Subjektive Unverhältnismässigkeit von Polizeieinsätzen im Vergleich

Weil die Gelegenheit für einen Vergleich derart günstig ist, möchte ich das Thema Polizeieinsätze, das ja bereits umfangreich an verschiedenen Stellen debattiert wurde, aufgreifen.

Der Vergleich hinkt an ganz vielen Stellen, das ist mir durchaus bewusst, ich würde mich dennoch über eine Einordnung freuen, denn mich beschleicht leider der Eindruck, dass hier wie so oft mit zweierlei Mass gemessen wird. Dazu kommt, dass in meinem aktuellen Beispielen verschiedene Polizeien betroffen sind. Als Diskussionsanstoss finde ich die Vorkommnisse dennoch passend:

Wir hatten die Vorkommnisse der Silvesternacht (vor allem in Berlin) und andererseits den Einsatz gegen die Demonstranten bei Lützerath.

Ich werde mich in meinem Beitrag mehrfach auf die aktuelle Folge des DLF-Podcasts „kontrovers“ beziehen. Bei Interesse lohnt es sich ihn mal zu hören, auch, wenn er teilweise fast unerträglich ist. zeigt aber schön die Oppositions-CDU. Dazu kommt, dass Sven Hüber, der stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei sich hier zur Silvesternacht äussert.

Meine zweite Quelle ist ein aufgrund der Aktualität noch lückenhafter Bericht von Watson zum Einsatz in Lützerath, wo ein Dorf den RWE-Baggern „geopfert“ werden soll. Hunderte Aktivisten protestieren dort vor Ort gegen die Räumung.

So, wir haben also diese beiden Szenarien.

Einerseits gibt es in Berlin scheinbar bürgerkriegsähnliche Zustände (Wortlaut aus Weltwoche, NZZ und co) die nach meinen Informationen bereits in einigen Strassenzügen mittags eskalierten. Ich habe keine Videos von Wasserwerfern oder Hundertschaften gesehen, die hier zumindest versucht hätten die Randalierer aufzuhalten. Im Gegenteil, in Berlin war es wohl teilweise bereits am (Nach)mittag für Aussenstehende nicht mehr möglich ohne Angriffe durch vereinzelte Strassen zu laufen.

Andererseits haben wir Lützerath ein paar Hundert Klimaaktivist*innen, die teilweise mit ziemlicher Härte gegen normale Demonstranten vorgehen. Fairnesshalber muss man dazu sagen, dass auch hier diverse Menschen mit Feuerwerkskörpern und brennenden Blockaden gegen die Polizei vorgehen. Es gibt also in beiden Fällen ein Pulverfass, dass so ohne weiteres wohl nicht deeskaliert werden kann.

Was mich so wundert ist, wieso in der Silvesternacht keine entsprechenden Einsätze gemacht wurden. Ich vermute es hat damit zu tun, dass man die Verlagerung und Eskalation gefürchtet hat - dennoch scheint mir das Bild irgendwie subjektiv gegen die Aktivist*innen deutlich härter als gegen die Chaoten der Silvesternacht. Wir kennen solche Themen ja auch schon z.b. aus Bayern, wo Klimaaktivisten mal auf Verdacht 30 Tage weggesperrt werden.

Ist es so, wie es sich mir subjektiv aufdrängt, dass Einsätze gegen - wohlgemerkt wissenschaftlich komplett legitime - Aktivist*innen härter sind als das Vorgehen gegen marodierende Besoffene? Warum ist das so und wie wird das gesellschaftlich wahrgenommen?

Die Logik erschließt sich, wenn man nicht betrachtet was für Taten dort begangen werden, sondern was für Werte geschützt werden. Um Unternehmensprofite, das Eigentum von Reichen oder G20-Gipfel o.ä. zu verteidigen, sind keine Kosten zu hoch und keine Vorgehensweise zu brutal. Wenn sich dagegen in irgendwelchen sozioökonomisch schwierigen Gegenden die Leute gegenseitig mit Pyro beschießen, ist das erstmal nicht wichtig, weil etwaige Opfer ja großteils ebenfalls von dort stammen. Da römert man dann halt im Laufe der Nacht mal rein, nachdem Rettungskräfte sich beschwert haben, dass sie da nicht mehr arbeiten können, und statuiert ein Exempel, verhaftet ein paar Leute und ist wieder weg. Die Leute dort wissen natürlich ganz genau, dass sie allenfalls Objekte polizeilichen Handelns sind, und Polizei es auf der anderen Seite überhaupt nicht als Aufgabe sieht, im Zweifelsfall auch sie zu beschützen, und deswegen ist die Abneigung entsprechend groß. Und mit an jeder Ecke verfügbarem Sprengstoff in Verbindung mit viel Alkohol fühlt man sich dann natürlich mal ganz stark und sucht die Konfrontation.

