Ukraine / Kulturelle Identität und Sprachenpolitik in Kriegszeiten

Danke für Deinen Versuch, die Fäden im Thread zusammenzubringen und eine gemeinsame Basis für die weitere Diskussion zu schaffen. Ich kann mit einigen der 5 Punkte mitgehen, aber an einem entscheidenden Punkt möchte ich widersprechen: Die Differenz zwischen Sprache und kultureller (oder auch nationaler) Identität ist aus meiner Sicht elementar und nicht nur ein Detail. Und hier ist das Jahr 2014 in der Ukraine wirklich eine Zäsur. Für die Zeit davor mag Deine Darstellung zutreffend sein, aber für die Zeit nach 2014 (und erst Recht nach 2022) helfen Verweise auf Berichte aus der Zeit davor m. E. nur bedingt weiter.
Nach dem Maidan, der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbas gab es Millionen Ukrainer:innen, die zwar weiterhin selbstverständlich russisch sprachen, aber nun ganz klar politisch gegen Russland eingestellt waren und deshalb auch keine russischen Staatsmedien mehr konsumiert haben (zumindest keine Nachrichtien, Talkshows etc., also nur noch die Unterhaltungssendungen). Daneben gab es sicherlich auch immer noch Ukrainer:innen, die eher offen für russische politische Sichtweisen waren und sicherlich darunter sehr viel mehr russisch- als ukrainischsprachige. Aber zwei Punkte sind aus meiner Sicht zentral: 1. gibt (bzw. gab, vor 2022) es wie schon betont für viele einfach kein Entweder-Oder zwischen Russisch und Ukrainisch und 2. war die politische Identität nach 2014 sehr viel wichtiger als die Sprache.
Eine Anekdote noch zum Schluss: Ich habe es 2016 selber erlebt, wie in Charkiv auf einer belebten Straße Freiwillige für das Azow-Regiment rekrutiert wurden. Und das geschah - wie damals nahezu das gesamte öffentliche Leben in dieser Stadt - selbstverständlich auf Russisch.

Wir können die Diskussion gerne abschliessen.

Punkt 1) ist eine Vermutung (und seit 2022 gehe ich davon aus, dass es auch Fakt ist), ansonsten stimme ich den Punkten zu.

Ich bin auch bei Dir, dass die Krim ein Sonderfall ist. Das habe ich auch ursprünglich gesagt. Auf der Krim leben viele Menschen mit einer klaren russischen kulturellen Identität (und mit den Krimtartaren gleichzeitig eine Bevölkerungsgruppe die Russland mehrheitlich ablehnt). Dies hat historische Gründe wie auch in dem von Dir zitierten Artikel beschrieben wird. Darauf auf die ganze Ukraine zu schliessen ist, wie zuvor diskutiert, schwierig. Im weiteren Kriegsverlauf könnte die Krim zu einem kritischen Punkt werden, zumal das Völkerrecht hier klar ist.

Und um den Bogen zur Eingangsdiskussion zu spannen - und da bin ich bei Dir - die Unterdrückung der russischen Sprache in der Ukraine ist nachvollziehbar aber auch bedenklich. Ich denke mittlerweile auch, dass die Ukraine die russische Sprache zu ihrem Vorteil nutzen könnte um Druck auf Russland auszuüben. Damit beziehe ich mich auf den Staat. Man muss aber auch sehen, dass aus der Ukraine sehr viele kritische Beiträge auf russisch kommen, die „Russen“ konsumieren.