Sicherheit im Schienenverkehr (Eisenbahnunglück Schäftlarn)

Liebes Lage-Team,

ich würde mich freuen, wenn ihr im Kontext des tragischen Eisenbahnunglücks in Schäftlarn etwas mehr über die generelle Sicherheitssituation im Schienenverkehr sprechen würdet.

Ohne vorschnell über die Unfallursache spekulieren zu wollen, halte ich es für möglich, dass zumindest ein Teil des Problems in dem Signal Zs 1 liegt. Dieses Signal war schon bei dem Unglück in Bad Aibling ein Problem, und wurde daraufhin von der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung schon kritisch hinterfragt. Es erlaubt einem Fahrdienstleiter, alle Sicherheitsvorkehrungen außer Kraft zu setzen, und eine Zugfahrt dadurch auch im Störungsfall zu ermöglichen.

Über dieses Signal besteht international Verwunderung, da es offensichtlich ein großes Risikopotential birgt. Eisenbahningenieurwesen-Professor Pachl von der TU Braunschweig schrieb dazu diesen Artikel:

Falls ihr Experten zu dem Thema sucht, könntet ihr vielleicht auch bei den Leuten vom Zugfunk Podcast nachfragen: das sind (Ausbildungs-)Lokführer der Bahn, die auch gut darin sind, solche Themen einem fachfremden Publikum zu erklären.

Viele Grüße

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Ich hätte da als nichtbelesener doch gleich Mal eine Verständnisfrage.

Bei mir im Elektrobereich ist es so, dass man wenn man sämtliche Sicherheitseinrichtungen bewusst umgeht erstens besondere Vorsicht geboten ist und zum anderen andere Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden müssen.

Nach diesem meinem Hintergrund wäre das für mich: sobald ein Fahrdienstleiter von diesem ZS 1 Gebrauch macht (warum auch immer) muss doch eigentlich für alle Züge in dem Abschnitt sofort „Schrittgeschwindigkeit“ gelten, damit der Lokführer die Chance hat auf Sicht zu fahren und den Zug im Zweifel halt auf wenigen Metern zum stehen zu bringen.

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Wenn der Fahrdienstleiter nicht sicherstellen kann, dass ein Abschnitt frei ist, muss inzwischen nach Vorschrift der erste Zug in diesem Abschnitt ‚auf Sicht fahren‘, wie das langsamfahren in Bahndeutsch heißt. Dafür gibt es ein anderes Signal: das Zs 7. Allerdings gibt es vielerorts keine technischen Einrichtungen die das erzwingen, weshalb ein (unter Umständen abgelenkter oder überforderter) Fahrdienstleiter die Möglichkeit hat, entgegen der Vorschrift das Zs 1 zu stellen. Das ist auch in Bad Aibling passiert: dort ging durch die Medien, dass der Fahrdienstleiter am Handy spielte, aber durch eine richtige technische Sicherung wäre der Unfall möglicherweise trotzdem vermeidbar gewesen (Disclaimer: ich bin kein Experte auf dem Gebiet, weiß aber, dass Experten diese Auffassung vertreten.) Das ist bemerkenswert, zumal die Eisenbahn ansonsten in Deutschland besonders viel Wert auf Sicherheitsvorschriften legt.

Wie ist es überhaupt möglich, dass zwei Züge auf eingleisiger Strecke ‚head on‘ kollidieren?

Wenn sich zwei Züge außerhalb eines Bahnhofs und auf eingleisiger Strecke entgegenkommen, kann das doch nur schiefgehen. Um das zu prüfen, brauche ich in jedem Zug einen GPS-Empfänger und eine Karte der eingleisigen Schienenabschnitte. Ersteres kostet keine 100 Euro, letzteres sollte bei der Bahn vorhanden sein. Dann braucht es noch ein paar Dutzend Mannstunden fürs Programmieren. Fertig.

Oder stelle ich mir das zu einfach vor?

Head-on-Kollisionen wären eigentlich schon an sich dadurch ausgeschlossen, dass die gegenüberliegenden Signale durch die Stellwerkslogik (bei den ganz alten Stellwerken sogar durch mechanische Blokkaden) nicht gleichzeitig auf Fahrt gestellt werden. Zugbeeinflussungssysteme wie die PZB oder ETCS sorgen dafür, dass ein Zug nicht ohne Weiteres an einem roten Signal vorbeifahren kann. Es gibt auch Systeme mit GPS, aber weil PZB eigentlich gereicht hat, werden die in Deutschland kaum eingesetzt. Das Problem an der Sache ist, dass das Zs 1 die Stellwerkslogik einfach überschreiben kann. Das war übrigens auch so gewollt: das Zs 1 ist gerade für den Fall gedacht, dass es eine Signal- oder Stellwerksstörung gibt.

