Ostdeutsche Politik und Ost-West-Spaltung - LAGE SPEZIAL BITTE!

Liebes Lage-Team,

Euren Beitrag „Darum ist die AfD im Osten so stark“ in der LdN 388 hab ich mit großen Interesse verfolgt und mich gefreut, dass ihr angefangen habt, die ostdeutsche Politik und Ost-West-Spaltung aufzurollen. Ich bin aber der Auffassung, dass dieses Thema einer umfassenderen Auseinandersetzung sowie zusätzlicher Perspektiven bedarf, um es reflektiert darzustellen.

Es hat mich sehr gefreut, dass ihr die Erklärungsansätze Statusangst und fehlende Repräsentation beleuchtet habt und somit schon ein differenzierteres Bild gezeichnet habt als es in deutschen Diskurs häufig der Fall ist. Aber ebenso denke ich, dass noch einiges über den Osten und seine Wahrnehmung gesagt werden kann.
Deshalb habe ich im Folgenden einige Ansätze gesammelt, die die ostdeutsche Politik hoffentlich etwas weiter erklären. Es sind auch Punkte, die ich seit längerem in meinem Ärger über die Sicht auf Ostdeutschland im gesamtdeutschen Diskurs gesammelt habe und Dinge, die mich als junge Ostdeutsche wütend und traurig machen.

Geschichtsverständnis der DDR und Nachwende-Ostdeutschlands
In der ersten von euch erwähnten Studie werden populistische und nativistische Tendenzen im Osten durch fehlende positive Erfahrungen mit Immigrant*innen in der DDR erklärt (Pesthy et al., 2021). Ich möchte nicht bestreiten, dass diese Gedankengut hier stark ist. Aber ich finde auch, dass diese Begründung die DDR- und Wiedervereinigungsgeschichte stark vereinfacht.

Als Beispiel aus der DDR-Geschichte schreibt Katja Hoyer über das Gastarbeiter*innenprogramm der DDR, dass es nicht lediglich zum Ausgleich des Arbeitskräftemangels diente, sondern ein Ausdruck des Ideals der sozialistischen Völkerfreundschaft war (2023, Diesseits der Mauer, S. 300-306). Obwohl hierdurch deutlich weniger Menschen in die DDR kamen als gleichzeitig in die alte BRD, war das Programm auch ein Teil der Hilfen, die die DDR fortlaufend in sozialistische Länder des globalen Südens, wie Mosambik, Kuba oder Vietnam, schickte. Den alleinigen Schluss zu ziehen, dass die DDR-Ideologie und die niedrige Zahl von Eingewanderten in der DDR allein die populistischen und nativistischen Tendenzen Ostdeutscher erklärt, vereinfacht die DDR-Geschichte also deutlich.

Ähnliche Vereinfachungen gibt es in so gut wie jedem Bereich der ostdeutschen Geschichte – ob im Geschichtsunterricht die DDR fortlaufend mit dem NS-Regime verglichen wird oder die Frauenrolle in der DDR allein dem Arbeitskräftemangel zugeschrieben wird. Ich wünsche mir sehr, dass die DDR endlich so differenziert betrachtet werden darf, wie die alt-BRD. Dort waren in den 1960er Jahren noch Altnazis in der Regierung. Aber natürlich bedeutet das nicht, dass die gesamte Altrepublik dadurch demokratieunfähig war, wie es den Ostdeutschen manchmal bescheinigt wird (zum Beispiel durch Armin Laschet 2016 oder den Ostbeauftragten (!!!) Marco Wanderwitz 2021). Obwohl zugespitzte, macht der Vergleich deutlich, wie unterschiedlich die Geschichte beider deutscher Staaten aufgearbeitet wird.
Neben der unvollständigen Aufarbeitung, führt diese Herangehensweise aber vor allem dazu, dass sich Ostdeutsche weiter unverstanden oder sogar verärgert fühlen. Sogar ohne jegliche DDR-Sozialisierung macht sich dieser Ärger bei mir breit. Schließlich wird hier die Lebensrealität meiner gesamten Familie ignoriert.
Es wäre geschichtlich und politisch unlogisch anzunehmen, dass seit 30 Jahren Wende nichts passiert ist. Bedeutet das, dass die DDR-Sozialisierung seit 30 Jahren unverändert das politische Verhalten prägt und auch so an die nächsten Generationen weitergegeben wird? Mehrere Studien bestätigen, dass sich die Ost-West-Mentalitäten im Laufe der Zeit angleichen und gegenseitig beeinflussen. Zum Beispiel finden Schönberg und Boelmann (2020), dass ostdeutsche Frauen liberalere und egalitärere Einstellungen zum Arbeitsmarkt haben als ihre westdeutschen Mitbürgerinnen. Westdeutsche Frauen im Osten nähern sich an dieses Normsystem an und legen es auch nach der Rückkehr in den Westen nicht ab.

