Ukraine-Krieg / Fragen zur Regierungserklärung von Kanzler Scholz: Was verteidigen wir? Was sind die deutschen und europäischen Werte?

Liebes Forum,

gestern auf einer Autofahrt wurde Scholz’ vielbeachtete Regierungsansprache noch einmal in Gänze übertragen. Mich hat das sehr verstört. Einerseits weil es natürlich richtig ist, dass wir eine „Zeitenwende“ in Europa mitbekommen. Das zu realisieren ist verstörend und - sicherlich auch und gerade für Politiker*innen und einen Bundeskanzler - schwer einzuordnen und sich dazu zu verhalten. Insofern kann ich den Kurswechsel der Regierung nachvollziehen und finde es richtig, die Ukraine militärisch zu unterstützen. (Ich finde es im Übrigen genauso richtig, bisher keine Waffen geliefert zu haben! Wenn sich die Verhältnisse ändern, muss sich eben auch das Verhalten ändern. Aber das ist ein anderes Thema.)

Ich kann auch das Ziel, in Deutschland aufzurüsten verstehen. Auch hier bin ich der Meinung, dass der deutsche Weg bisher nicht einfach falsch war. wie es beispielsweise die FAZ, und vor allem natürlich die Springer-Presse jetzt gerne darstellt, aber wie gesagt, hier nicht mein Thema.

Was mir in Scholz’ Rede sehr übel aufgestoßen ist, ist die Verhältnismäßigkeit der Rhetorik. Wir sind eine solch militaristische Ausrichtung von Regierungserklärungen glücklicherweise nicht mehr gewöhnt. Dass sie jetzt nötig ist, sehe ich ein. Aber in Deutschland, in Europa sollten wir doch darauf verweisen, was wir hier verteidigen. Warum wir auf „der richtigen Seite der Geschichte“ stehen. Dass es hier nicht nur um zwei Blöcke von Staaten geht, die eben gerade verfeindet sind.

Ich habe den Text der Rede gerade noch einmal dahingehend durchgelesen, was Scholz sagt, was wir verteidigen und erreichen müssen: „Souveränität“, „Frieden“, „Sicherheit“ und „Wohlstand“, das sind die Begriffe, die gefallen sind, über das, was zu sichern ist. Das alles ist wichtig, aber doch kein Selbstzweck! Ich bin mir ganz sicher, dass Putin genau das gleiche auch sagen würde. Ganz am Ende kommt es einmal, was wir verteidigen: „ein freies und offenes, gerechtes und friedliches Europa“. Das ist schön gesagt, aber doch keine Perspektive, keine klare Vision (Helmut Schmidt zählt hier nicht) auf das, was wir hier erreichen wollen. Wir müssen doch zeigen, was wir dem Gegner voraushaben, warum es sich für Ukrainer:innen und alle anderen, lohnt, sich nach Europa zu orientieren, auch wenn ihnen dafür Aggressionen aus Russland drohen.

Mein eigentlicher Punkt ist: 100 Milliarden Euro Militärausgaben dürfen nicht so ohne Bezugspunkt dastehen. Wir müssen aufzeigen, dass wir eben dafür auch in Bildung, in die Unterstützung demokratischer Strukturen (entsprechende Bildungsangebote hatten ja nun jüngst unter starken Kürzungen zu leiden), in sozialen Ausgleich, in wirtschaftliche Zusammenarbeit, in Gesundheit für alle investieren. Es geht doch nicht nur um den Schutz von Leib, Leben und eventuell noch der Energieversorgung.

Ich finde, das ist keine Traumtänzerei. Zu zeigen, was Deutschland und Europa ausmacht, ist meiner Ansicht nach Voraussetzung dafür zu zeigen, dass es sich das (mit viel Geld) zu verteidigen lohnt. Dass das in Europa zuletzt nicht gelungen ist, was den Brexit, die zunehmende Abwendung von Ungarn und teilweise auch Polen und das Erstarken autoritärer Kräfte nach sich gezogen hat, liegt doch gerade daran, dass Europa hier versagt hat, nicht an fehlender militärischer Aufrüstung.

Wie gesagt, dass jetzt mehr Geld in Militärausgaben fließt, ist nicht zu verhindern. Aber der Wortlaut der Rede macht mir Angst, dass das noch weiter auf Kosten der Dinge geschieht, die Europa und Deutschland zu dem machen, was es ist (oder zumindest sein sollte). Wenn soziale Unterschiede sich verschärfen, immer mehr Leute immer weniger Möglichkeiten haben und wir den Wert, Europäer*innen zu sein, nicht mehr wahrnehmen - wie viel Motivation werden wir dann noch haben, dafür einzustehen?

Edit: Mir ist klar geworden, dass das viel Geschwafel ohne klare Frage ist. Daher meine Frage: Ist es vermessen, vom Regierungschef eines bedeutenden europäischen Staates in dieser Situation zu verlangen, die militärische Rhetorik mit der Formulierung eines klaren Ziels zur Stärkung der freiheitlichen Gesellschaft zu verbinden?

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