Aber wäre es nicht mit einfachsten technischen Möglichkeiten umzusetzen, dass bei den Zugführern z. B. eine Warnleuchte/Warngeräusch angeht, wenn sich ihnen ein Zug aus entgegengesetzter Richtung nähert (und sie sich auf eingleisiger Strecke befinden)? Das sollte ja kein anderes System ersetzen, sondern wäre lediglich ein Backup dafür, dass alle anderen Systeme (Technik und Mensch) versagen. Ähnlich der Kollisionswarnung in Verkehrsflugzeugen.

Momentan scheint es ja so zu sein (sofern ich richtig verstanden habe), dass ein einziger böswilliger Akteur Züge bewusst gegeneinander fahren lassen kann. Und die Zugführer wissen nix davon, bis sie den anderen Zug sehen. Allein das ist doch bekloppt.

Ja, es wäre einfach umzusetzen, und könnte einen Beitrag liefern, das Problem zu beheben. Aber von einer (doch relativ teuren, da alle Züge umgerüstet werden müssten) Investition müssen erstmal die Verantwortlichen überzeugt werden…
Es sollte trotzdem gar nicht erst möglich sein, dass der Fahrdienstleiter die Sicherheitsvorschriften einfach mit dem Zs 1 umgeht.

Also eine Box mit einen GPS-Empfänger, einem Mobilfunksender und etwas Rechenleistung könnte man für unter 100 Euro basteln. Klar, das muss alles zertifiziert werden, etc. pp. Aber lass es 1000 Euro kosten pro Zug. Das sind doch Peanuts.

Oh wow. Ich höre gerade zum ersten Mal davon. Die Existenz des Zs 1, wie ihr es hier beschreibt, klingt nach einem Unding. Also insbesondere, dass der Zug dann nicht auf Sicht fahren muss. Was ist denn der Grund dafür, dass es das gibt? Für mich hört sich das nach folgender Situation an.

  1. Wir haben technische Sicherheitsvorkehrungen
  2. Die fallen so häufig aus, dass wir ein extra Signal brauchen, um sie ignorieren zu dürfen
  3. Wenn wir das tun, ersetzen wir sie nicht durch menschliche Vorsicht (langsam fahren zum Beispiel), sondern durch „Wird schon gutgehen“.

Ist das so?

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Wir ersetzen die Sicherheitsvorkehrungen durch strikte Regeln, an die sich der Fahrdienstleiter zu halten hat, sonst besteht der Straftatbestand des gefährlichen Eingriffs in den Eisenbahnverkehr. Allerdings kann ein Fahrdienstleiter in einer schweren Stresssituation (die bei Störungen immer besteht) einen kleinen Fehler machen, der zu einem schweren Unfall führen kann, ohne von der Technik daran gehindert zu werden. Also ja, so ungefähr nach dem Motto ‚wird schon gut gehen‘.

Also nach meinem dafürhalten muss der Einsatz von ZS 1 automatisch mit Schrittgeschwindigkeit verbunden werden.

Dann kann ein kleiner Fehler einer einzigen gestressten Person nicht mehr in einer Katastrophe enden.

Und ehrlich wenn ich wegen eines Stressfehlers im Knast lande will ich den Jobb gar nicht erst haben.

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Mal unabhängig davon, dass es techn. sichergestellt sein sollte, dass ein Gleisabschnitt nicht doppelt belegt werden kann: Strecken, die offenbar eine so hohe Taktung haben, dass Züge sich regelmäßig entgegenkommen und entsprechend auf einander warten müssen, sollten doch möglichst zweigleisig ausgebaut werden. Das ist zwar ein anderes Thema, aber es gibt da einige Beispiele (Werdenfelsbahn München Richtung Garmisch zB), wo es aufgrund der teils eingleisigen Strecke andauernd zu Verspätungen auch in die Gegenrichtung kommt, weil Gleisabschnitte nicht frei sind, wo der Takt schon am Maximum ist etc. - während lustig Milliarden für irgendwelche Tunnel, Umgehungsstraßen und Brücken für Autos freigemacht werden, ist da kein Geld dafür da. Auch das geht dann ja auf Kosten der Sicherheit, wie man sieht.

Danke für die Podcast-Empfehlung!

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Für Interessierte: Wenn ich mich recht erinnere wird ein solches GPS Kollisionswarn-System im Projekt RCAS vom DLR erforscht. RCAS ist im erwähnten Zugfunk-Podcast in Folge #01 ausführlich behandelt worden. Das System ist aber deutlich komplexer, da es auch auf mehrgleisigen Strecken funktionieren soll und deshalb zusätzlich zur GPS Position einen digitalen Plan aller Gleise und Weichen benötigt, den Funfact: es (noch) nicht gibt.

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