Ukraine / Kulturelle Identität und Sprachenpolitik in Kriegszeiten

Hallo,

die Ukraine hat heute laut Spiegel Online verfügt, dass das Abspielen von Musik russischer Künstler (nach Staatsbürgerschaft) in der Öffentlichkeit ab sofort verboten ist. Zur Begründung hieß es wohl, russische Musik würde separatistische Tendenzen stärken und die Annahme der russischen Identität attraktiv machen.

So verständlich der Hass auf den russischen Aggressor im Krieg ist, ist das nicht ein eklatanter Versuch der Minderheitendiskriminierung, vor allem mit Fokus auf die laut Medien und privaten Kontakten in der Ostukraine stark verbreitete russlandnahe Bevölkerung?

Die starre Fokussierung auf die Staatsbürgerschaft der Künstler ignoriert zudem, dass es auch unter russischen Musikern solche gibt, die den russischen Angriffskrieg ablehnen.

Ich unterstütze die EU-Beitrittsperspektive der Ukraine sehr, aber zeigt sie damit nicht, dass sie die Werte der EU noch nicht verinnerlicht hat?

Mich würden eure Gedanken dazu interessieren. Möglicherweise übersehe ich ja etwas? Oder das Gesetz wurde von SPON falsch wieder gegeben?

EDIT: Außerdem wurde auch der Import von Büchern und ähnlichem aus Belarus, Russland und der Ostukraine verboten. Das erinnert an kulturelle Säuberungen. Hilft das Russland nicht auch beim Nazi Vorwurf?

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Das ist das große Problem dabei - neben den ethisch-moralischen Bedenken.

Selbstverständlich wird Russland diese Beispiele aufgreifen, um seiner Bevölkerung zu „beweisen“, dass Russen in der Ukraine unterdrückt würden.

Das Problem, dass die Ukraine es nach dem Fall der Sowjetunion nicht geschafft hat, die russischsprachigen Bevölkerungsteile richtig zu integrieren und nach dem Euromaidan verstärkt versucht hat, eine stärkere ukrainische Nationalbewegung zu fördern und dazu die Russifizierung aus der Sowjet-Zeit so weit wie möglich zurückzudrängen, ist natürlich die Basis für die russische Propaganda. Und wie Propaganda halt so ist, werden solche - in der Tat bedenklichen - Handlungen der Ukraine dann zum Genozid hochstilisiert. Jede Propaganda, jede Lüge, selbst jeder Verschwörungsmythos braucht halt einen minimalen wahren Kern, um Glaubwürdigkeit zu erzeugen.

Auf der anderen Seite muss man halt die Ukraine verstehen, die wiederum um ihre Existenz kämpft und durch den russischen Angriffskrieg quasi gezwungen wird, das eigene Volk gegen Russland aufzustacheln und entsprechend jede Ausbreitung der russischen Kultur in der Ukraine als Problem wahrnimmt. Es herrscht halt Krieg, so wenig man das auch wahrhaben möchte.

Diese Zustände sind absolut traurig und auch für die Menschenrechte in der Ukraine natürlich eine Katastrophe, eben weil die Ukraine - nachvollziehbar - aktuell jeden Menschen, der russischer Herkunft ist oder sich der russischen Kultur nahe fühlt, mit maximalem Misstrauen beäugt (oder, um es mit Melnyk zu sagen: „Alle Russen sind im Moment unsere Feinde“ - eine Aussage, von der er sich leider auch im Interview beim Zeit-Podcast „Das Politikteil“ nicht distanzieren wollte. Übrigens ein sehr empfehlenswertes Interview, hier verlinkt).

Staaten neigen leider zu solchen Handlungen - siehe z.B. die Internierung der japanisch-stämmigen Bevölkerung in den USA nach Pearl Harbor. Kurzum: Es geht auch noch deutlich schlimmer… ich hoffe, dass es in der Ukraine nicht auch so endet.

Die Frage, die sich die Ukraine sicherlich auch stellt, ist halt:
Welches Vorgehen hat die größeren negativen Auswirkungen? Russische Kultur scharf verbieten, weil diese als Propaganda für Russland wahrgenommen wird und entsprechende Auswirkungen haben könnte - oder sie halt nicht verbieten. Aus unserem rechtstaatlich-menschenrechtlichen Blickwinkel lautet die Antwort vermutlich, dass ein Verbot schädlich ist - aus dem Blickwinkel einer konkret betroffenen Kriegspartei sieht das vermutlich anders aus.