Am allerwenigsten motiviert ist Polizei natürlich, Menschen zu beschützen, deren Eigenart es ist herrschende Verhältnisse zu hinterfragen, wie Journalisten auf Leerdenkerdemos, oder Linke, die von Neonazis angegriffen werden. Da werden dann lieber mit den Aggressoren Herzchen ausgetauscht oder man hat zufällig ganz dringend was am anderen Ende der Stadt zu tun.

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Ist das wirklich so?

Also in Berlin wurden zur Silvesternacht zahlreiche Festnahmen durchgeführt, in Lützerath wurde mWn bisher relativ wenig festgenommen, falls überhaupt. Da es auch mindestens zu einem Molotov-Cocktail-Wurf und mehreren Steinewürfen kam, kann es natürlich sein, dass es Festnahmen gab.

Aber die friedlichen Proteste scheinen doch sehr gewaltarm - auch seitens der Polizei - verlaufen zu sein. Es wurden etliche Leute weggetragen, Leute wurden mit Hebebühnen von ihren Tripods gezogen usw. Von einem problematischen Vorgehen der Polizei habe ich bisher nichts gehört.

Das ist auch nachvollziehbar. Zu Silvester eine Versammlung aufzulösen führt wirklich nur dazu, dass sie sich verlagert. Das hilft niemanden. Welches sinnvolle Ziel soll damit auch verfolgt werden?

In Lützerath hingegen wurde ja auch die letzten Monate so gut wie gar nicht eingegriffen - auch da hat man die Leute eine sehr lange Zeit machen lassen, die Leute haben sich heimisch in den Ruinen niedergelassen, Infrastruktur für den Protest aufgebaut und der Staat hat es alles laufen lassen - aus dem gleichen Grund: Dort zu intervenieren hätte höchstens zu noch stärkeren Protesten, noch stärkeren Konfrontationen geführt.

Dass JETZT Lützerath geräumt wird, liegt halt daran, dass JETZT der Ort auch eingezäunt und abgerissen werden soll - und das Abreißen geht eben nicht, wenn dort noch Demonstranten sind. Der Grund, warum der Staat dort also aktiv wird, liegt daran, dass man ein bestimmtes, zeitlich sensitives Ziel verfolgt.

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Ein weiterer relevanter Unterschied ist, dass in der Sylvesternacht von Millionen von Menschen in ganz Deutschland gefeiert wird und die Polizei vorher kaum weiß, wo und wann einige davon gewalttätig werden. Da kann man nicht allen potentiellen Tätern große Polizeitruppen gegenüberstellen, so viele Polizisten haben wir nicht. In Lützerath dagegen gibt es nur ein paar hundert Aktivisten, da kann man eine größere Zahl von Polizisten zusammenziehen.

Der Vergleich zwischen Berliner Silvester Nacht und Lützerath hinkt tatsächlich. Einer der Hauptunterschiede ist unter anderem an der Erwartbarkeit bzw. Planbarkeit des Szenarios.

Das heißt, das die Polizei mehr oder weniger weiß, worauf sie sich bei der Räumung von Lützerath einstellen muss und kann sich dementsprechend aufstellen.
Dem ist bei der Silvesternacht nur bedingt der Fall. Diese war evtl. auch erwartbar, aber das Ausmaß war vorher nicht klar vorherzusehen. Insbesondere, da es sich auch nicht nur um einen, sondern um mehr als einen Stadtteil gehandelt hat.

Was ich dennoch interessant finde, ob es signifikante Unterschiede im polizeilichen Handeln auf Demonstrationen gibt, je nachdem welchem Spektrum diese zugeordnet werden kann.
Das wäre mal eine gute Forschungsarbeit :smile:

Edit: Rechtschreibung