Katja Hoyer bezeichnet die Wiedervereinigung als einen andauernden Prozess, der auch 2024 nicht abgeschlossen ist. Diese Sichtweise ist auch essenziell, um wirklich zu verstehen, wieso Ost- und Westdeutsche nicht gleich Politik machen. Vor allem würde sie auch dabei helfen, die ostdeutsche Entrüstung etwas zu dämpfen, die die Anti-Haltung des Populismus befeuert.

(weiter Gedanken im nächsten Beitrag)

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Ich meine, dass auch in der DDR Alt-Nazis verbreitet waren… (?)

Bin gespannt.

„Mehrere Studien bestätigen, dass sich die Ost-West-Mentalitäten im Laufe der Zeit angleichen und gegenseitig beeinflussen.“

Der in Ostdeutschland aufgewachsene Sozialwissenschaftler Steffen Mau ist da eher gegenteiliger Ansicht:

Zu den DDR-Vertragsarbeitern:

„Die Arbeitsmigrantinnen lebten meist auf sehr engem Raum in gesonderten Wohnheimen und waren somit von dem Rest der Gesellschaft abgegrenzt. Die DDR-Regierung wollte den Kontakt zwischen den eigenen Bürger innen und den Arbeitsmigrant*innen verhindern und hielten somit jede Information über sie zurück. Die Aufenthalte der „Vertragsarbeiter“ wurde strikt auf eine Zeit von zwei bis fünf Jahren beschränkt, der Nachzug von Familienangehörigen war generell verboten. Bis 1988 drohten Frauen bei Schwangerschaften eine direkte Abschiebung. Die einzige Alternative zur Abschiebung war eine Abtreibung. Bei fortgeschrittener Schwangerschaft wurden die Frauen aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit zur Abschiebung verpflichtet. Der Staat ergänzte den Grundsatz „DDR-Bürger und Ausländer genießen die gleichen Rechte“ mit einer Verordnung, die besagte, dass Genehmigungen ohne Begründung entzogen, begrenzt und genehmigt werden können. Eine gleichberechtigte Stellung in der Gesellschaft war somit für viele der ausländischen Arbeitskräfte nicht möglich. Rassismus war so auch in dem sozialistischen Staat ein großes Thema im Alltag.“

„In der ersten von euch erwähnten Studie werden populistische und nativistische Tendenzen im Osten durch fehlende positive Erfahrungen mit Immigrant*innen in der DDR erklärt (Pesthy et al., 2021). Ich möchte nicht bestreiten, dass diese Gedankengut hier stark ist. Aber ich finde auch, dass diese Begründung die DDR- und Wiedervereinigungsgeschichte stark vereinfacht.“

Was wäre denn eine deiner Meinung nach angemessen komplexe Auseinandersetzung?

Auch der aus Ostdeutschland stammende Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk würde dir wohl widersprechen:

Von ‚Spaltung‘ zwischen Ost- und Westdeutschen zu reden finde ich schwierig, wenn gleichzeitig die Spalterei von Rechtsextremen und Fremdenfeinden gegenüber Menschen mit Migrationsgeschichte und anderen Minderheiten ausgeklammert wird.

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(weiter Gedanken)
Poltikverständnis im Osten
Der Diskurs über die derzeitige Politik im Osten dreht sich fast ausschließlich um die Wählenden. Eure Analyse der starken AfD in den ostdeutschen Ländern dreht sich um die Wählenden. Sprich, wieso ticken die da drüben anders? - also Fremdperspektive, die ihr selbst angesprochen hattet. Das ist wieder dei Andersbehandlung zum Rest Deutschlands, beziehungsweise anderer europäischer Länder. Für die Bundespolitik erkennt ihr diese Problematik zielgenau und attestiert der CDU mit Friedrich Merz oder der SPD mit Olaf Scholz ein Personalproblem.