Wie so oft in diesem Krieg gilt halt, wie Brecht schon sagte: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Dinge wie Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte sind „nice-to-have“, aber wenn man am Abgrund steht und die eigene Existenz gefährdet ist, wird das Abwenden einer konkreten, diesbezüglichen Gefahr halt höher eingeschätzt.

Wie ich schon öfter zu ganz anderen Themen (z.B. auch zum realexistierenden Sozialismus) gesagt habe: Desto kritischer die Situation für ein Land wird, desto mehr gehen Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit verloren. Das war immer so, auch in Deutschland (Notstandgesetze '68), den USA (Internierung der Japaner, McCarthy-Ära-Antikommunismus) und anderen Demokratien. Und die Ukraine kämpft halt gerade um ihre Existenz - zu erwarten, dass sie ideologische Aspekte über ihre konkrete Existenz stellt, ist einfach unrealistisch.

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Ich sehe hier eigentlich keinen wirklichen Fehler der Ukraine. Soweit ich weiß, hat es kein einziges Land der ehemaligen Sowjetunion geschafft, ihre russischsprachigen Bürger zu integrieren. Nicht einmal Deutschland schafft das richtig gut, auch wenn das andere Gründe haben kann.

Eine Erklärung dafür dürfte in der Funktionsweise von Imperien und Nationalstaaten liegen. Sowohl im Zarenreich als auch in der Sowjetunion wurde Russischsprachigkeit durch Karriereperspektiven aktiv gefördert. Wer eine Minderheitensprache (Ukrainisch, Rumänisch, Tscherkessisch, etc.) sprach, kam damit nicht weit. So verteilten sich dann auch russischsprachige Menschen über das gesamte Territorium der Sowjetunion, teilweise über das Militär aber auch über zivile Institutionen, und bildeten die Eliten auf regionaler und überregionaler Ebene.

Der Zerfall des Imperiums (hier der Sowjetunion, Parallelen gibt es aber auch z.B. zur KuK-Monarchie) und die Ausrufung von Nationalstaaten verschiebt nun den Fokus weg vom Russischen und der russischen Kultur und hin zur Nationalsprache und -kultur. Das kann anders eigentlich auch gar nicht gehen, da sich die Nationalstaaten unabhängig erklären, weil sie sich als etwas anderes begreifen. Für die Russischsprachigen, die zuvor die Eliten bildeten, findet nun ein realer Machtverlust statt. Nun ist es im Regelfall nicht mehr die russische Sprache, die einen Wettbewerbsvorteil bei der Karriereplanung bietet, sondern die Nationalsprache des Landes, die den Aufstieg in die Eliten ermöglicht.

Im Ergebnis ist die Reaktion der „alten“ Elite oft ein Schwelgen in Nostalgie sowie eine wachsende Überhöhung der russischen Sprache und Kultur. Es geht soweit, dass man sich wünscht, der große starke Führer Russlands möge doch das Gebiet in dem man wohnt subjektiv „rechtmäßig“ annektieren (auch hier wieder Parallelen aus der deutschen Geschichte…), damit es zur alten Größe zurückkehren kann oder alles so wird, „wie es eigentlich sein soll“. Insofern fällt es der russischen Propaganda natürlich auch sehr leicht, diese Menschen zu erreichen, da alles russische mental sowieso mit einem Gütesiegel versehen ist.

Es gibt kaum Modelle, um ein solches Dilemma wirklich aufzulösen, insbesondere wenn einer der maßgeblichen Akteure schlicht böswillig handelt. Vor/während und nach dem zweiten Weltkrieg wurden unterschiedliche Ansätze verfolgt - allesamt mit grausamen Resultaten. Ob nun die Annektion des Sudetenlands inkl. der vollständigen Besetzung Tschechiens direkt danach oder die massenhaften Vertreibungen, die man nach dem Krieg überall sehen konnte, z.B. die Deutschen raus aus Polen/Tschechein, die Ukrainer/Belarusen aus Polen, die Polen aus Ukraine/Belarus, oder auch die Aufteilung des indischen Subkontinents.

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„Du sollst die Kultur des Feindes nicht konsumieren“ gehört aber eindeutig auf die Moralseite des Brecht-Zitats. Das kommt von den Herrn die uns lehren, „wie man brav leben / Und Sünd und Missetat vermeiden kann.“

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Ich stimme vielen, was @Nonhicamplius in seinem Post schreibt, zu, aber ich glaube, dass Du auch das Senden russischer Staatsmedien mit dem Abspielen von Musik von KünstlerInnen russischer Staatsangehörigkeit verwechselst. Bei einem Verbot von Propagandasendern mögen Deine vorgebrachten Argumente berechtigt sein, aber darum geht es hier nicht.

