Plötzlich reden alle über Migration. Wie und warum funktioniert Agendasetzung?

Ich würde gerne wissen, wie beim Thema Migration das „Agenda Setting“ funktioniert hat.

Vor wenigen Wochen waren noch andere Themen wichtig. Aber gefühlt wie auf Knopfdruck drehen sich seit Kurzem alle politischen Diskussionen nur noch um Migration, Grenzen und Abschiebung.

Wie kommt’s?

Warum ist dieses Thema ausgerechnet jetzt so hochgekocht? Warum haben wir plötzlich keine Wärmepumpen, Elektroautos, Klimakleber oder Gendersternchen mehr, über die man sich aufregen kann? Ich erinnere mich an keinen konkreten Anlass, der Migration scheinbar von einem Tag auf den anderen zum Thema Nummer 1 gemacht hat.

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Mal ein Deutungsversuch.

Zuerst braucht man wohl den Nährboden dafür.
Aufgrund verschiedener Anlässe (Krisen, Klimatransformation, Versäumnisse der Vergangenheit) haben die Menschen eine mehr oder weniger konkrete Angst vor Wohlstandsverlust. Betrifft die Menschen also schon unmittelbar, ist aber so diffus, daß es sich nicht an einer konkreten Ursache festmachen lässt.
Dann kommt der durchaus menschliche Wunsch nach einem Feindbild. Klimakleber funktioniert in diesem Setting nicht, aber Flüchtlinge und „illegale“ Migration bieten eine breite Projektionsfläche.
Dann braucht es die Politik. Idealerweise sagt diese ehrlich „Leute, das liegt nicht an Migranten, die Probleme liegen daran das wir unsere Arbeit die letzten Jahrzehnte nicht gut genug gemacht haben und weil wir alle zu träge geworden sind.“
Macht natürlich keiner, so kriegt man keine Wählerstimmen. Also steigt man auf das Feindbild ein, bringt ein paar Pseudoargumente, und bietet mit etwas Aktionismus angebliche Lösungen an. Bringt ggf Wählerstimmen, wenn es einfach genug verkauft wird.
Parallel braucht es die Medien. Zum einen eine Bildzeitung, die mit markigen Schlagzeilen („das kostet uns ein illegaler Migrant am Tag“) das Thema triggert und Stimmungen schürt, aber auch die sachliche Berichterstattung seriöser Medien („Wenn die Welt/Focus/Stern/Spiegel. das schreibt muss es ein wichtiges Thema sein“).
Das alles geschickt verrührt und mit einem nachvollziehbaren Hintergrund kann ein Thema sehr präsent machen.
Es muss aber für die Masse glaubhaft sein. Das Argument „bauchfreie Tops sind die Wurzel aller Probleme“ würde wohl keine solche Wirkung erzielen.
Ein paar Hochwasser, Stürme und Schneechaos in den nächsten Wochen, schon könnte der Klimawandel wieder Thema sein. Wir Menschen reagieren da sehr anlassbezogen, vermute ich.

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Eines der Probleme dürfte sein, dass „irreguläre“ Migration sich so leicht dämonisieren lässt. Etwaige Tatbestandsausschließungs-, Rechtfertigungs-, oder Entschuldigungsgründe beschäftigen Juristen, aber beim einfachen Bürger bleibt dann doch nur „verbotene“ Migration im Kopf hängen.

Das führt dazu, dass die Dilemmata der Migrationsdebatte gemeinhin nicht gesehen werden (wollen), während die Dilemmata in der Klimadebatte allen Menschen nun halbwegs klar sind. Daher stehen „Verzichten müssen“ oder „sich ändern müssen“, um „das Klima zu retten“ auf der einen Seite gegen „Einfach die Grenzen sichern!“ und „Einfach mehr abschieben!“ auf der anderen Seite. Letzteres lässt sich leicht populistisch ausschlachten, denn es fordert nur von der Politik (vermeintlich einfache, in der Realität aber nahezu unmögliche) Handlungen, während der Bundesbürger von den negativen Konsequenzen scheinbar verschont bleibt (was bei genauerem Hinsehen auch falsch sein dürfte).