Denn logischerweise geht es auf dem politischen Markt neben der Nachfrage auch immer um das Angebot. Das heißt, der populistische Erfolg hängt genauso vom Parteienangebot, wie von der Wählendennachfrage ab (zum Beispiel behandelt in Kessel (2011), Explaining the Electoral Performance of Populist Parties: The Netherlands as a Case Study). Die AfD hat das längst verstanden und definiert ihre politischen Themen passend zu den von euch angesprochenen Einstellungen der ostdeutschen Wählerschaft. Soziologe Klaus Dürre (Dörre? Anm. Mod.) sieht zum Beispiel, wie die AfD die steigende soziale Spaltung und Prekarität als Konflikt zwischen Innen und Außen neudefiniert. Das ist im Osten, der seit 1990 ein stetig höheres Armutsrisiko hat, einen Bruchteil des Durchschnittserbes des Westens erbt und, dem zu großen Teilen nicht einmal der eigene Grund gehört, besonders erfolgreich. Auf ähnliche Weise beschreibt Larry Bartels, wie Populismus nicht durch Volksmeinung, sondern Elitendiskurs gewinnt (2023, Democracy Erodes from the Top), wie zum Beispiel die Republikanische Partei der USA, die den Auswahlprozess der Präsidentschaftskandidat*innen demokratisierte und damit Donald Trump den Weg ebnete.

In Ostdeutschland entscheiden ebenso politische Eliten einen Großteil der Salonfähigkeit von Populismus. Im Diskurs über den Osten geht es stattdessen um demokratiefeindliche/-scheue/-ungelernte Wählerinnen. Aber Sachsen hat mit Michael Kretschmer ebenso ein Personalproblem - mit dem ersten sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf sogar ein historisches Personalproblem. Letzerer hat seit 1990 das Problem des sächsischen Rechtsextremismus ignoriert und verharmlost, am berühmtesten mit dem Spruch, die Sachsen hätten „sich als völlig immun erwiesen gegenüber rechtsradikalen Versuchungen” (Kurt Biedenkopf, Sächsische Zeitung, 2000). Auch danach sind Spitzenpolitikerinnen wenig auf das Problem eingegangen. Der damalige Ministerpräsident Stanislaw Tillich gab selbst 2016 zu, das Rechtsextremismus-Problem unterschätzt zu haben.

Michael Kretschmer befeuert das historische Problem als derzeitiger Ministerpräsident erheblich. Er betont seit Jahren die Notwendigkeit zum Dialog mit allen und verharmlost also weiter die gesellschaftliche Spaltung. Außerdem kritisiert er zuverlässig die Ampelpolitik. Vor allem bei den Themen Kohle/Klimaschutz, Einwanderung und Russland übt er regelmäßig schärfste Kritik an der Bundesregierung und bedient sich immer mehr der AfD-Rhetorik. Zweifelslos möchte er damit die AfD-Wählerschaft wieder für eine demokratische Partei gewinnen. Aber, wie ihr auch schon in der Lage festgestellt habt, hilft das am meisten der AfD, deren Themen dann im Mainstream ankommen und die einfachsten Lösungen versprechen.

Als Ostdeutsche wünsche ich mir eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit allen Seiten des Politikmarktes, wie es für andere Politikeinheiten Normalität ist. Die derzeitige Fixierung auf populistische und antidemokratische Wählende hat für mich den üblen Beigeschmack der Fremdbetrachtung.

(Fremd-)Identifizierung
Genau diese Fremdbetrachtung befeuert das derzeitige Populismusproblem und die gefühlte Spaltung im Land. Das habe ich selbst während meines Bachelorstudiums in England durchlebt. Dabei habe ich mich als Präsidentin der German Society engagiert und habe in den drei Jahren meines Studiums trotz intensivem Kontakt mit der deutschen Studierendenschaft nicht einen Ostdeutschen getroffen. Als Dresdnerin wurde ich dagegen prompt nach AfD, Pegida oder Rechtsextremismus und deren Vorherrschaft in Sachsen gefragt.

