Verfassungsgerichtsurteil vom 15.11. als Zäsur

Das Verfassungsgerichtsurteil zur Schuldenbremse stellt eine Zäsur dar. Ich bin nicht sicher, ob das schon in Politik und Gesellschaft angekommen ist.

Vermutlich werden wir in 10-20 Jahren zurückblicken und feststellen, dass dieses Urteil die Wende im negativen Sinne war. Aber dann wird es wieder neue Sündenböcke geben. Es ist leichter, Probleme auf Migranten oder Bürgergeldempfänger zu schieben. Fraglich, ob der Zusammenhang zur Schuldenbremse überhaupt erkannt werden wird.
Dem Verfassungsgericht ist natürlich nichts vorzuwerfen (außer vielleicht, dass es extrem streng war wie zuvor noch nie), da es juristisch zu urteilen hat. Ökonomisch-gesellschaftlich ist es der helle Wahnsinn. Der Fehler war die Aufnahme der Schuldenbremse in dieser Form 2009 ins Grundgesetz. Alle Sondervermögen, die seitdem eingerichtet wurden (außer dem Rüstungstopf), sind nun gefährdet. Die Schuldenbremse gilt vielen fast als heilig. Nein, es ist keine Frage der Verfassungs- und Demokratietreue, sie zu schützen, wie Herr Buschmann andeutete. Die Schuldenbremse wurde 2009 in dieser Form aufgenommen und kann aktuell noch genauso wieder beseitigt werden. Auch vorher gab es die Schuldenregel. Mit der würden wir aktuell besser fahren.

Herr Lindner betont immer gerne, dass die Schuldenbremse dafür sorgt, dass Deutschlands Reputation und Finanz-Ranking nicht schlechter wird.
Wahrscheinlich ist genau das Gegenteil der Fall: Ich rechne damit, dass die Börsen nervös werden etc. durch Deutschlands Extrem-Sparkurs und die immer maroder werdende Infrastruktur.

Eine ausgesprochen gute Analyse und Einschätzung vom Soziologen Stefan Schulz mit Wolfgang M. Schmitt hier
Darin sind auch Ausschnitte eines Interviews mit dem Anwalt, der die Verfassungsbeschwerde eingereicht hat, zu hören, die ausdrücken, wie erstaunt auch dieser selbst ist. Er spricht von einem noch nicht klaren Domino-Effekt, wenn ich mich recht erinnere.

Ich finde, dass die Schuldenbremse und dieses Urteil die Haushaltsverhandlungen in Deutschland ähnlich disfunktional machen wie die regelmäßigen Shutdowns in den USA.

Genau dieser Vergleich zu diesen USA-Shutdowns wurde in einer Lage-Folge mal im Nebensatz bereits verworfen, ich würde das aber trotzdem noch einmal gerne in der Lage ausführlicher besprochen hören.

Ich denke, es ist schlimmer als in den USA.

Es scheint jedenfalls die gleiche Blockade-Philosophie dahinterzustecken: Den Staat handlungsunfähig machen, indem man ihm das Budget nimmt.

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Und dass diese Strenge inkonsequent im Hinblick auf die vielen Aufgaben des Staates ist.
Das BVerfG hat der Bundesregierung zuletzt erst attestiert, zu wenig im Bereich Umweltschutz zu tun, und die massiven Lücken, die nun im Haushalt bestehen (und die strenge Anwendung des Jährichkeitsprinzips) lassen sich nicht nur durch Einsparungen (vor allem im sozialen Bereich) wieder reinholen, sodass hier andere Verfassungsgüter in Gefahr sind (z.B. die hinreichende Berücksichtigung des Sozialstaatsprinzips).

Selbstverständlich trägt vor allem die Politik die Schuld an der Situation - und da vor allem SPD und Union, auf deren Mist die Schuldenbremse in dieser Form gewachsen ist. Aber durch die strenge Auslegung der Schuldenbremse hat das BVerfG diese Problematik einfach noch unnötig verschärft.

Das ist eines der zentralen systematischen Probleme in der Demokratie:
Die Regierung hat in Wahlen immer einen Vorteil, weil sie in einer Machtposition ist, aus der heraus sie sich Vorteile verschaffen kann, vor allem aber auch mehr Medienpräsenz genießt. Die Opposition muss nun versuchen, die Regierung schlecht aussehen zu lassen, um zum Erfolg zu kommen. Und indem man dafür sorgt, dass die Regierung keinerlei Finanzmittel für ihre Politik hat, erreicht sie das. Das damit auch dem Land langfristige Schäden zugefügt werden, ist dabei ein Kollateralschaden…

Das wäre in normalen Zeiten alles kein Problem, aber gerade in Zeiten multipler Krisen ist genau dieses Verhalten es, was sich Putin, Xi und Co. wünschen - und worauf diese Autokraten mit dem Finger zeigen, um behaupten zu können, dass Demokratie ein dysfunktionales System sei. Und genau deshalb brauchen wir in Krisen eigentlich eine Opposition, die mit der Regierung - für die Dauer der Krise - kooperiert. Aber eine Regierung, die an einer Krise scheitert, bedeutet eben, dass die Opposition die nächste Wahl gewinnen wird. Israel macht mit seiner Notstandsregierung seit dem 07.10. vor, wie es auch funktionieren kann. Aber dazu wäre Deutschland wohl auch erst bereit, wenn wirklich der Russe auf der Türschwelle stehen würde oder die Nordsee bis in’s Münsterland reicht…

Es ist nicht Aufgabe des Gerichts die Finanzen in Einklang zu bringen. Warum wir jetzt befürchten, der Sozialstaat oder die Umweltpolitik werden ausgehöhlt liegt ausschließlich an der Unfähigkeit der Politik höhere Steuern gegen die „Reichen“ durchzusetzen.