Das Thema bietet sich daher für Populisten einfach an. Gerade beim Thema Migration kann man auch sehr schön sehen, wie alle Medien gezwungen werden, dieses Thema zu bedienen, es aber dann doch sehr unterschiedlich machen. Während Bild, Welt und co. natürlich die Migration grundsätzlich dämonisieren, versuchen Zeit, SZ und co. zumindest teilweise, es differenzierter anzugehen. Aber alleine durch die Berichterstattung kommt dem Thema mehr Bedeutung zu, als es eigentlich hat. Aber nicht darüber zu berichten kann sich kein Medium leisten.

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Ja schön.

Aber was ist der Anlass für den großen Themawechsel der Gesellschaft? Was genau ist jetzt neues passiert? Die Fakten der Migration sind doch unverändert.

Ich kann mich an keinen konkreten Skandal, kein konkretes Ereignis, keine konkrete Ursache erinnern, welche vor ein paar Wochen das Thema Migration relevanter gemacht hätte als in den Monaten und Jahren davor.

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Naja, wenn der Chef der größten Oppositionsfraktion im Bundestag immer wieder mit fragwürdigen Zitaten („kleine Paschas“, „Zahnarzt“) in der Presse auftaucht und die beiden größten Oppositionsfraktionen das Thema zum zentralen Wahlkampfthema machen, ist es schon verständlich, dass die Medien das Thema nicht ignorieren können.

Dazu kommen die Wahlerfolge der AfD in Deutschland (z.B. in Bayern, aber vor allem in Hessen) und anderer migrationskritischer Parteien in vielen anderen europäischen Ländern…

Agendasetzung ist letztlich eine zentrale Aufgabe der Opposition - und es ist eine Aufgabe der Medien, der Opposition eine Bühne zu geben. Das Problem liegt daher eher in der Merz-CDU und der AfD als in den Medien…

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In Deutschland ist der Rassismus gegenüber dunkelhäutigen Menschen laut Umfrage in Europa am stärksten.

[Umfrage in EU-Staaten: Problem des Rassismus in Deutschland am größten | tagesschau.de](https://www.tag

Der Überbietungswettbewerb von Politker:innen fast aller Parteien, wer wahltechnisch am effektivsten gegen Migranten und Migrantinnen wettert, um davon abzulenken, dass die echten Probleme der Kommunen und der Menschen eben nicht gelöst werden, fällt leider auf fruchtbaren Boden.

Und arme Menschen werden gegen noch ärmere ausgespielt.

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Das kommt im Grunde ja noch dazu. Es wird eine Menge Zeit und Energie verschenkt

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Kurz: Weil die CDU unter Merz das so will. Nach 16 Jahren CDU-Regierung ist irgendwie offensichtlich, dass das ziemlich viel Stillstand produziert hat, und inhaltlich hat es die Union einfach schwer, glaubhaft die derzeitige Regierung zu kritisieren, denn die allermeisten Probleme sind von der Union gemacht.

Deswegen sind Merz und sein Lager auf die grandiose Idee gekommen, von den Republikanern in den USA zu lernen und voll auf „Kulturkampf“ zu setzen. Das hat anfänglich aber nicht so richtig gezündet, denn die Leute waren komischerweise irgendwie nicht bereit, „Gender-Gaga“, „Transideologie“ und Abtreibungen als Bedrohungen ihrer Lebensumstände zu betrachten, und auch nach „Habecks Heizungshammer“ ist nirgendwo das SEK eingebrochen um Heizungen aus den Kellern zu reißen.

Und irgendwann ist Merz dann eben auf das Thema „die Ausländer sind an allem schuld“ gekommen, und das zieht bedauerlicherweise immer noch, wenn der Chef der größten Partei es oft genug wiederholt und dabei von reichweitenstarken Medien profitiert, die das unkritisch bis wohlwollend unterstützend ausbreiten.