Seitdem habe ich gelernt, dass ich als Ostdeutsche, vor allem als Dresdnerin, nicht stolz auf Heimat sein darf, ohne schief angeschaut zu werden. Als Gegenreaktion kultiviere jetzt vielmehr meine ostdeutsche Herkunft mit Ostalgie, wie sie dem Osten seit 1990 bescheinigt wird. Aber ich sehe sie als eine Gegenreaktion auf die negativen Assoziationen zu meiner Heimat. Das entschuldigt nicht die Unterstützung rechtsextremer Parteien. Aber ich merke an mir, was für eine tiefe Wunde die Fremdidentifizierung i hinterlässt und ahne was für ein reicher Nährboden für das Wir-gegen-Sie-Denken des Populismus diese Enttäuschung sein kann. Dirk Oschmann hat mit “Der Osten: eine Erfindung des Westens” (2023) ein gesamtes Buch über diese Indignation und ihre Gründe geschrieben.

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Zumindest für meine Lehrer kann ich hier ein klares Veto einlegen. Ich war zur Wendezeit im Begriff die Grundschule zu verlassen und war zur Nachwendezeit im Gymnasium.
In der Grundschule lernte ich bereits, dass es ein zweites Deutschland gibt, das sich dem Sozialismus zugewendet hat - und natürlich, dass dieses zweite Deutschland deshalb wirtschaftlich schlecht dasteht (Klassenfeind).
Keiner wäre auf die Idee gekommen, Sozialismus mit Nationalsozialismus gleich zu setzen - vor allem, nachdem die Nazis Kommunisten ins KZ gesteckt hatten.
Im Gymnasium wurde dann auch die großartige Emanzipation in der DDR hervorgehoben - eine Geschichte, die für mich im Laufe der Zeit Risse bekam.

Zu Michael Kretzschmar möchte ich noch sagen, dass ich vieles nicht gut finde, was er tut. Aber er ist definitiv jemand, der nicht spaltet, sondern zusammenhält. Ohne ihn sähe es in Sachsen wohl wesentlich schlimmer aus.

Einen ganz interessanter Blickwinkel bietet noch der Essay von Johannes Schneider:

Die Frage, die du ausklammerst, ist doch, warum fremdenfeindliche Erzählungen, ob nun von so genannten Eliten gestreut oder nicht, in Ostdeutschland auf so viel fruchbareren Boden fallen.

„Das entschuldigt nicht die Unterstützung rechtsextremer Parteien.“

Genauso ist es. Wenn wir vom mündigen Bürger ausgehen, verantwortet jeder sein Wahlverhalten. Und das ist nun einmal so, wie es ist.

„Seitdem habe ich gelernt, dass ich als Ostdeutsche, vor allem als Dresdnerin, nicht stolz auf Heimat sein darf, ohne schief angeschaut zu werden.“

Warum sollte man überhaupt „stolz“ auf die Zufälligkeit einer bestimmten Heimat sein? Du als internationale Akademikerin solltest da doch eigentlich drüberstehen.

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(letzte Gedanken9)

Medienmacht
Diese Fremdidentifizierung kommt natürlich zu Teilen durch die deutschen Medienlandschaft. Es hat mich sehr gefreut, dass ihr selbst angesprochen hattet, dass ihr die fehlende ostdeutsche Repräsentation und eure West-Sichtweise angesprochen hattet. Allerdings denke ich, dass wir uns mehr bewusst werden müssen, wie krass dieses Ungleichgewicht ist. Weiterhin gibt es nicht nur keine Medien in oder aus Ostdeutschland mit gesamtdeutscher Bedeutung oder ostdeutsche Journalist*innen, Ostdeutsche dürfen nicht einmal ostdeutsche Institutionen selbst besetzen. Das ist in der Politik, Justiz, an Hochschulen und den Medien so.