Ein Gesetz, das von nun an das Abspielen bestimmter Musik alleine wegen der Herkunft der KünstlerInnen verbietet, klingt für mich überzogen und nicht mit europäischen Werten vereinbar. Das Konzept einer „whitelist“ des SBU, auf der alle „guten“ russischen KünstlerInnen stehen, erscheint mir absurd und kontraproduktiv. Gerade in Russland navigieren viele kritische KünstlerInnen an der Grenze des Erlaubten, wenn sie Kritik an Putin, Oligarchen, Korruption, Bürgermeistern, Militarismus, etc. formulieren. Die Nennung auf einer ukrainischen „Whitelist“ würde ihnen im Zweifelsfall nur schaden.

Mein erster Gedanke war auch die Frage, ob man nun Stress kriegt, wenn man auf der Straße das Thema aus Tschaikowskys erstem Klavierkonzert summt. Das ist tatsächlich nicht so, denn das Verbot trifft nur KünstlerInnen, die nach 1991 die russische Staatsbürgerschaft hatten. Die New York Times stellt das etwas besser dar, als der Spiegel.

Nichtsdestotrotz finde ich das einen total falschen Move der Rada, der auch bei mir massiv Sympathien verspielt. Selbst eine Resolution mit der Bitte an den Präsidenten, ein entsprechendes Verbot - und am besten nur in Radio und Fernsehen und nicht auf der Straße - für die Dauer des Krieges anzuordnen, hätte ich für weniger schädlich gehalten. Nun ist das Verbot der Musik von KünstlerInnen mit russischer Staatsbürgerschaft in der Ukraine Gesetz und das halte ich für ein ziemlich unnötiges Problem.

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In Ukraine ist seit dem 24. Februar mit gutem Grund das Kriegsrecht ausgerufen. Ich kenne mich nicht mit dem ukrainischen Rechtssystem aus, aber ich nehme mal an, dass die Polizei dadurch die Handhabe hat, um solche Demonstrationen zu unterbinden. Da braucht es kein Musikverbot.

Danke für den Tipp. Hier ist der am 20. Juni 2022 verabschiedete Text im Original. Man kann mit Übersetzerprogrammen und etwas Fleiß halbwegs den Inhalt lesen. Hier noch ein paar Details:

  • Das Gesetz verbietet nicht nur das öffentliches Abspielen der Musik sondern z.B. auch Streaming.
  • Um auf die Whitelist zu kommen, müssen russische KünstlerInnen öffentlich in einer bestimmten Weise Putins Krieg verurteilt haben, um dann beim ukrainischen Geheimdienst eine Aufnahme aktiv zu beantragen.
  • Der ukrainische Geheimdienst kann die Aufnahme von Personen auf die Whitelist ohne Angabe von Gründen („Die hat zwar das richtige gesagt, aber ich mag keinen Punkrock. Stehe mehr so auf Schlagersängerinnen …“) ablehnen.

Vielleicht kann das noch jemand anderes besser einordnen, aber ich finde das in dieser Dauerhaftigkeit und mit dem Feigenblatt dieser Ausnahmeregelung unnötig und ein totaler Schuss ins eigene Knie. Ich kann mir auch vorstellen, dass das in der ukrainischen Diaspora nicht gut ankommen wird.

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Wenn ich Menschen das Ausleben ihrer Kultur verbiete, ist das nicht Diskriminierung? Wie bezeichnen Sie es wenn Deutschland den Muezzin-Ruf in einigen Städten kategorisch verbieten würde? Dabei ist mir natürlich klar, dass man einen russischen Angriffskrieg nicht direkt mit den Attacken von wenigen, die Religion nicht repräsentierenden, Fundamentalisten vergleichen kann.

Kritik an einer kritischen Handlung heißt nicht sich für den Feind stark zu machen oder den Kritisierten fallen zu lassen. Ich habe diese Denkweise, „bist du nicht für mich, dann bist du gegen mich“ noch nie verstanden. Kritik ist Anreiz Dinge zu reflektieren und besser zu machen, kein Dolch im Rücken. Uneingeschränkte Solidarität und Loyalität gegenüber jemandem, ist hingegen fremd. Fehler können passieren, aber man muss sie benennen dürfen. Dieses Denken mag aber in meiner liberalen Sozialisierung
begründet liegen.

Darum ging es hier gar nicht. Warum vermischen Sie das?

