Liebes Lage-Team,
Euren Beitrag „Darum ist die AfD im Osten so stark“ in der LdN 388 hab ich mit großen Interesse verfolgt und mich gefreut, dass ihr angefangen habt, die ostdeutsche Politik und Ost-West-Spaltung aufzurollen. Ich bin aber der Auffassung, dass dieses Thema einer umfassenderen Auseinandersetzung sowie zusätzlicher Perspektiven bedarf, um es reflektiert darzustellen.
Es hat mich sehr gefreut, dass ihr die Erklärungsansätze Statusangst und fehlende Repräsentation beleuchtet habt und somit schon ein differenzierteres Bild gezeichnet habt als es in deutschen Diskurs häufig der Fall ist. Aber ebenso denke ich, dass noch einiges über den Osten und seine Wahrnehmung gesagt werden kann.
Deshalb habe ich im Folgenden einige Ansätze gesammelt, die die ostdeutsche Politik hoffentlich etwas weiter erklären. Es sind auch Punkte, die ich seit längerem in meinem Ärger über die Sicht auf Ostdeutschland im gesamtdeutschen Diskurs gesammelt habe und Dinge, die mich als junge Ostdeutsche wütend und traurig machen.
Geschichtsverständnis der DDR und Nachwende-Ostdeutschlands
In der ersten von euch erwähnten Studie werden populistische und nativistische Tendenzen im Osten durch fehlende positive Erfahrungen mit Immigrant*innen in der DDR erklärt (Pesthy et al., 2021). Ich möchte nicht bestreiten, dass diese Gedankengut hier stark ist. Aber ich finde auch, dass diese Begründung die DDR- und Wiedervereinigungsgeschichte stark vereinfacht.
Als Beispiel aus der DDR-Geschichte schreibt Katja Hoyer über das Gastarbeiter*innenprogramm der DDR, dass es nicht lediglich zum Ausgleich des Arbeitskräftemangels diente, sondern ein Ausdruck des Ideals der sozialistischen Völkerfreundschaft war (2023, Diesseits der Mauer, S. 300-306). Obwohl hierdurch deutlich weniger Menschen in die DDR kamen als gleichzeitig in die alte BRD, war das Programm auch ein Teil der Hilfen, die die DDR fortlaufend in sozialistische Länder des globalen Südens, wie Mosambik, Kuba oder Vietnam, schickte. Den alleinigen Schluss zu ziehen, dass die DDR-Ideologie und die niedrige Zahl von Eingewanderten in der DDR allein die populistischen und nativistischen Tendenzen Ostdeutscher erklärt, vereinfacht die DDR-Geschichte also deutlich.
Ähnliche Vereinfachungen gibt es in so gut wie jedem Bereich der ostdeutschen Geschichte – ob im Geschichtsunterricht die DDR fortlaufend mit dem NS-Regime verglichen wird oder die Frauenrolle in der DDR allein dem Arbeitskräftemangel zugeschrieben wird. Ich wünsche mir sehr, dass die DDR endlich so differenziert betrachtet werden darf, wie die alt-BRD. Dort waren in den 1960er Jahren noch Altnazis in der Regierung. Aber natürlich bedeutet das nicht, dass die gesamte Altrepublik dadurch demokratieunfähig war, wie es den Ostdeutschen manchmal bescheinigt wird (zum Beispiel durch Armin Laschet 2016 oder den Ostbeauftragten (!!!) Marco Wanderwitz 2021). Obwohl zugespitzte, macht der Vergleich deutlich, wie unterschiedlich die Geschichte beider deutscher Staaten aufgearbeitet wird.
Neben der unvollständigen Aufarbeitung, führt diese Herangehensweise aber vor allem dazu, dass sich Ostdeutsche weiter unverstanden oder sogar verärgert fühlen. Sogar ohne jegliche DDR-Sozialisierung macht sich dieser Ärger bei mir breit. Schließlich wird hier die Lebensrealität meiner gesamten Familie ignoriert.
Es wäre geschichtlich und politisch unlogisch anzunehmen, dass seit 30 Jahren Wende nichts passiert ist. Bedeutet das, dass die DDR-Sozialisierung seit 30 Jahren unverändert das politische Verhalten prägt und auch so an die nächsten Generationen weitergegeben wird? Mehrere Studien bestätigen, dass sich die Ost-West-Mentalitäten im Laufe der Zeit angleichen und gegenseitig beeinflussen. Zum Beispiel finden Schönberg und Boelmann (2020), dass ostdeutsche Frauen liberalere und egalitärere Einstellungen zum Arbeitsmarkt haben als ihre westdeutschen Mitbürgerinnen. Westdeutsche Frauen im Osten nähern sich an dieses Normsystem an und legen es auch nach der Rückkehr in den Westen nicht ab.
Katja Hoyer bezeichnet die Wiedervereinigung als einen andauernden Prozess, der auch 2024 nicht abgeschlossen ist. Diese Sichtweise ist auch essenziell, um wirklich zu verstehen, wieso Ost- und Westdeutsche nicht gleich Politik machen. Vor allem würde sie auch dabei helfen, die ostdeutsche Entrüstung etwas zu dämpfen, die die Anti-Haltung des Populismus befeuert.
(weiter Gedanken im nächsten Beitrag)