Der westdeutsche Fokus ist so stark, dass selbst ostdeutsche Eliten Selbstzensur betreiben, zum Beispiel Angela Merkel, die erst am Ende ihrer politischen Karriere vorsichtig andeutete, wie sie ihre Herkunft herunterspielen und leugnen musste, um als Politikerin akzeptiert zu werden. Dass ihre Auswahl “Du hast den Farbfilm” vergessen von deutschen und internationalen Medien belächelt wurden, zeigt auch auf der informellen politischen Ebene, wie tief der Westfokus in unserem deutschen Selbstverständnis verankert ist. Die teilweise unangenehm persönlichen Debatten um Katja Hoyer und Dirk Oschmanns Bücher, zeigen weiter, wie selbstverständlich die Selbstzensur für viele scheint und wie schockierend es für westdeutsche Beobachter scheint, wenn nicht aus der westdeutschen Perspektive agiert wird.

Medien haben hier natürlich ein großes Potenzial, den westdeutschen Standard zu verändern. Selbst, wenn ein Elitenwechsel nicht über Nacht erfolgen kann, können Journalist*innen die Fremdperspektive aktiv ablegen und ostdeutsche Sichtweisen suchen.

Deshalb würde ich mir sehr wünschen, dass ihr die Ost-West-Problematik noch einmal gründlich in mindestens einem Lage-Spezial aufgreift und aktiv ostdeutsche Sichtweisen einbindet. Auch nach den Landtagswahlen ist das Thema natürlich hochaktuell und mit den Wahlergebnissen wird es uns nicht so schnell loslassen. Vor allem eure Lage-Spezials eignen sich da gut für eine längere Beleuchtung.

Ich weiß, der Beitrag ist sehr lang greaten. Vielen Dank an alle, die bis hier gelesen haben!

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Sicher? Ich meine, dass es viele gibt (aber vielleicht nicht genug).

Dürfen sie nicht oder wollen sie nicht?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass der MDR bei gleicher Eignung Wessis bevorzugt, sondern ein direktes Interesse hat, Bürger aus der Region einzustellen.
Parteien legen ihre Listen selbst fest. Wenn dann Ministerpräsidenten im Osten westlichen Migrationshintergrund haben, wurden die wissentlich von den Leuten vor Ort dort hingewählt. Es sind nicht wir schuld, wenn in Thüringen die Parteichefs Ramelow, Kemmerich, Höcke heißen.
Wenn der Osten 15% der Bevölkerung ausmacht, aber der Anteil der Parteimitglieder bei 9% liegt (ehemalige Wessis da mit eingeschlossen), dann haben wir natürlich ein Repräsentationsproblem. Wer sich aber nicht demokratisch einbringt, kann nicht erwarten, dass er demokratisch wahr genommen wird.
Dass der Westen nach der Wiedervereinigung versäumt hat, den Osten im Bundestag entsprechend abzubilden, kann man argumentieren. Aber auch hier gilt, dass das natürlich schwerer ist, wenn die Auswahl gar nicht erst gegeben ist.

Was verstehst du unter „ostdeutsche[n] Sichtweisen“? Die sind doch so vielfältig und unterschiedlich wie vermeintlich ‚westdeutsche Perspektiven‘.

Oder geht es dir nur um bestimmte Meinungen?

Was hälst du z. B. von der ostdeutschen Sicht von Ines Geipel?

Genehm und legitim?

Und wer gilt für dich als ‚ostdeutsch‘?

"Ostdeutsch sein ist Definitionssache. Wie hoch der Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung ausfällt, hängt davon ab, ob man Wohnort, Geburtsort, Sozialisation oder Zugehörigkeitsgefühl zugrunde legt. […]

  • Der Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung liegt zwischen 16,7 und 26,1 Prozent - je nach Definition."

Wenn wir den höheren Anteil an der Gesamtbevölkerung nehmen, sind immer noch knappe drei Viertel irgendwie ‚westdeutsch‘.

Dass sich dieses Ungleichgewicht auch niederschlägt, sollte nicht verwundern.

