Rechtliche Einordnung Siedlergewalt

Vielen Dank für den transparenten Reisebericht und das spannende Interview.

Beim hören sind bei mir einige rechtliche Fragen zum Thema Siedlergewalt entstanden, bei der mich eine rechtliche Einordnung interessieren würde:
Dabei geht es mir ausdrücklich nicht um eine politische Bewertung des Konflikts.

  1. Wenn Siedler-Gewalt gegen Palästinenser verüben und der Staat Israel diese Gewalttaten nicht verfolgt, gäbe es dann die Möglichkeit diese Straftäter vor einem anderen Gericht zu verurteilen z.B. ISGH?

  2. Inwiefern macht sich in diesem Zusammenhang der Staat Israel, bzw. einzelne Verantwortliche juristisch schuldig, wenn er solche Gewalt toleriert und diese nicht verfolgt?

  3. Könnten solche Angriffe als kriegerischen Akt des Staates Israels auf Palästina gedeutet werden, ähnlich der Argumentation der USA nach dem 11. September?

  4. Wie ist die rechtliche Ungleichbehandlung von Palästinensern und Israelis durch den israelischen Staat rechtlich zu betrachten? Hier wird von manchen die Analogie zu Apartheid in Südafrika gezogen, was sehr umstritten ist. Gibt es hierfür eine bessere Einordnung und wie ist diese systematische Ungleichbehandlung im Bezug auf internationales Recht einzuordnen?

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Ganz grundsätzlich muss man hier immer darauf achten, sauber zwischen „den Siedlern“, „der israelischen Armee“, „israelischen Regierungsmitgliedern“ usw. zu unterscheiden (bzw. den Nachweis der Zusammengehörigkeit führen) und zu ermitteln, welche Individuen zu welchem Zeitpunkt welchen Organisationen angehört haben und wie diese Individuen und Organisationen tatsächlich aufeinander Einfluss ausüben konnten.

Der IStGH ist nur für eine eng umrissene Gruppe an Straftaten zuständig, nämlich Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Kriegsverbrechen. Ob die Taten der Siedler diese Schwelle überschreiten bezweifle ich in vielen Fällen.

Grundsätzlich braucht es den IStGH aber gar nicht. Viele Straftaten über die im Kontext Palästinas diskutiert wird, könnten auch in Deutschland nach dem Weltrechtsprinzip zu Anklage kommen – solange es um Vergehen im Kontext des Völkerrechts geht.

Will heißen: „Nur“ Mord würde weder der IStGH, noch ein deutsches Gericht interessieren (es sei denn Täter oder Opfer hätten die deutsche Staatsbürgerschaft). Der Siedlungsbau als solcher ist dagegen ziemliche eindeutig völkerrechtswidrig, genauso wie die gewaltsame Landnahme dafür. Daraus würden sich durchaus Ansatzpunkte für eine Strafverfolgung ergeben.

Allerdings hat dafür glaube ich kein Staatsanwalt in Deutschland den Appetit – mal abgesehen davon, dass die Bundesregierung über den Justizminister auch aus außenpolitischen Gründen eine Einstellung des Verfahrens erwirken könnte.

Eine bewusste Tolerierung von Vergehen gegen die beschriebenen Verbrechen könnte der IStGH durchaus als juristische Verantwortung für diese Taten interpretieren. Der Nachweis wird dann aber schwieriger, als wenn man eine direkte Verantwortlichkeit nachweisen kann. Aber da zum Beispiel die israelische Regierung manchen Siedlern Waffen zur Verfügung stellt, greift hier meiner Ansicht nach schon eine sehr hohe Sorgfaltspflicht der verantwortlichen Regierungsmitglieder.

Das braucht es nicht wirklich, weil schon die Gründung der Siedlungen selbst bzw. deren Tolerierung durch den Staat Israel ein kriegerischer Akt ist.

Die Frage ist: welche Relevanz hat das? Palästina hat keine reguläre Armee. Und sowohl die Palästinenser, als auch ihnen positiv gesonnene Staaten (die theoretisch auf ein Hilfsgesuch der palästinensischen Regierung mit militärischer Unterstützung reagieren könnten) haben kein Interesse an einem offenen Krieg. Und wenn das Interesse da wäre, dann bräuchte es nicht die Siedlungen als Grund. Insofern ist das ziemlich irrelevant.

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Hier ist ein guter Übersichtsartikel über den vorgeschriebenen Umgang mit besetzten Gebieten und deren Bevölkerung unter internationalem Recht.

Eine kritische Frage ist der tatsächliche Status Palästinas und insbesondere der Westbank: Handelt es sich um einen unabhängigen Staat, der durch Israel vorübergehend besetzt ist, oder handelt es sich de facto um israelisches Territorium?