Kennen Sie die Diskussion um die Listen für Abtreibungsärzte? Da wird immer darauf hingewiesen, dass diese Prangerwirkung hätten und viele Ärzte sich weigern dort zu erscheinen, da man Angst vor Angriffen hätte. Wie viele russische Künstler trauen sich wohl dort auftauchen zu wollen? Wäre es nicht besser eine Blacklist zu führen mit Musikern, die sich mit Putin solidarisieren? Das wäre zumindest verständlich. So führt man aber eine Sippenhaft ein und die verträgt sich nicht mit westlichen Wertvorstellungen (okay, zumindest von denen abseits der Stammtisch-Parolen).

D’accord!

Ist das dann der Fehler der Russen oder der Ukrainer? Wir müssen alle verstehen, Russen!= Russland. Ukrainer != Ukraine. Letztlich sind es Menschen und die haben alle Menschenrechte, zumindest im Westen.

Lieber Markus, danke für deine Hinweise. Ich finde deine Gedanken wirklich spannend, aber manchmal fällt es mir etwas schwer ihnen zu folgen. Ich werde ein paar Aussagen zitieren und meine Unklarheiten erläutern. Vielleicht kannst du die dann ausräumen? Ich würde mich freuen!

Es ging oben um Musiker und Printerzeugnisse wie Bücher u.a., nicht explizit solche die Fake News en Masse verbreiten (Social Media, TV). Ich habe deine Sippenhaft-Aussage eigentlich so verstanden als seien wir uns einig, dass man so etwas ablehnt.

Um im Vergleich zu bleiben, das wäre wie wenn der Muezzin nur zum Gebet ruft und sich sonst völlig neutral verhält, man ihn aber an Aussagen radikalisierter Glaubensbrüder misst und verbietet. Wie passt dein Lügen-Vorwurf zum Muezzin-Vergleich?

Na ja, auf das Thema Bücher und Musik reagieren Sie mit

Dabei ging es um die russischen Medien wie

, die du im Beitrag per Zitat aufführst, m.E. aber nicht. Oder verstehe ich das vielleicht falsch?

Kein Grund für eine Entschuldigung. Ist doch super wenn wir uns da einig sind. :slight_smile:

Volle Zustimmung. Mein Satz sollte eher Resignation darüber ausdrücken, dass Menschenrechte eben nicht in jedem Land der Welt umgesetzt werden. Sorry wenn das nicht klar genug war.

Es kann doch aber nicht sein, dass ich solche Überreaktionen dadurch zu verhindern versuche, dass ich einer Minderheit sage sie solle ihre Kultur nicht mehr öffentlich Leben. Von einem Rechtsstaat, auch wenn er in einem Krieg ist, erwarte ich dass er seine Bevölkerung auf den Unterschied zwischen ethnischen Russen im eigenen Land, Russen im Ausland & der widerlichen russischen Regierung hinweist und immer wieder Respekt den friedlichen Russen in der Ukraine gegenüber einfordert. Melnyks „Alle Russen sind unsere Feinde.“ empfinde ich daher persönlich als, … naja lassen wir das. Sagen wir, auch Kriegstreiber benutzten in der Geschichte solche Rhetorik und er distanziert sich ja nicht einmal davon.

Auf welcher Basis? Ich schrieb oben explizit

und wies damit auf meine Unsicherheit und vorbehaltliche Haltung bei dem Thema hin. Warum unterstellst du mir dann eine Vorgefasstheit? Liegt es daran, dass ich mir erdreiste eine Handlung der ukrainischen Regierung zu kritisieren ohne ebensoviele Sätze auf Schmähkritik gegen Putin aufzuwenden? Falls ja, das liegt einfach daran, dass ich Themen gerne sauber halte und ungern miteinander vermische.

Falls das nicht deutlich genug war möchte ich mich dafür entschuldigen.

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Ich kenne keinen Ukrainer der nicht russisch spricht, in vielen Fällen als Erstsprache. Die Diskriminierung der russisch sprechenden Bevölkerung ist ein Mythos den Putin genährt hat um den Einmarsch zu rechtfertigen.

Wo man genauer hinschauen muss sind die Bevölkerungsgruppen die Russland-nah sind, beispielsweise auf der Krim. Diese Diskussion wird schnell komplex und die russische Sprache spielt dabei eine Nebenrolle!

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Leider ist das nicht korrekt und bei aller berechtigten Abneigung gegen Putin und den imperialistischen Kurs Russlands muss man hier vorsichtig sein, nicht selbst in Propaganda zu verfallen.

