Mit ihm segeln dann so Modernisierer wie Merz und Liminski ins Kanzleramt. Hart.

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Also ich würd dir da in den meisten Punkten widersprechen. Ist erst die zweite Wahl die ich als Wähler miterlebe und meiner Meinung ist ein klarer Trend zu mehr Information im Wahlkampf spürbar.

Wenn man mal ein paar Jahrzente zurück blickt, ist das ziemlich offensichtlich. Da musstest du noch pünktlich vorm Fernseher sitzen um das eine Duell nicht zu verpassen und dir das Wahlprogramm wahrscheinlich in der Parteizentrale abholen.
Heute kannst du dir von jedem Politiker stundenlang Interviews angucken, hast das Parteiprogramm auf deinem Handy, kannst zig Polit-Podcasts wie LdN hören und immer mehr Wissenschaftler und Experten bringen sich in politische Diskussion ein.

Der Drosten Podcast ist dafür find ich ein sehr schönes Beispiel, da er selbst Laien ermöglicht komplexe politische Entscheidungen zu bewerten, in einer Weise, die vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre.

Weiß nicht welche Duelle du vermisst, soweit ich mich erinner gabs 2017 ein einziges Kanzlerduell kurz vor der Wahl. Trielle gabs bis jetzt schon 2?
Auch die Fernseh Talk-Shows sind meines Wissens nicht weniger geworden, selbst RTL und Prosieben versuchen mehr seriöse Politik- und Nachrichtensendungen zu bringen.

Zu mehr verfügbarer Information gehört dann auch, dass viel extremer auf die Biografien der Kandidaten geguckt wird. Muss wohl jeder selbst entscheiden welche Infos einem wichtig sind.
Ich glaube da liegt dann auch das Problem, wie der Eindruck entsteht, dass es eigentlich weniger „relevante“ Informationen gibt. Wenn du dich über das Programm einer Partei informieren möchtest, musst du dich aktiv darum bemühen.
Keine Zeitung oder Nachrichtensendung wird dir all die Unterschiede im Programm der Grünen und der SPD erklären. Gerade die Gratis Artikel von Online Zeitschriften sind darauf ausgelegt, dass du die in ~5min gelesen hast.

Meiner Meinung nach eine leere Floskel. Was soll das überhaupt konkret bedeuten?
Das jetzt Baerbock, Scholz und Laschet durch Deutschland touren und große Rallys abhalten? Sollte ich mir morgen ne Baerbock Fahne bestellen?
Muss hoffentlich nicht dran erinnern, dass in den USA immer noch ein großer Teil glaubt die Wahl wäre gefälscht und den Klimawandel leugnet.

„Große Spaltung“ in Deutschland erscheint mir also sehr übertrieben, schreibst ja selbst dass du Probleme hast Unterschiede zwischen den Parteien zu finden. Ist doch postiv dass die Ziele im Großen parteienübergreifend geteilt werden und wer sich dann die konkreten Pläne der Parteien anguckt, findet dann auch die unterschiedlichen Wege dahin. Und im besten Fall gibts dann noch Untersuchungen, wie die von dir verlinkte, um die Wege auch beurteilen zu können.

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Ja, über die Programme wird berichtet. Wer will kann bestimmt nachlesen. So sind die Positionen klar, CDU/CSU: Kohle und Verbrenner bis zum bitteren Ende, Gas aus Russland, Rechte Positionen schützen (Maassen), Steuer-Erleichterungen für die Reichen mit Umverteilung von unten. Da ist doch jedwede Diskussion entbehrlich. Laschet würde eh nur mit den Schultern zucken. Rechte Gesinnung in seiner Partei? Klimawandel? Hat er noch nie von gehört. …und den Wissenschaftlern sollte man eh nicht glauben…

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Um deine Frage zu beantworten:

Den Wahlkampf in den USA würde ich als Tribal-War beschreiben: es gibt Tribes, zu denen hältst du, ob es dir nützt oder nicht spielt keine Rolle. Zwischen den Tribes gibt es große Abneigung bis zu Hass.

Ich habe das Gefühl, dass wir in Deutschland auch da rein rutschen.

Du beschreibst das gut:

Die Programme unterscheiden sich nicht so groß und trotzdem wird Baerbock quasi Sozialsmus vorgeworfen und Laschet will den Planeten vernichten. Die Abneigung in den sozialen Medien ist enorm. Die Klüfte riesig.

Es gibt den Tribe Laschet. Der findet, es nicht okay, Fliegende mit einer CO2 Steuer zu belasten, weil doch jeder reisen können muss, aber schon okay, Heizende mit CO2 Steuer zu belasten. Das ergibt keinen Sinn, ist aber nicht wichtig. Da muss man zum Tribe halten.