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Ich finde es etwas billig, allein Merz oder der CDU die Schuld dafür zu geben. Es gibt auch reihenweise Politiker:innen der SPD und sogar der Grünen, die in der Flüchtlingsabwehr inzwischen politische Forderungen vertreten, die vor ein paar Jahren nur von der AfD und der NPD kamen.
Anfang der 1990er Jahre gab es eine ähnliche Dynamik schon einmal (siehe hier). Damals war der Kontext der Frust darüber, dass das nationale Heilsverprechen der „Einheit“ allein eben nicht satt und glücklich macht und es gab ein faktisches Bündnis zwischen einem rechtsextermen Mob, der Flüchtlingen nach dem Leben trachtete, Medien, die dafür Verständnis äußerten und politische „Lösungen“ forderten und einer Politik, die darauf reagierte, indem sie das Grundrecht auf Asyl in der Verfassung verstümmelte. Auf (auch? Anmerkung Mod.) das ging erst mal von Rechtsradikalen aus, dann übernahm die Union und irgendwann schwenkte auf die SPD mehrheitlich auf den Kurs ein. Das hat natürlich nicht dazu beigetragen, dass die grundsätzlich „migrationskritische“ Perspektive in Deutschland sich grundlegend gewandelt hätte - auch weil diese „Baseballschlägerjahre“ in ihrer generationenprägenden Dimension niemals wirklich aufgearbeitet wurden. Auch später wurde nach rassistischen Großverbrechen wie denen des sogenannten NSU oder dem Massaker in Hanau nur sehr unzureichend gefragt, was dass denn über die bösen „Nazis“ hinaus mit dem Rest der Gesellschaft zu tun hat und vor allem: wie es immer wieder zu so etwas kommen kann. Kurzum: Erschreckend ist es schon, dass eine solche Dynamik sich wieder so krass entfaltet - aber überraschend ist es nicht.

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Ich hab ja nicht behauptet, dass sich die Regierungsparteien da jetzt verzweifelt gegen stemmen. Stattdessen ergeben sie sich rückgratlos der „Dynamik“, wie du ganz richtig sagst, und glauben zum Teil sogar, sie könnten damit selber noch Punkte sammeln. So weit, so schlecht.

Nichtsdestotrotz verbinde ich den Beginn der jetzigen Kampagne um das Thema Migration als „größtes Problem Deutschlands“ mit Friedrich Merz und ganz konkret mit einem Interview am 7. September auf RTL, wo es eigentlich um etwas ganz anderes ging, und man ganz genau gemerkt hat: Friedrich Merz ist in dieses Interview gegangen mit dem Vorsatz dieses Thema zu setzen, und hat das deswegen in 3½ Minuten ganze dreimal wiederholt.

https://twitter.com/stephanpalagan/status/1699811272626241878

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Das Fundament, auf dem das Agenda-Setting funktioniert, sind die vielen Bereiche, die die Politik vernachlässigt hat, z. B.

  • Wohnungsbau
  • Unterfinanzierung von Schulen / Bildung
  • Unterfinanzierung des Gesundheitssystems für gesetzlich Versicherte
  • Politikblockade im Föderalismus
  • Digitalisierung
  • Bürgerfreundlicher Staat („Bürokratie“)
  • Verteilungsgerechtigkeit
  • u. v. m.

Ohne diese Vernachlässigung / dieses Scheitern gäb es gar keine argumentative Basis für eine angebliche „Überforderung durch Migration“. Die Überforderung kommt nicht durch die Migration. Sie kommt vom Scheitern oder der Ignoranz von Politik.

Leider bläst man mit diesem Argument den Rechtspopulisten mit deren „die da oben Argument“ ordentlich Wind in die Segel. Bedauerlicherweise ändert das aber nichts an den Tatsachen …

In dieser Kolumne beschreibt der Lehrer Bob Blume sehr gut, wie populistische Strategien funktionieren. Am Beispiel von Merz’ Aussage, Schulen seien durch zu viele nicht deutschsprachige Schüler:innen überfordert:
https://deutsches-schulportal.de/kolumnen/merz-migration-populistische-schulpolitik-eine-anleitung-in-6-schritten/?fbclid=PAAaZhepcW7LlkGQGxZDT_tImFrHU4_JE1ZqqTPSwPchjnLDzgeROcokfIcSc

prägnant und treffend beschrieben (wenn auch mit etwas umständlichem Satzbau für einen Lehrer). :wink: