Parteilose Kandidierende für die Bundestagswahl

Liebes Lage-Team,
für die Bundestagswahl gibt es immer wieder Kandidierende, die ohne Partei für ein Direktmandat antreten. Geschafft hat das seit 1949 allerdings niemand mehr. Ich denke, dass es trotzdem viele Vorteile hätte (direktere Demokratie, Verkleinerung des Bundestages, Einbindung der Menschen aus den Wahlkreisen, Abbau von Politikverdrossenheit etc.) und außerdem Lücken füllt, die von Parteien oft nicht gefüllt werden können/wollen (richtig unabhängige Vertretung, keinen Druck bei Abstimmungen, schnellere und unbürokratische Aufnahme von Themen etc.).
Wäre es nicht auch für die Lage interessant, dieses Thema mal zu behandeln?
Ich gebe zu, dass es nicht von ungefähr kommt, dass ich dieses Thema vorschlage, da ich nämlich selbst als parteiloser Kandidat im Wahlkreis München-Ost kandidiere, es gibt aber auch noch einige andere Bewerbende in anderen Kreisen.

Quellen zur Recherche: https://www.bundeswahlleiter.de/dam/jcr/2596ba8d-34e4-4c9b-a731-a27f8fb0618f/bundeswahlgesetz.pdf hier § 1 und § 6 Absatz 1

Vielen Dank und viele Grüße
Simon

Naja, das Problem ist hier das allgemeine politische System.

Selbst wenn es parteilose Abgeordnete gäbe, wäre die Situation nach der Wahl doch wie folgt:

Entweder es findet sich eine Regierung ohne die Parteilosen (dann sind die Parteilosen Opposition und ihre Meinung hat ohnehin keinen Einfluss…) oder sie sind das Zünglein an der Waage, um eine Regierung zu bilden (dann arbeiten sie mit den Regierungsfraktionen zusammen und werden sich wegen der absoluten Junior-Partner-Rolle in nahezu allen Punkten unterordnen müssen).

So lange in der deutschen Politik dieses unsägliche „Die Regierung stimmt aus Prinzip gegen alle Vorschläge der Opposition“-Prinzip greift, ist es vollkommen nebensächlich, ob es parteilose Abgeordnete in den Bundestag schaffen. Die Medien haben schon damit zu kämpfen, die Meinung aller Parteien bei strittigen Themen annähernd ausführlich darzustellen, eine Berichterstattung über eine Handvoll Parteiloser Abgeordneter ist zeitlich (im TV/Radio) oder platztechnisch (in Printmedien) kaum sinnvoll möglich. Und so würden die Parteilosen im Bundestag schlicht neben den Parteien verblassen.

Das große Problem ist meiner Meinung nach diese Polarisierung von Regierung und Opposition im Bundestag. Klar, es ist der Job der Opposition, die Regierung zu kontrollieren und zu kritisieren. Aber es ist nicht die Pflicht der Regierungskoalition, die Opposition klein zu halten, in dem man aus Prinzip alles ablehnt, was die Opposition vorschlägt. Das ist reiner Wahlkampf nach dem Motto: „Wenn ein Oppositionsvorschlag angenommen wird ist das ein politischer Erfolg der Opposition und das müssen wir als Regierung verhindern!“. Und diese problematische Denkweise führt dann zu Situationen wie jener der NATO-Helfer in Afghanistan, die genau deshalb nicht rechtzeitig evakuiert wurden. Weil die Opposition das wollte und die Regierung meinte, sie müsse nun aus Prinzip dagegen sein…

Eine gute Regierung ist meiner Meinung nach eine Regierung, die auch der Opposition zuhört und der kein Zacken aus der Krone fällt, wenn sie mal zugeben muss, dass ein Vorschlag der Opposition tatsächlich konstruktiv ist.

An diesem Problem, der Polarisierung zwischen Opposition und Regierung, würden parteilose Abgeordnete nichts ändern, denn auch die würden zu einem der beiden Lager gehören. Das Problem sind daher weniger die Parteien, sondern mehr die „Machtblöcke“ Regierung und Opposition.

Und generell bin ich dagegen, den Anteil des Mehrheitswahlrechts im deutschen Wahlsystem (dh. die Erststimme) in irgend einer Form zu stärken. Daher hoffe ich auch, dass das BVerfG die Wahlrechtsreform kippt. Fakt ist, dass Mehrheitswahlrecht immer zu einem Zwei-Parteien-System führt (siehe USA als abschreckendes Beispiel) und für mich persönlich steht bei der Bewertung der Qualität einer Demokratie das Zwei-Parteien-System nur einen kleinen Schritt über einem Ein-Parteien-System. Damit sich in einem Mehrheitswahlrechtsystem ein dritter Kandidat - egal ob Parteilos oder von einer kleinen Partei - durchsetzen kann, müssen die beiden „großen“ Parteien schon monumental versagen - oder die Kandidaten der kleinen Parteien bzw. die Parteilosen sind einfach massiv hervorstechende Persönlichkeiten (wie damals Ströbele). Ein Mehrheitswahlsystem ist immer ein extremer, kaum zu überwindender Vorteil für die „Volksparteien“. Hätten wir von Anfang an in Deutschland nicht das Verhältniswahlrecht als Korrektiv zum Mehrheitswahlrecht gäbe es heute mit ziemlicher Sicherheit in Deutschland wie in den USA nur zwei relevante Parteien…

TL;DR:
Selbst wenn es möglich wäre, im Rahmen des Mehrheitswahlrechtes den Nachteil parteiloser Kandidaten auszugleichen, würde ein Einzug dieser Kandidaten in den Bundestag nichts an den problematischen Systemen ändern.