Hintergrund für meinen Themenvorschlag ist natürlich die kürzliche Messerattacke in Brokstedt.
Die meisten Medien hatten ja kein Problem damit, die Vorstrafen und anhängigen Verfahren zum mutmaßlichen Täter zu recherchieren.
Was ich aber vermisse, ist der Kontext wie ein „Wiederholungstäter“ in unserem Rechtssystem normalerweise behandelt wird, unabhängig von Aufenthaltsstatus und Nationalität.
Ich frage mich, ob es da nicht problematische Lücken gibt, wenn Menschen nach mehreren Straftaten in Folge offenbar ihre Strafen absitzen und danach wieder alleine gelassen werden.
Der NDR berichtet davon, dass der mutmaßliche Täter während einer vorherigen Haft psychische Probleme zeigte, und behandelt wurde.
Außerdem habe die JVA nach seiner Entlassung kurzfristig eine Methadon-Behandlung für ihn organisiert
Hier fände ich eine Einordnung von Ulf sehr hilfreich:
Gibt es ein System, das bei mehreren gewaltsamen Straftaten in Folge z.b. Sicherheitsverwahrung vorsieht? Bzw. eine verpflichtende Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt?
Wenn jemand wie hier vorzeitig aus der U-Haft entlassen wird, findet dann eine Einschätzung durch einen Psychiater statt, wenn bereits psychische Probleme bekannt sind?
Gibt es ein System oder eine Behörde, die eventuell psychisch vorbelastete Personen nach der Haftentlassung begleitet und unterstützt?
Ich bin verwundert, dass eine JVA einen zu diesem Zeitpunkt ehemaligen Häftling bei der Beschaffung von Therapien / Medikamenten unterstützt. Gehört das zu deren Aufgabe?
Unabhängig von der Frage einer potentiellen Abschiebung, gibt es ja sicher auch genug deutsche Straftäter, die in ein solches Schema passen. Gibt es Systeme, um solche Personen vom Begehen wiederholter Straftaten abzuhalten? Inwiefern unterscheiden sich solche Systeme von denen für Asylsuchende / Asylanten / Flüchtlinge etc.?
Im Rahmen einer Verurteilung kann Sicherheitsverwahrung angeordnet werden. Die Voraussetzungen sind aber streng und lagen im vorliegenden Fall nicht vor (Die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB müssen kumulativ („und“) vorliegen)
Wenn von einem Täter, wie im vorliegenden Fall, die Gefahr von weiteren Straftaten ausgeht, ist das auch ein Grund dafür, eine Untersuchungshaft anzuordnen (§ 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO statuiert Wiederholungsgefahr in qualifizierten Körperverletzungsdelikten (§ 224ff StGB), was hier im Hinblick auf die Messerangriffe der Vergangenheit einschlägig wäre)
Bei einer konkreten Selbst- oder Fremdgefährdung ist auch eine Zwangseinweisung in eine geschlossene Psychiatrie möglich (hier in NRW nach § 14 PsychKG, in anderen Bundesländern heißt das Ganze möglicherweise anders). Dazu muss es aber eine hinreichend konkrete Gefährdungslage geben.
Im vorliegenden Fall hat das wohl stattgefunden:
Der Sozialdienst der Justizvollzugsanstalten soll den Gefangen im Idealfall während der Haftzeit auf die Entlassung vorbereiten, daher: Wenn der Gefangene entlassen wird, sollte er schon eine Wohnung haben, einen ALG II-Antrag gestellt haben (oder gar einen Job haben) und auch eine psychologische Behandlung, falls nötig, sollte schon organisiert sein. In der Praxis kann der Sozialdienst aber auch eine Betreuung nach Haftentlassung noch (sehr begrenzt, i.d.R. organisatorisch) fortsetzen. Macht ja auch Sinn: Wenn der Gefangene Vertrauen zum Sozialdienst gefasst hat und plötzlich doch nach Entlassung noch etwas geregelt werden muss, macht es schon Sinn, dass der Sozialdienst noch tätig werden kann…
Bei den meisten Straftätern, die entlassen werden, wird die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt - also der klassische Fall: Freiheit nach 2/3 der verbüßten Haftzeit, dafür mit Bewährung. Das bringt natürlich automatisch die Bewährungshilfe in den Fall, die sich dann auch um den Entlassenen kümmert.
Ansonsten gibt es viele Träger von Maßnahmen für Haftentlassene, also die typischen: Caritas, Diakonie, AWO… Diese kooperieren i.d.R. mit den JVAs und koordinieren den Übergang von Strafvollzug und Nachsorgemaßnahmen. Wenn aber der Entlassene keine Bewährung hat, sind diese Maßnahmen natürlich freiwillig (ansonsten könnte die Teilnahme eine Auflage im Rahmen der Bewährung sein). Ein lückenloses Netz ist das definitiv nicht - und wie gut dieser Übergang funktioniert ist sehr abhängig vom Bundesland, weil Strafvollzugsrecht seit der Föderalismusreform 2006 grundsätzlich Ländersache ist…
Eigentlich gar nicht, aber in der Praxis mag das anders aussehen, z.B. wegen der Erwartung, dass der Betroffene bald abgeschoben wird. De jure gilt für Asylsuchende aber das gleiche wie für alle anderen Haftentlassenen.
Fazit:
Hier gibt es definitiv Verbesserungsbedarf, aber solche Fälle lassen sich nie ganz vermeiden. Der Betroffene wurde psychologisch beurteilt und das Urteil hat sich im Nachhinein als falsch herausgestellt. Das ist die typische Diskussion, wann immer ein Täter (vor allem Sexualstraftäter) trotz positivem Gutachten rückfällig geworden ist. Ein Gutachter muss hier einfach eine schwierige Entscheidung treffen und man kann den Menschen nun einmal nur vor den Kopf schauen, nicht hinein… die Abwägung ist hier: Desto strenger man die Menschen begutachtet, desto niedriger fällt die Quote der zu Unrecht entlassenen aus (=weniger Wiederholungstaten), aber in drastisch größerem Maß steigt damit auch die Quote derjenigen, die zu Unrecht weiter in Haft bleiben müssen.
Die Frage ist letztlich, was wir gesellschaftlich haben wollen:
Das eine Extrem ist, aus reiner Vorsicht immer von einer weiteren Gefährlichkeit auszugehen. Aber das endet in Diktatur. Dann gibt es zwar keine zu Unrecht entlassene (=keine Wiederholungstaten), dafür 100% zu Unrecht weiter inhaftierte, was nicht mit der Menschenwürde vereinbar ist und - damit die Konservativen auch ein Argument haben - deutlich zu teuer wäre.
Das andere Extrem ist, jeden nach verbüßter Haft sofort zu entlassen. Dann gibt es mehr Wiederholungstaten, aber dafür sitzt niemand zu Unrecht ein.
Alles andere spielt sich zwischen diesen Extremen ab, in Deutschland sind wir im Mittelfeld mit der Möglichkeit der Sicherheitsverwahrung und dem Untersuchungshaftgrund der Wiederholungstat. Wie viele Menschen wollen wir zu Unrecht weiter im Knast verrotten lassen, damit ein Wiederholungstäter verhindert werden kann?