Apartheid ist ein im Völkerrecht definierter Begriff, bei dem es um den Versuch geht, eine rassistisch definierte Gruppe systematisch zu unterdrücken. Entwickelt wurde dieser Begriff mit Blick auf die politischen Systeme in Südafrika und Südrohdesien – Die Unterdrückten waren also Bürger dieser Staaten, keine Bewohner eines militärisch besetzten fremden Territoriums. Rassismus war zudem Teil der Staatsphilosophie und explizites Recht.

Das ist in Israel objektiv anders. Die israelische Verfassung, die auf israelischem Staatsgebiet auch effektiv Anwendung findet ist nicht rassistisch orientiert. Der Staat tritt gegenüber seinen Staatsbürgern nicht rassistischer auf, als dies auch in anderen demokratischen Staaten beobachtet werden kann. Jedenfalls so lange, wie man das Westjordanland nicht als Teil Israels betrachtet und die Palästinenser nicht als israelische Staatsbürger, was sie nach den meisten juristischen Einschätzungen auch nicht sind.

Die Regierung Israels argumentiert entsprechend, dass die Westbank ein militärisch besetztes Gebiet sind, in dem Kriegsrecht herrscht – was eine gewisse Ungleichbehandlung der dortigen Bevölkerung zulässig macht. Allerdings öffnen sich die israelischen Verantwortlichen damit anderen Vorwürfen zu Verstößen gegen internationales Recht (s.o.).

Der Apartheidsvorwurf macht juristisch vor allem dann Sinn, wenn man die Westbank als de facto Teil des Staates Israels ansieht und den dort lebenden Palästinensern damit die selben Rechte zuspricht, wie sie auch Israelis zustehen. Ich persönlich bezweifle, dass irgendein Gericht diesen Apartheidsvorwurf jemals aufgreifen wird. Das ist zur juristischen Aufarbeitung auch nicht nötig, denn es stehen genug andere Vorwürfe im Raum.

Politisch habe ich dagegen für die Verwendung des Apartheidsbegriffs mit Bezug auf die Westbank durchaus Sympathien. Es bringt viele der von den Palästinensern erlebten Ungerechtigkeiten gut auf den Punkt. Ich glaube nicht, dass sich die Lebenswahrnehmung vieler Palästinenser qualitativ wesentlich von denen vieler Südafrikaner vor 1990 unterscheidet.

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Ich kann die Fragen des OP nicht beantworten. Was mir in Hinblick auf „Siedergewalt“ sehr geholfen hat war der Beitrag von John Oliver, in dem auch ganz praktische Diskriminierung mal aufgezeigt wurde.

Last week tonight ist zwar n comedy format, aber stets quellebasiert und -zitierend. Es ist sicherlich ein „leichter“ Einstieg in die Problematik der Westbank, aber wer english versteht und keine politischen Essays wälzen will, kann sich dem Thema damit dennoch mal infotainend nähern:

(Wie gesagt juristisch wird da auch einiges aufgearbeitet, aber ob es die sehr spezifischen Fragen von OP beantwortet, denke ich eher nicht)

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Ich war selbst vor 12 Jahren mit meinen Eltern auf einer kurzen Reise in Israel. Damals waren wir auch am toten Meer und in Bethlehem.

Das hat mich hart getroffen, denn selbst als Tourist der nur ein paar Tage dort ist, bekommt man diese Ungleichbehandlung schon mit.
Überall stehen israelische Soldaten, An Checkpoints wird man kontrolliert, man sieht die kleine ärmlichen Dörfer der Palästinenser und im Kontrast die neu gebauten Siedlung der Israelis.

Abgesehen von der Schuldfrage ahnt man schnell, wie scheiße das Leben in der Westbank als Palästinenser sein muss, wenn man ständig der Willkür von Soldaten an Checkpoints ausgesetzt ist und sich rechtlich nicht dagegen wehren kann.

Denn auch wenn sich 99% der israelischen Soldaten korrekt und respektvoll verhalten, bedeutet das eben trotzdem, dass man regelmäßig genug auf die anderen 1% trifft, die ihre Macht missbrauchen um einen vorzuführen.

Dabei stellt sich für mich folgende Frage:

Währen die Palästinenser in der Westbank nicht in beiden denkbaren Szenarien rechtlich besser dran?

  1. Bei einem eigenen Staat wäre es klar. Israelische Soldaten hätten dort nichts zu suchen.

  2. Aber auch wenn Palästina Teil Israels werden würde und die Palästinenser damit Israelis, wäre ihre Laage viel besser?
    Sie könnten in demokratischen Wahlen Einfluss auf die Regierung nehmen und staatliches Handeln vor ordentlichen Gerichten prüfen lassen.

Der seltsame „Zwischen Status“ der Westbank ermöglicht also erst die massive Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung.

Aber kann das rechtlich wirklich sein?
Irgendwie kann ich mir das nicht so wirklich vorstellen?
Kann es wirklich rechtlich legal sein, die Menschen dort so zu behandeln?