Nach dem Fall der Sowjetunion war erst nur Ukrainisch Amtssprache in der Ukraine. Janukowytsch, der ja eher pro-russisch orientiert war, wollte das 2012 über ein neues Sprachengesetz ändern, indem Minderheitensprachen dort, wo viele Menschen der jeweiligen Minderheit lebten, zur Amtssprache gemacht werden durfte. Das war vor allem Russisch, offensichtlich. Die Tatsache, dass es zu dieser Gesetzesinitiative zu Schlägereien im Parlament gekommen ist, über die weltweit berichtet wurde zeigt schon, wie emotionsgeladen dieses Thema war.

Gerade weil im Osten der Ukraine und auf der Krim Russisch die dominante Erstsprache war und gerade weil das Putin starke Einflussmöglichkeiten in diesen Bevölkerungen gegeben hat (denn russische Muttersprachler werden i.d.R. russische Medien den ukrainischen bevorzugen und damit massiver Propaganda ausgesetzt) hat die Ukraine Janukowytschs Sprachengesetz direkt nach dem Euromaidan zurückgenommen und 2019 das Sprachengesetz dahingehend geändert, dass Ukrainisch die einzige Amtssprache ist und Beamte - auch in Landesteilen, in denen der größte Teil der Bevölkerung Russisch zur Erstsprache hat - in ihrer dienstlichen Funktion ukrainisch sprechen müssen.

Das führt natürlich dazu, dass die Karriereoptionen der Ukrainer, die in russischsprachig-dominierten Landesteilen aufgewachsen sind und dort auch nur wenig Ukrainisch gelernt haben, schon recht stark begrenzt wurden.

Man kann das eine nicht vom anderen trennen.

Sprache ist das zentrale kulturelle Element einer Gesellschaft. Putin selbst betont immer wieder, wie die russische Sprache das verbindende Element der postsowjetischen Staaten ist - und in dem Punkt hat er durchaus Recht. Mit der Sprache entscheidet sich, welche Medien konsumiert werden und welche Kultur ein Mensch als seine eigene sieht (z.B. im Bereich der Literatur und Kunst). Auch hier in Deutschland sieht man immer sehr gut, dass Sprache und gesellschaftliche Integration Hand in Hand gehen. Sprache spielt hier eine Schlüsselrolle - und das gilt auch für die Ukraine. In Landesteilen, in denen 90% der Bevölkerung russische Muttersprachler waren und das Alltagsleben durch die russische Sprache geprägt war, haben sich einfach schnell russland-nahe Parallel-Gesellschaften entwickelt.

Es ist kein Zufall, dass die Wahlergebnisse des pro-russischen Präsidenten Janukowytsch nahezu proportional zum Anteil der russischen Muttersprachler waren, ebenso wie die Umfrage dazu, ob Russisch zweite Amtssprache werden sollte - oder umgekehrt, dass die Zustimmung dazu, ob die Ukraine sich Richtung EU orientieren sollte, in den Bereichen am niedrigsten war, in denen die meisten russischen Muttersprachler leben.

Ich sage übrigens nicht, dass es die Schuld der Ukraine ist, dass man die russischsprachigen Bevölkerungsteile nicht wirklich integrieren konnte. Das Problem bleibt leider: Gibt man der russischen Sprache eine Sonderstellung gibt man damit automatisch Russland mehr propagandistischen Einfluss auf die eigene Bevölkerung, tut man es nicht, ist es hingegen für Demagogen wie Putin leicht, der Bevölkerung den Eindruck zu vermitteln, dass sie benachteiligt würden. Der Umgang mit größeren Bevölkerungsminderheiten, die andere Sprachen sprechen, ist in allen Staaten schwierig - dabei gilt grundsätzlich: Desto positiver die Verhältnisse zwischen den Staaten sind, desto unproblematischer ist es. Daher macht die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein oder die französischsprachige Minderheit im Saarland auch wenig Probleme, hier plant man sogar, Französisch zur zweiten Amtssprache zu machen. Wenn das Nachbarland die sprachliche Prägung der Bevölkerung nicht zum eigenen Vorteil ausnutzen will, ist das auch alles gut und richtig so.

Dummerweise zeigt Russland, dass es bereit ist, russischsprachige Minderheiten gezielt aufzuwiegeln, um die eigenen imperialistischen Ambitionen zu verfolgen. Ob man in dieser Situation die „fremde“ Sprache unterdrückt oder fördert, man kann es eigentlich nur falsch machen, eine ideale Lösung gibt es für dieses Dilemma nicht.

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Ich kann Deinen Argumenten nicht folgen.

An welchem Punkt ist das nicht korrekt? Der Präsident selbst steht doch dafür, dass „russisch sprechen“ und „Ukrainer sein“ sich in der Ukraine bis zum Februar 2022 nicht ausschliessen. Und an seinem Beispiel zeigt sich auch, dass sich das durch alle Gesellschaftsbereiche zieht: Politik, Kultur, Wirtschaft

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Okay, hier mal ein konkretes Beispiel aus 2020:

Ukrainisch per Dekret: Schulbeginn in der Ukraine

Hier wurde im Prinzip entschieden, dass russischsprachige Schulen in Gebieten, in denen größtenteils russische Muttersprachler leben, von heute auf morgen Ukrainisch unterrichten müssen.

Wie gesagt, das ist nachvollziehbar im Rahmen der Derussifizierung, weil Putin die russische Sprache eindeutig als Waffe einzusetzen bereit ist - ich will der Ukraine daher keinen Vorwurf machen. Aber wenn man sich nun in ein russischsprachiges Elternpaar hineinversetzt oder in einen russischsprachigen Lehrer, dann ist doch schon klar, dass diese Menschen sich benachteiligt fühlen werden. Denn diese Menschen sehen sich eben sprachlich und kulturell als „Russisch“ und empfinden diese erzwungene Änderung natürlich als massiven Eingriff in ihre Kultur.

Oder anders gesagt:
Auch wenn die Derussizifierung absolut berechtigt ist, wird sich jemand, der sich als „russisch“ identifiziert, davon natürlich angegriffen fühlen.

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Entschuldigung, aber wie kommst Du dazu, dass das nicht korrekt ist?

Ich würde sogar sagen, dass man zwischen verschiedenen Sachverhalten differenzieren muss, wenn es um die Sprachenfrage in der Ukraine geht. Die Gleichsetzung von Amtssprache = Sprachgebrauch = Minderheit wird einfach der Realität in der Ukraine nicht gerecht.
Natürlich ist Sprachpolitik immer auch ideologisch oder meinetwegen identitätspolitisch motiviert. Das treibt mitunter seltsame Blüten. So duften z. B. in Belarus kurz nach der Unabhängigkeit Zeitungen eine Weile nur auf belarussisch erscheinen - was damals aber fast niemand aktiv sprach oder gar schrieb. Und es gibt auch Länder mit einer sehr rigiden Sprachpolitik, in denen Menschen wirklich schnell Probleme bekommen, wenn sie nicht die „vorgeschriebene“ Sprache benutzen. Aber das lässt sich so für die Ukraine nicht belegen.
In der Ukraine ist es eher so, wie @MarioWi schreibt. Die allermeisten Menschen verstehen zumindest beide Sprachen. Viele sprechen vorwiegend in einer der beiden, viele aber wechseln auch. Die Unterschiede zwischen Muttersprache, Alltagssprache und Amtssprache macht eine Umfrage sehr schön deutlich (ist zwar auf ukrainisch, aber DeepL hilft): https://ratinggroup.ua/getfile/596/rg_ua_1000_ua_032022_mova_press.pdf
Auf die Frage nach der Muttersprache (S. 4) antworten 76% ukrainisch (grün) und 20% russisch (rot). Hier gab es in den letzten Jahren eine klare Entwicklung, 2012 waren es noch 57 zu 42%. Interessant auch die regionale Verteilung (S. 5): Selbst im Osten und Süden geben 42 bzw. 61 % ukrainisch als Muttersprache an.
Bei der Frage, welche Sprache zu Hause gesprochen wird (S. 7) antworten hingegen nur 48% mit ukrainisch, 33 % mit sowohl als auch und 18% mit russisch. Hier gibt es im Zeitverlauf kaum eine Veränderung (außer dass weniger Leute nur russisch und mehr Leute beides sprechen, S. 8).
Noch mal anders sieht es bei der Frage aus, welche Sprache denn offiziell gelten soll. Hier sagen 83 % nur ukrainisch! Der Wert vom März 2022 ist deutlich höher als noch im September 2021 und dürfte inzwischen noch höher sein. Zum Vergleich: Im April 2014, also direkt nach Maidan, Sturz von Janukowytsch, Krim-Annexion und Krieg im Donbas, waren es nur 47%
Und auch hier interessant: In sämtlichen Teilen des Landes gibt es eine Mehrheit für die Option „nur ukrainisch“ (S. 12).
Interessant ist, dass auch nach der Bedeutung der Sprachenfrage gefragt wurde (S. 13). Hier sagen 67%, dass es eigentlich keine Rolle spielt, was jemand spricht und 19% dass es schon eine Sprachenfrage gibt, sie aber nicht so wichtig ist. Nur 12 % halten es für ein ernsthaftes Problem.

All diese Zahlen zeigen aus meiner Sicht, dass es einen gehörigen Unterschied gibt zwischen der Frage, was die offizielle Sprache der Ukraine ist oder sein soll und der Frage, welche Sprache(n) die Menschen tagtäglich sprechen. Dabei gibt es eine klare Tendenz zu immer mehr ukrainisch und zumindest nach meinen Beobachtungen bei Freund:innen gab es da noch nie eine so rasante Entwicklung wie seit dem 24. Februar 2022.
Es gibt also schon den Effekt, dass Menschen jetzt in Abgrenzung zu Russland und seinem Angriffskrieg nicht mehr russisch sprechen wollen. Und sicherlich gibt es auch zu Kriegszeiten Situationen, in denen es nicht immer gut ankommt, russisch zu sprechen. - Das entspricht ja dem Geist der in diesem Thread erwähnten Gesetze. Aber für die Zeit vor dem Krieg erscheint mir der Fall, dass eine Person Probleme bekommt, weil sie nur russisch spricht, reichlich konstruiert. Dass Russischsprechende in der Ukraine irgendwie „näher“ an Russland oder empfänglicher für Kremlpropaganda seien, ist aus meiner Sicht unhaltbar. Auch „Paralleluniversen“ von Russischsprechenden mag es vielleicht in Estland oder Lettland geben - für den Süden oder Osten der Ukraine halte ich das für eine sehr gewagte These, weil es dort (zumindest bis vor ein paar Jahren) einfach vollkommen normal war, russisch zu sprechen. (Ich würde mal behaupten: Zumindest wenn keine Kameras dabei sind, ist es das auch jetzt oft noch.)

TL/DR: Die Frage von russischer und ukrainischer Sprache als Entweder-Oder zu behandeln, geht einfach komplett an der Realität der Ukraine vorbei

Genau das stimmt m. E. nicht.Es ist für die Ukraine m. E. nicht zulässig, von einem Unterschied in der vorwiegend(!) gesprochenen Sprache 1:1 auf eine andere „kulturelle Identität“ zu schließen.

Die Aussage meines letzten Posts finde ich im letzten Absatz von Trubetskoys Artikel bestätigt. Dort heißt es:

Ob in dieser Sache tatsächlich alles so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde, ist allerdings fraglich. Viele Eltern finden das Gesetz zwar durchaus diskriminierend, zweifeln aber daran, dass es tatsächlich vor Ort so umgesetzt wird. Schließlich nehmen es selbst Schulen, die heute bereits als ukrainischsprachig gelten, mit der Sprache nicht ganz so genau und unterrichten zum Teil noch auf Russisch. Da müsste das Ministerium wirklich großangelegte Prüfungen starten, um hier eine Änderung zu bewirken. Zumal es nicht Schüler sind, die kein Ukrainisch können – sondern die älteren Lehrer.

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Auch dem möchte ich widersprechen. Was die russisch sprechenden Menschen in der früheren Sowjetunion vereint ist die Sowjetunion. Nur weil man russisch spricht heisst das nicht, dass man sich „Russisch“ identifiziert. Dies unterstreicht beispielsweise das Referendum zur Unabhängigkeit der Ukraine 1991 in der auch die südlichen und östlichen Landesteile dafür gestimmt haben.

Beispiel Schweiz, wer deutsch spricht fühlt sich nicht deutsch. Das gleiche gilt für die italienisch und französisch sprechende Bevölkerung.

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Es wäre einer produktiven Diskussion förderlich, wenn Du auf die Argumentationslinie Deines Diskussionspartners eingehen würdest.

s. hier:

Mir fällt auf, dass sie seit einem Jahr mit deezer erstaunlich oft Lieder mit seltsamen Schriftzeichen in den Flow mischt.
In der heutigen Zeit wird das abspielen dieser Musik vergütet.
Es handelt sich also nicht nur um kulturelle Verbote sondern auch um Wirtschaftssanktionen.

Ich finde diese These schwierig. Sprache kann(!) ein Indikator für politische Probleme zwischen kulturellen oder ethnischen Minderheiten einerseits und einer Mehrheitsgesellschsft andererseits sein. Aber die starke Verbreitung einer Minderheitensprache an sich ist nicht per se „schwierig“ oder gar ein politisches Problem. Minderheiten werden jedoch fast immer zu einem „Problem“, wenn eine starke politische Macht „ihre“ Minderheit in einem anderen Staat für politische Zwecke instrumentalisiert.

