Vorschläge zu Wahlrechtsreform etc

Hallo Lage Team,

die Süddeutsche hat vor Kurzem folgenden Artikel veröffentlicht in dem sie den Politologen Christian Stecker interviewen, der mehrere Reform-Ideen für unser Wahlrecht und die themenspezifische Mehrheitsbildung vorschlägt, um die Akzeptanz der Politik wieder zu stärken.

Fände es sehr interessant, wenn ihr in einer zukünftigen Sendung mal auf diese Vorschläge näher eingeht. Über das Problem der Enthaltung im Bundesrat hattet ihr sogar schon einmal gesprochen.

Grüße,
Eike

Der Artikel ist leider hinter einer Paywall. Magst du die Kernpunkte mal zusammenfassen? Fände ich interessant.

Gerne, hier die m.M.n. interessantesten Ausschnitte.

Thema 1:

„Dieses Denken in Koalitionskorsetten, nach dem alle Partner immer gemeinsam für oder gegen eine Sache votieren müssen, steht nirgends geschrieben. Man hat es sich selbst auferlegt. Es behindert häufig demokratische Mehrheiten, die es eben oftmals in unterschiedlicher parteipolitischer Zusammensetzung gäbe. […] Viele denken bei Minderheitsregierungen, dass Minderheiten herrschen. Aber die idealtypische Minderheitsregierung sucht sich themenspezifische Mehrheiten.“

"Ein Vorteil von Minderheitsregierungen liegt darin, dass sie für die Mehrheitssuche das gesamte Parlament einbeziehen. Wenn es innerhalb der Ampelregierung keinen Konsens gibt, ist das aktuell hinreichend für Stillstand. Wenn es keinen Koalitionszwang gäbe, könnte gemeinsam mit der Opposition in bestimmten Themenfeldern nach Lösungen gesucht werden.

Der Einigungszwang in ideologisch überdehnten Koalitionen verschleißt ja auch die Partner, weil sie bestimmte Kompromisse schwer verkauft kriegen. Bei wechselnden Mehrheiten wären auch die Profile einzelner Parteien wieder sichtbarer, was zumindest einen Teil des rechtspopulistischen Narrativs über nicht unterscheidbare Altparteien entkräften könnte."

Thema 2:

"Es gibt viele clevere Wahlsysteme, die man ausprobieren könnte. Bei einer Personenwahl, also beispielsweise der Erststimme bei Bundestagswahlen oder Bürgermeisterwahlen, wäre ranked choice eine Möglichkeit.

Hierbei geben die Wählerinnen und Wähler nicht nur eine Stimme ab, sondern bringen die Kandidaten beziehungsweise Parteien in eine Reihenfolge. Beispielsweise könnte ein Anhänger der Linkspartei seine erste Präferenz einer Kandidatin der Linkspartei, die zweite Präferenz einem Vertreter der SPD und die dritte Präferenz einer Kandidatin der Grünen geben.

In der ersten Runde werden nur die ersten Präferenzen gezählt. Erreicht dabei niemand eine absolute Mehrheit, wird die Person mit den wenigsten Stimmen, zum Beispiel die Kandidatin der Linkspartei, gestrichen. Dann folgt eine zweite Auszählungsrunde.

Das hat den charmanten Nebeneffekt, dass man nicht strategisch wählen muss, da die Stimme nicht verschenkt ist, wenn der eigene Lieblingskandidat nicht gewinnt. Die eigene Stimme kommt dann eben einem, aus Sicht des Wählers, kleineren Übel zugute."

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Danke!

Sowohl die Idee einer Minderheitsregierung, als auch das Ranked Choice Wahlverfahren sind glaube ich in der Lage zu früheren Zeiten schon intensiv besprochen worden (wenn ich da nicht andere Podcasts verwechsle).

Ich finde beides durchaus Charmant. Aber in der Realität wird man ein paar gegenläufige Anreize überwinden müssen:

  • Das deutsche Grundgesetzt geht von einer absoluten Mehrheit als „Normalfall“ für die Wahl des Bundeskanzlers aus. Eine relative Mehrheit kann erst 14 Tage nach dem ersten Wahlgang für die Wahl eines Bundeskanzlers genutzt werden.
  • Ob ein mit relativer Mehrheit gewählter Bundeskanzler auch sein Amt antreten kann entscheidet der Bundespräsident. Er kann alternativ den Bundestag auflösen und Neuwahlen auslösen. Das macht Minderheitsregierungen immer schon zu Beginn zu einem instabilen Projekt.
  • Die Minderheitsregierung könnte theoretisch jederzeit durch ein erfolgreiches konstruktives Misstrauensvotum gestürzt werden. Das führt zu zusätzlicher Instabilität und schafft enorme Anreize für die Opposition, doch eine Koalition zu bilden.
  • Der Anreiz für Koalitionsbildung kommt nicht von ungefähr. Die Kanzlerpartei profitiert von einer hohen Wahrscheinlichkeit, die volle Legislaturperiode an der Macht zu sein. Die Koalitionspartner bekommen Zugriff auf die Möglichkeit, Politik aus der Exekutive heraus zu gestalten (Ministerposten usw.).
    Für die Einführung von Ranked Choice müsste die Verfassung grundlegend geändert werden. Das müsste durch genau die Parteien passieren, die durch das aktuelle Wahlsystem an die Macht gekommen sind.

Ich würde darum davon ausgehen, dass sich solche Reformen am besten „von unten“ durchsetzen lassen. Eine Minderheitsregierung hatten wir ja zum Beispiel schon die letzten Jahre in Thüringen und je nach Wahlausgang könnte dort wegen der starken AfD auch ein neuer Ministerpräsident auf dieses Modell angewiesen sein. Vielleicht findet sich ja mal ein Wahlgewinner in einem anderen Bundesland, der das nicht „aus der Not“ heraus, sondern als politisches Experiment macht.

Auch mit Ranked Choice ließe sich vermutlich erheblich einfacher in einem Bundesland, vielleicht in Hamburg, Berlin oder Bremen, experimentieren. Solche Erfahrungen könnten dann langfristig auch für Motivation in der Bundespolitik sorgen.

Mir erscheinen die Vorschläge ziemlich regressiv und tendenziell populistisch.

Was das erste Thema anbelangt, rufe man sich nur mal die derzeitigen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ins Gedächtnis. Setzte man den Vorschlag von Stecker um, würde eine zutiefst neoliberale, antihumanitäre und klimaschädliche Politik betrieben. Denn CDU/CSU, FDP und AfD stellen zusammen die Mehrheit an MdB.

Vor dem gleichen Hintergrund kann man den zweiten Vorschlag betrachten.