Definitiv wäre sowohl eine Zwei-Staaten-Lösung als auch eine Ein-Staaten-Lösung für alle Beteiligten (Israelis als auch Palästinenser) unter’m Strich besser. Bei einer Ein-Staaten-Lösung hinge es eben sehr davon ab, wie dieser Staat - insbesondere im Hinblick auf eine Verfassung - aufgebaut ist. Aktuell hat Israel keine Verfassung, das müsste sich bei einer Ein-Staaten-Lösung ändern, denn die großen Konflikte zwischen Palästinensern und Israelis machen ein dichtes Framework in Form einer Verfassung zwingend notwendig, gerade im Hinblick auf den Minderheitenschutz (sowohl national („Palästinenser als Minderheit im jüdischen Staat“) als auch international („Israel als sichere Zuflucht für Juden weltweit“)). Beide Ziele müssten über eine Verfassung abgesichert werden.

Aber aktuell sind wir eben sowohl von einer Zwei-Staaten-Lösung als auch von einer Ein-Staaten-Lösung denkbar weit entfernt. Beide Lösungen würde voraussetzen, dass sich Israel und die Palästinenser auf etwas kompromissfähiges verständigen könnten. Eine militärische „Eroberung“ und „Annexion“ ganz Palästinas wäre für Israel und die Palästinenser eine Katastrophe, es wäre quasi ein Instant-Bürgerkrieg, der das Potenzial hätte, Jahrzehnte anzuhalten. Das ist also auch keine Lösung.

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Und das ist der Grund, warum es keine 1-Staaten-Lösung geben wird. Israel (und da gibt es glaube ich Konsens auch in breiten Teilen des liberalen Teils der Gesellschaft) ist ein jüdischer Staat. Die Westbank und der Gazastreifen haben zusammen knapp 5 Millionen Einwohner. Israel hat 9,8 Millionen und vermutlich eine niedrigere Geburtenrate. Selbst ohne ein „Recht auf Rückkehr“ hätten die Palästinenser und israelischen Araber in einem gemeinsamen Staat auf einmal ein ähnliches Stimmgewicht wie die jüdischen Einwohner.

Ist es definitiv nicht. Dazu gibt es auch jede Menge juristische Einschätzungen, auch durch internationale Gerichte. Aber das ist Wurscht, solange sich Israel nicht an diese Entscheidungen hält und der Rest der internationalen Gemeinschaft nicht bereit ist, die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Souveräne Staaten sind souverän.

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Genau so sehe ich das auch.

Die Politik Israels -wieder weg von der 2 Staaten Lösung und zu immer mehr Grenzüberschreitungen - der letzten 20 Jahre ist für mich unlogisch.

An Ende hat sich diese Politik vermutlich nicht durchgesetzt weil kluge Menschen sie für die beste halten.

Vielmehr hat sie sich im politischen Wettbewerb, im
Wechselspiel aus Stimmungen, wie Angst, Hass und Rache, und populistischen Politikern durchgesetzt.

Die relevante Frage für mich ist, wie wir Deutsche Einfluss nehmen können.

Genau deshalb habe ich die Frage gestellt, ob wir Deutsche rechtlich gegen israelische Grenzüberschreitung vorgehen können?

Das ist das praktische Problem, von dem Ich sprach.

Sowohl eine Zwei-Staaten-Lösung als auch eine Ein-Staaten-Lösung müsste mit vielen Kompromissen beider Seiten einhergehen. Aber auf beiden Seiten des Konfliktes gibt es viele Menschen, die meinen, das gesamte Land gehöre ihnen, die Palästinenser auf Grundlager jüngerer Geschichte (quasi vor der massiven jüdischen Zuwanderung seit Ende des 19ten Jahrhunderts), die Israelis auf Grundlager älterer Geschichte („Vor tausenden Jahren war das alles unseres…“) und Religion („Gott hat uns das Land gegeben“).

Und das führt zu der von dir gezeigten Statistik, nach der große Teile der Bevölkerung beider Seiten weiterhin auf einen Staat auf dem gesamten Gebiet Palästinas beharren („Hegemoniallösung“), in dem sie das sagen haben (die roten Balken).

Man kann die Statistik aber auch positiv deuten:
Zusammen sind die Vertreter der Zwei-Staaten-Lösung (blauer Balken) und die Vertreter einer demokratisch-gleichberechtigten Ein-Staaten-Lösung (grüner Balken) deutlich in der Überzahl gegenüber den Vertretern einer Hegemoniallösung. Die Vertreter nicht-hegemonialer Lösungen stellen immer noch die absolute Mehrheit in beiden Bevölkerungsgruppen, und das ist gut! Leider geht der Trend von 2020 bis 2022 hingegen in die völlig falsche Richtung, aber das ist leider zu erwarten bei solchen massiven Konflikten. Ich traue mich fast nicht, zu fragen, wie es wohl seit dem 07.10.2023 und dem darauffolgenden Gaza-Krieg aussehen wird, vermutlich noch mal deutlich schlechter.