Diese Sichtweise habe ich auch immer vertreten. Ich habe z.B. auch im Hinblick auf Nordstream 2 immer argumentiert, dass eine gegenseitige Abhängigkeit eigentlich eher positiv ist. Und die Tatsache, dass aktuell Deutschland/die EU mit einem Importstopp für russisches Gas droht und gleichzeitig Russland droh, einen Exportstopp einzuleiten, zeigt, dass sich tatsächlich beide Seiten bewusst sind, dass es sich dabei um eine Lose-Lose-Situation handelt, die weder in deutschem/europäischen noch im russischen Sinne ist. Eine gegenseitige Abhängigkeit eben.
Das Problem ist jedoch, dass Russland mit dem Angriff auf die Ukraine gezeigt, dass es bereit ist, im Vertrauen auf die gegenseitige Abhängigkeit Europas und Russlands in ein Nachbarland einzumarschieren. Vermutlich hat Russland gehofft, dass durch die gegenseitige Abhängigkeit eine „Neutralität“ Europas erzwungen werden könnte. Zum Glück hat Europa gezeigt, dass ihm seine Werte wichtiger sind als die wirtschaftliche Entwicklung. Bisher zumindest.
Das Konzept der gegenseitige Abhängigkeit durch enge wirtschaftliche Verstrickungen kann nur funktionieren, wenn man nicht davon ausgehen muss, dass eine der beteiligten Parteien diese Abhängigkeiten nutzt, um abscheuliche Dinge wie einen Angriffskrieg gegenüber Dritten durchzuführen.
Das gleiche Problem haben wir auch mit China. Wir halten uns mit Kritik, wenn China internationales Recht bricht, stark zurück, weil wir natürlich wirtschaftlich auch stark von China abhängig sind. Was aber, wenn China jetzt so stark über den Stränge schlägt, wie Russland in der Ukraine?
Kurzum: Gegenseitige Abhängigkeit schützt zwar die jeweils beteiligten voreinander, macht sie aber ein Stück weit handlungsunfähig gegenüber Dritten. Und das bedeutet, dass man nicht zu abhängig von Staaten werden darf, die nicht unsere Werte zumindest im Ansatz teilen. Das betrifft Russland, China, aber auch die USA.
Ernsthaft, die starke Abhängigkeit von den USA führt eben dazu, dass die USA nie sanktioniert werden, auch nicht, wenn sie unsere Staatsbürger entführen und über Jahre foltern oder, wie im Irak, mit fingierten Beweisen einen Angriffskrieg starten. Das ist exakt das gleiche Problem, dass wir mit Russland und China haben.
Es geht darum, das richtige Maß an gegenseitiger Abhängigkeit je nach Partner zu wählen. Desto problematischer der Partner ist, desto geringer darf auch die gegenseitige Abhängigkeit sein, um im Notfall handlungsfähig zu bleiben.