Die Situation in der Ukraine haben wir ja bereits diskutiert. Der Vergleich mit dänisch und französisch in Deutschland finde ich schwierig, da die Mehrheit der Deutschen diese Sprache nicht spricht. Wenn die russische Sprache das Medium von russischen Manipulationen wäre, dann würde Russland damit die Mehrheit der Ukrainer treffen. Umgekehrt kann man sich natürlich fragen, falls dem so wäre, warum die Ukraine das nicht nutzt um den russischen Oppositionsmedien ein zu Hause zu geben.

Nocheinmal zur Sprache - wie zuvor beschrieben ist das nur ein hinreichender Bestandteil der kulturellen Identität. Beispiel ist der Islam-Unterricht in Deutschland, der von der Türkei finanziert und gestaltet wird. Dieser erfolgt nach meinen Kenntnissen auf deutsch, was genau gelehrt wird geht wohl an den deutschen Behörden vorbei1 Die Türkei kann sich also der deutschen Sprache bedienen um in Deutschland zu manipulieren, falls sie das auch möchte.

Ich möchte ergänzen, dass ich der Argumentationslinie besser folgen könnte wenn Du nicht über die Sprache sondern kulturelle Identität argumentieren würdest.

Statt über die Details zu streiten - z.B. die Frage, welchen Anteil Sprache an kultureller Identität hat - sollen wir vielleicht besser festhalten, wo wir uns zumindest im Groben einig sind. Daher hier ein paar Vorschläge, denen ihr gerne argumentativ widersprechen könnt:

  1. Russische Muttersprachler werden eher russische Staatsmedien konsumieren als ukrainische Muttersprachler.
  2. Russische Staatsmedien sind stark durch Kreml-Propaganda geprägt.
  3. Aus Putins Sicht ist die russische Sprache das verbindende Element der ehemaligen Sowjet-Republiken
  4. Während der Sowjet-Zeit wurde die russische Sprache verpflichtend in allen Sowjet-Republiken eingeführt und es wurde gezielt versucht, andere Sprache (z.B. das Ukrainisch) zu verdrängen.
  5. Die Ukraine versucht seit dem Euro-Maidan, die russische Sprache einzudämmen und die ukrainische Sprache zu fördern.

Sind das Punkte, auf die wir uns einigen können? Welche Schlüsse wir aus diesen Punkten ziehen, das ist letztlich jedem überlassen. Aber erst mal eine Faktengrundlage zu schaffen würde der Diskussion schon sehr helfen.

Nebenbei bin ich gerade auf diesen sehr interessanten Artikel des Deutschlandfunks von 2006 gestoßen, anlässlich der Wahl Janukowytschs. Daraus geht auch hervor, dass vor allem auf der Krim durchaus viele Menschen leben, die kein ukrainisch und nur russisch sprechen und sich auch als Russen verstehen.

Wie gesagt, das gibt Russland absolut kein Recht, diese Gebiete zu annektieren, aber ich finde es schwierig, wenn diese Realität in der Diskussion entweder nicht anerkannt oder gar bestritten wird. Warum die Annexion der Krim so unblutig verlaufen ist (im Gegensatz zur Ost-Ukraine) kann man durch diesen Artikel jedenfalls erahnen.

Wenn man sich den oben zitierten Artikel durchliest, sollte klar sein, dass die Menschen, die dort zur Sprache kommen, keine ukrainischen Medien konsumieren werden, sondern ausschließlich russische. Und das hat es der Ukraine unmöglich gemacht, diese Menschen mit dem Ziel der „Nationsbildung“ zu erreichen, sie zu „Ukrainern“ zu machen, statt zu „Russen, die in der Ukraine leben“. Das ist das Dilemma an der Situation - man hätte diese Menschen erreichen können, indem man ukrainische Medien auf Russisch produziert, aber gleichzeitig wollte man die russische Sprache eben auf diese Weise nicht fördern, was auch sehr nachvollziehbar ist. Aber so wie es gelaufen ist, kam es zu der Situation, dass diese Menschen einfach gar nicht von der Ukraine, aber umso stärker von Russland, erreicht werden konnten - mit allen negativen Konsequenzen.

Ich bleibe daher bei meinem Punkt, dass die Sprache ein wesentlicher Faktor ist und eigentlich gar nicht zu hoch bewertet werden kann. Dass nahezu jeder Ukrainer russisch spricht, aber nicht jeder Ukrainer ukrainisch spricht, verdeutlicht eher die Problematik, als sie zu widerlegen.