Da du Katja Hoyer als Referenz nanntest, ist mir noch aufgefallen, dass sie durchaus xenophobieverharmlosend auftritt. Das war neulich bei „hart aber fair“ zu sehen und zeigte sich auch bei einer Diskussion der Körber-Stiftung, in der Hoyer als Teil des ostdeutschen Verdrusses ausmachte, dass die CDU unter Merkel zu mittig gewesen wäre und nicht offen genug für rechtskonservative Positionen nach der Flüchtlingsaufnahme 2015 gewesen sei:

Also „ostdeutsche Journalistin“ gibt es schon. Für den Spiegel und den Tagesspiegel schreibt mit Sabine Rennefanz eine Journalistin, die ihre Geschichte / die DDR Geschichte / die Perspekte von Menschen insbesondere Frauen aus der vormaligen DDR etc. im Zentrum fast jedes ihrer Artikel hat. Es ist ihr Markenzeichen im Grunde jedes Thema mit einer ostdeutschen Sichtweise zu verknüpfen. Für ihren Artikel „Uwe Mundlos und ich“ gab es sogar den deutschen Reporterpreis und da erkundet sie auch wieder die ostdeutsche Seele drin. (https://web.archive.org/web/20200928212424/http://www.reporter-forum.de/fileadmin/pdf/Reporterpreis_2012/Essay/Rennefanz_Uwe.pdf)
Also keine ostdeutsche Journalistin ist halt einfach nicht richtig, mir ist auf jeden Fall ohne Recherche direkt eine eingefallen.

Wobei ja einige hier im Forum immer darauf hinweisen, dass für die Zielgruppe unter 30 heutzutage „ostdeutsche Influencer“ deutlich wichtiger wären, als ostdeutsche Journalisten, um die Perspektive unterzubringen.

Hm naja über den Schröder Gerhard und seine Wahl von Sinnatras „my way“ ist damals auch nicht nur Gutes gesagt worden. In diese Sachen wird ja auch immer viel reingeheimnist. Den Punkt würde ich eher darauf münzen, dass viele zentrale Akteure des ostdeutschen Kulturbetriebs gesamtdeutsch nie Anerkennung gefunden haben. Also klar redet man in jeder Doku über Nina Hagen und den Biermann, aber zentrale ostdeutsche Akteure wie Puhdys, Karat und City haben es nie geschaft in den gesamdeutschen Kulturschaffendendiskurs vorzudringen.

Stimmt. Die Zeit unterhält sogar ein eigenes Ressort „Zeit im Osten“.
Geleitet wird es von Annne Hähnig

Zwar kein riesiger, aber doch ein deutlicher Unterschied, der bedenklich stimmt:

Von Eliten gesteuert, von der Politik hinters Licht geführt: Die Hälfte der Ostdeutschen stimmt kurz vor den Landtagswahlen im Osten verschwörungstheoretischen Aussagen zu. In den alten Bundesländern sind es mit rund 30 Prozent deutlich weniger. Wähler von AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) schenken Verschwörungserzählungen mit Abstand am meisten Glauben.
Das geht aus Umfragedaten hervor, die der Tagesspiegel exklusiv ausgewertet hat. Die Analyse wirft ein Licht auf das Ausmaß der gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland […].

Auch diese Einschätzung kann ich nicht nachvollziehen. Als wäre nicht wählerbezogen diskutiert worden, wie es z. B. zu den Erfolgen von Trump in den USA, von Le Pen in Frankreich, von Wilders in den Niederlanden, von Bolsonaro in Brasilien, von Orbán in Ungarn, von Milei in Argentinien, von Erdoğan bei Türken im In- und Ausland, von der PiS in Polen oder der FPÖ in Österreich gekommen wäre. Auch bzgl. Hessen und Baden-Württemberg wurde die Frage im Hinblick auf die Wahlerfolge der AfD diskutiert.

Und diese Fragen sind selbstverständlich legitim. Bei deren Beantwortung gibt es einerseits Verallgemeinerbares, aber andererseits eben auch Spezifisches, was die Wähler und deren Hintergründe angeht.

Und mit der irgendwie als Vorwurf gemeinten Einordnung als „Fremdperspektive“ kommt man da nirgendwohin. Einzig eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme, die bezogen auf ihren Untersuchungsgegenstand immer eine ‚Fremdperspektive‘ ist, hilft da weiter. Es ist ja nicht so, dass es zum in weiten Teilen Ostdeutschlands besonders verbreiteten Rechtsextremismus oder dem Rassismus von Trump-Anhängern in den USA keine Daten gäbe.