Im Tribe Baerbock ist Laschet der Untergang des Abendlandes. Da wird dann die Überflutung in Rheinland-Pfalz als Beleg für die schlechte Leistung von Laschet herangezogen. Auf der anderen Seite ignoriert man die Regierungsbeteilung in NRW in den Jahren vor Laschet. Das ergibt keinen Sinn, ist aber nicht wichtig. Da muss man zum Tribe halten.

Was der Tribe AfD findet, brauch ich nicht zu erwähnen.

Es gibt bestimmt bessere Beispiele. Ich möchte nur das Prinzip verdeutlichen.

Genau wie in den USA, wo nach einer Schießerei Zeit für „Thoughts and Prayers“ angemahnt wird, mahnen jetzt Menschen, die Fluten nicht zu instrumentalisieren.

Mein Eindruck ist, dass die sozialen Medien wie ein Brandbeschleuniger die Gräben vertiefen und nicht für mehr Verständnis sondern für mehr Unterschiede sorgen.

Edit: scheinheiligen Teil zur Regierungsbeteiligung der Grünen in NRW hinzugefügt.

Was die Kasperlmannschaft im Hintergrund veranstaltet ist zu mindest höchst unprofessionell.
Von denen sollen wir regiert werden?
Die sollen die anstehenden Krisen bewältigen können?

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Machst es dir aber sehr einfach, wenn du nur „Partei“ mit „Stamm“ ersetzt und dann meinst wir hätten hier „Stammeskriege“, weil die nicht alle einer Meinung sind.

Klar wenn ich mich erstmal für 'ne Partei entscheide, halte ich im Zweifel auch zu Aussagen, die ich vorher nicht unterstützt hätte. Das hat aber nichts mit social media oder Amerikanisierung zu tun, sondern mit der Art wie Menschen seit tausenden Jahren denken. Eine rein rationale Wahlentscheidung ist eine menschlich nicht machbare Idealvorstellung.

Trotzdem sieht man gerade in den letzten Jahren starke Wählerwanderung, die diesem Stammesgedanken doch irgendwie widersprechen. Auch Parteimitgliedschaften werden seit ca. 1970 insgesamt weniger. (Die letzten Jahre eher konstant, 2020 gab es aber laut Wikipedia 20.000 weniger Mitgliedschaften als noch im Vorjahr)

Lohnt sich wieder ein Blick in eine Vergangenheit mit 3 Parteien im Bundestag, die über Jahre hinweg kaum Sitzplätze getauscht haben. Da wusstest man noch wen man in 8 Jahren wählen wird. (Gibt es sicher heute auch noch Leute)

Hab auf die schnelle keine Statistiken dazu gefunden, aber würde die Vermutung anstellen, dass sich bei der Bundestagswahl 2021 durchschnittlich mehr Zeit für die Wahlentscheidung genommen wird, als bei vergangenen Wahlen.

Glaub ehrlich gesagt nicht, dass das auch nur ein Prozent der Bevölkerung ernsthaft glaubt, vor allem wird das so nie von den jeweiligen Parteien verbreitet. Ganz im Gegensatz zum Wahlkampf in den USA.

Baerbock oder andere Grüne würden nie behaupten Laschet möchte den Planeten zerstören und andersrum würde Laschet Baerbock keinen Sozialismus vorwerfen. Zumindest in der absolut negativen Interpretation, Sozialismus ist ja immer so ein schwammiger Begriff.

Das was mir da am ehesten zu einfällt sind Phrasen, wie man sollten den Markt selbst für CO2 Einsparungen arbeiten lassen. Mit denen dann den Grünen vorgeworfen wird, sie verstehen die Wirtschaft nicht ohne das man selbst 'nen Plan aufzeigen muss. (Das ist ja im Grunde mit „Baerbock will Sozialismus“ gemeint, ich finde aber da steckt zumindest nicht der gleiche Hass drin)

Hast natürlich einen Punkt, dass Diskussionen in social media eher zu Beleidigungen, Drohungen usw. führen. Bieten gleichzeitig aber auch eine große Möglichkeit zur Aufklärung, die dann häufig außer acht gelassen wird, wenn‘s um die Auswirkung der Plattformen auf den Wahlkampf geht.

Dass Du die Tribes nach den Kandidaten benennst, soll wohl auch die Nähe zum amerikanischen Wahlkampf darstellen. Hab hier aber mehr das Gefühl dass man sich eher zu einer Partei oder bestimmten Werten zugehörig fühlt, als zum Spitzenkandidaten. Passt auch nicht mit der Aussage zusammen, dass die 3 Kandidaten schwach sind. Ist auch kein Geheimnis, dass sich viele in der Union Söder oder Merz gewünscht hätten oder dass Habeck parteienübergreifend beliebter ist.