Es ist äußerst simpel (und/oder):
Vermögenssteuer (10 Mrd. nach SPD Konzept)
Erbschaftssteuer (weniger Ausnahmen +10Mrd)
Kampf gegen Steuerhinterziehung (85 Mrd.)
Kampf gegen Steuervermeidung (ca. 100 Mrd)

Und da hat es keinen Normalbürger getroffen.

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Das Urteil ist nicht das Ergebnis der Schuldenbremse, sondern des verfassungswidrigen Verhaltens der Regierung. Man muss auch nicht alles in einen Topf werfen. Was hat denn Migration und Bürgergeld mit diesem Thema zu tun? Nichts.
Und der Vergleich mit den USA ist meiner Erachtens vollkommen falsch. Die Hoheit über den Bundeshaushalt liegt nunmal beim Bundestag. Hätte die Regierungsmehrheit ordentlich gearbeitet gäbe es das Urteil nicht. Es ist ja nicht so, dass die Opposition das Haushaltsgesetz aufhalten könnte wenn sie keine Mehrheiten hat. Eine Blockade wie in den USA ist nicht möglich.

Dazu haben sowohl FT als the Economist sich geäußert dass das mit der Schuldenbremse völlig bescheuert ist.

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Germany’s overzealous debt brake

The consequences are serious, and stretch beyond Germany. The country needs to make up for years of under-investment — in part, thanks to the debt brake itself — in railways, bridges and schools, and in its digital infrastructure. It also faces the costs of transforming its industry and energy system to meet a goal of carbon neutrality by 2045. Rivals such as the US, China and South Korea are, meanwhile, pouring subsidies into their own transitions.

Es fühlt sich hier mehr und mehr an wie Amerika. Jetzt gibt es auch einen Debt Ceiling.

Schlagen Sie allen Ernstes eine Notstandsregierung vor, um das Nichteinhalten von Klimazielen zu erreichen und um ein Gesetz (Schuldenbremse) zu beenden, das von einer Mehhrheit ins Grundgesetz aufgenommen wurde? Und das gleichzusetzen mit der Situation in Israel, die auf das Brutalste angegriffen wurden und ihre Gegenmaßnahmen in Form einer Notstandsregierung koordinieren, ist schon mutig.
Wir haben die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert. Manche sind froh, dass sie da ist (ich z.B). Andere verfluchen sie, und haben durchaus valide Argumente. Es ist nun eine Aufgabe der Politik, eine Lösung zu finden. Und ich bin heilfroh, dass wir eine Opposition haben, die klare Rahmenbedingungen formuliert. Und ich sehe schon, das die Union Optionen öffnet- aber nicht um jeden Preis.

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Ich schlage die Vorstufe einer Notstandsregierung vor. Ich habe nicht gesagt, dass die Opposition in die Regierung aufgenommen werden sollte, sondern dass die Opposition anstelle von Machtpolitik besser Sachpolitik betreiben sollte, um die aktuellen Krisen zu bewältigen. Aber hey, wenn die Union dafür mit in die Regierung will, meinetwegen auch das. Wichtig ist, anzuerkennen, dass wir aktuell mehrere massive Krisen haben (Ukraine, Nahost, Klima, Post-Corona), die bewältigt werden müssen.

Desto weniger Krisen es gibt, desto nachvollziehbarer ist eine „Wir zerstören die Regierung“-Oppositionspolitik, desto mehr Krisen es gibt, desto sinnvoller ist es, sich die Frage zu stellen, ob vielleicht die Krisenbewältigung die Priorität sein sollte.

Wie oft eigentlich noch? Vergleichen ist nicht Gleichsetzen, dieser populistische „das darf man nicht gleichsetzen“-Vorwurf, der bei jedem Vergleich kommt, geht mir mittlerweile echt nur noch auf die Nerven.

Abgesehen davon sind die potenziellen Folgen des Klimawandels bei fortgesetzter Untätigkeit derart katastrophal, dass wir hier über ganz andere Qualitäten von Opfern sprechen. Leider sind diese Opfer nicht so bedrückend sichtbar wie die Opfer von Terrorismus, sonst würde auch die CDU das Thema vielleicht ernster nehmen…

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Wo bitte? Die Union will rechtswidrig den Sozialstaat beschneiden. Diese Partei hat rein gar kein Konzrpt für gar nichts. Ich hoffe mal nicht dass du die Rechtsextremen meinst.

Wobei du recht hast, die bereinigten Linken haben sehr sehr gute Konzepte um genau die Richtigen zu besteuern.