Mittlerweile werden sogar Binnendifferenzen minutiös erforscht:

Für den Vorwurf, Merkels Wahl von Nina Hagens Song, der ja lt. Interpretin „eine Anspielung auf die Mangelwirtschaft“ in der DDR war (vgl. Wikipedia), wäre in den ‚westdeutschen‘ Medien belächelt worden, habe ich jedenfalls in zugänglichen Internetquellen keinen Beleg gefunden, da ist vielmehr u. a. von einem „legendären Pophit“ (Spiegel) oder vom „feinen Humor“ der Kanzlerin (vgl. Tagesspiegel) die Rede.

Und ostdeutsche Journalisten sind nun wirklich medienpräsent, z. B. Antonie Rietzschel (SZ, Tagesspiegel, Spiegel Online), Anna Lehmann (taz), Doreen Reinhard, Jana Hensel und Martin Machowecz (Die Zeit), Jessy Wellmer und Marike Reimann (ARD). Letztgenannte wurde mit 36 Lenzen bereits Zweite Chefredakteurin beim SWR.

Auch diese Ostdeutschen vertreten unterschiedliche Sichtweisen, beileibe nicht nur …Rennefanz und Machowecz … (edit Mod)

Ich beziehe mich bzgl. dieser beiden mal auf Folgendes:

Der Kolumnist lebt übrigens in Ostdeutschland.

Die Verortung von Rennefanz spiegelt sich auch in ihrem eigenen Kolumnen-Titel »Du bist so rechts geworden«:

Dass ‚ostdeutsche‘ Perspektiven medial unterrepräsentiert wären, erscheint mir jedenfalls nicht schlüssig.

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Warum sollte man nicht?

Ich fand als Kind un Jugendlicher meine Heimatstadt nicht wirklich attraktiv, als ich im Möbelauto wegfuhr hatte ich trotzdem Tränen in den Augen.

Als ich dann in Berlin meine Sachen gepackt habe um auszuwandern ist mir das nicht passiert, da war kein bisschen Wehmut.

Und was hat Stolz auf die Heimat mit internationaler Akademikerin zu tun?

Ist es nicht vielmehr so, dass man aus dem Erfolg im internationalen Stolz über seine Heimat empfinden kann die diesen Erfolg ja irgendwo möglich gemacht hat?

Oder verwechselst du da jetzt Stolz auf die Heimat mit negativem Nationalismus?

Natürlich kann man auch stolz drauf sein, zu atmen, zwei Beine oder braune Augen zu haben. Die Frage ist halt, ob Stolz eine sinnvolle Kategorie ist bei einem Umstand, für den man selbst gar nichts kann.

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Keineswegs, ich bin allerdings der Ansicht, dass man nur auf etwas ‚stolz‘ sein kann, für das man auch etwas kann. Gemeinhin nennt man das die eigene Leistung.

‚Herkunftsstolz‘ widerspricht diesem Grundprinzip.

Dass man vielleicht wehmütig bzgl. der ‚Heimat‘ ist oder sich demütig über den glücklichen Zufall freut, da oder dort geboren bzw. aufgewachsen zu sein, ist etwas anderes. Das sind andere Gefühlsregungen als ‚Stolz‘.

Damit begrenzt du Stolz aber auf das Individuum.

Heißt Stolz über einen erlangten Schulabschluss blendet völlig die Leistung der Gesellschaft den Schulbesuch zu ermöglichen aus.

Und Stolz über eine gesellschaftliche Leistung ist bei deiner Ansicht ebenfalls ausgeschlossen, weil man ja nicht zwingend eigene Leistung erbracht hat.

Wer außer einem Menschen (also einem Individuum) kann denn deiner Meinung nach noch etwas wie Stolz empfinden?

Auf die sportliche Leistung etwa der DFB-Elf „stolz“ zu sein finde ich tatsächlich ebenso unpassend wie auf die Tatsache, dass ich zufällig deutsche Eltern habe und in Deutschland aufgewachsen bin. Für beides kann ich nichts. Wenn ich allerdings als Fußballer in dieser Elf mitgespielt habe oder als einflussreiche Person die Entwicklung eines Landes über Jahre entscheidend mitgeprägt habe, macht so ein Stolz auf gesellschaftlicher Ebene vielleicht schon mehr Sinn.

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