Die Beispiele sind nicht wirklich repräsentativ. Will nicht sagen, dass es keine Leute gibt, die das genau so sehen, aber Du erweckst den Eindruck als wäre das die vorherrschende Meinung.

Das der Flugverkehr teurer werden muss, ist auch in der CDU verbreitete Meinung und Laschet hat sich auch für einen Verzicht auf innerdeutsche Flüge ausgesprochen.

Die Formulierung „Untergang des Abendlandes“ kenn ich sonst nur vom rechten Rand, von den Grünen oder ihren Anhängern wirklich nie gehört und auch sonst im Zusammenhang mit Laschet nicht.

Dass die Überschwemmungen auf Laschet geschoben werden, hab ich bis jetzt auch nicht mitbekommen.

Mit Katastrophen keinen Wahlkampf zu machen, erscheint mir doch sinnvoll oder nicht? Ist aber auch keine neue Weisheit. Wenn die Katastrophe ins eigene Bild passt, wird es dann natürlich trotzdem gemacht.

Da hast du Recht. Die Tribes mit den Spitzenkandidaten zu bezeichnen ist ungenau, denn

Komplett richtig.

Die Einordnung in links-rechts ist unterkomplex. Es gibt wohl bessere Modelle (siehe BpB). Ich hatte mal eins gefunden, was ich noch überzeugender fand. Ich finde es aber gerade nicht. Was alle Modelle gemein haben, ist, dass sie natürlich vereinfachen und generalisieren. Es gibt immer Ausnahmen und Sonderfälle. Es gibt immer wieder Übergänge. Wir Menschen sind mega komplex.

Ich tue mir schwer eigene Namen für die Tribes zu finden. Dafür bin ich in dem Thema nicht belesen genug. Ich skizziere mal, wie ich das meine:

Ich schätze, die Menschen die einen radikaleren Wandel zu Umweltschutz möchten, haben progressive soziale Werte (Frauen, Minderheiten), sind gebildet und kein Problem mit Solidarität bzw. einer kollektiven Antwort auf den Klimawandel.

Ein anderer Tribe hat ein Problem damit auf so vielen Ebenen (Sprache, Lebensstil etc) bevormundet zu werden. Dieser Tribe ist einer Progression sozialer Werte aufgeschlossen, möchte aber selbst entscheiden, wann und wie. Freiheit und Unabhängigkeit ist ein extrem wichtiger Faktor.

Es fehlen noch weitere. Man merkt aber gleich, dass es sehr kompliziert und länglich wird.

Soweit stimme ich dir zu.

Was ich sagen will ist: Kleinigkeiten wie Fußnoten, Entschuldjung Frau, Lachen und Lebenslauf werden rangezogen, um die eigene moralische Überlegenheit zu unterstreichen. Es werden Fakten ignoriert und zum Teil gegen die eigenen Interessen gewählt, weil die Zugehörigkeit wichtiger ist, als der persönliche Nutzen.

Beispiel für gegen die eigenen Interessen wählen: wenn ich die Zahlen der letzten Wahlen im Osten im Kopf habe, wählten die „Arbeiter“ (ja, Männer) mehrheitlich AfD. Das (bisschen Wirtschafts-)Programm der AfD ist gegen ihr ökonomisches Interesse.
Umgekehrt wird den Grünen-Wählern Reichtum unterstellt. Ihr Steuerprogramm aber hilft aber eher den ärmeren Leuten. Man könnte also auch sagen: die Cliché Grünenwähler:innen wählen gegen ihr eigenes ökonomisches Interesse. Es gibt offensichtlich Dinge, die wichtiger sind.

Ich finde es ja interessant, dass es bei Baerbock und Laschet viele aktuelle Artikel gibt, die kleinere und größere Verfehlungen der Kandidaten in der Vergangenheit auflisten, aber folgendes Kapitel von Scholz fast ganz vergessen scheint:

Eine Wahlkampfidee der SPD wird von Innensenator Schill aufgegriffen und verschärft. Drei Tage später stirbt der Kameruner Achidi J.

Während die Hamburger CDU und Schill den Brechmitteleinsatz seit langem vehement fordern, war er von SPD und Grün-Alternativer Liste (GAL) bis zum vergangenen Sommer ebenso vehement als „menschenverachtende und gesundheitsgefährdende Zwangsmaßnahme“ abgelehnt worden. […]"

Finde ich persönlich ja schon ein wenig berichtenswerter als verschlampte Klausuren als Lehrbeauftragter.

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