Nazismus aus Ost-Europäischer Sicht/Nazis in der Ukraine

Die Begründung, dass Russland die Ukraine überfallen hat, u.a. um eine „Entnazifizierung“ durchzuführen ist offensichtlich vorgeschoben. In unserer Hemisphäre ist der Fakt, dass der ukrainische Präsident Zelenskyy Jude ist, ein Totschlag-Argument gegen diese Unterstellung. Tatsächlich waren in der Ukraine vor wenigen Jahren sogar für einen gewissen Zeitraum sowohl Präsident als auch Premier ethnische Juden; außer in Israel war das in keinem anderen Land der Fall.

Ich habe auf der Talk-Page des englischen Wikipedia-Artikels zur derzeitigen russischen Invasion [Talk:2022 Russian invasion of Ukraine - Wikipedia] einen sehr interessanten Beitrag gelesen, den ich hier im Kern wiedergeben möchte. Leider finde ich ihn nicht mehr; sobald ein Disput zu einer Formulierung / Ergänzung des Artikels geklärt ist, wird das wahrscheinlich archiviert und ich weiß nicht wo.

So wie wir bzgl. Nationalsozialismus sozialisiert sind, ist dessen Kern ganz eindeutig der Anti-Semitismus. Deshalb, Zelenskyy = Jude → prominenter Nazismus in der Ukraine Blödsinn.
Aber die Wehrmacht / Waffen-SS haben im Rahmen des Ostfeldzugs auch an der russischen Bevölkerung Völkermord begangen; auch unabhängig davon, ob die jeweiligen Zivilisten tatsächlich Juden waren. D.h. dort steht Nazismus (vermutlich auch im Zuge der Jahre von Staatspropaganda) viel mehr für eine Art militante Russophobie. Und es ist auch ungenommen, dass die Ukraine tatsächlich ein Problem mit sehr rechten Elementen in der Gesellschaft hat, z.B. [Life Inside Putin’s Crimea - YouTube] Vice News - Life Inside Putin’s Crimea. Auf soetwas spielt die russische Propaganda wohl an.

Ich kann das selbst nicht so beurteilen, aber der Beitrag war sehr gut formuliert, also ich gehe davon aus, die Person weiß, wovon sie spricht.

Also das ist Thema ist bereits länger in der Diskussion, auch in Organisationen die ziemlich „unverdächtig“ sind den russischen Staat zu unterstützen:

Aus 2019:

Aus 2014 (in Englisch)

Wer des Englischen mächtig ist kann das auch hier bei Craig Murray nachlesen:

Das soll keine Rechtfertigung für die Agression von Russland sein, aber das Thema Nazis in der Ukraine ist eines was seit 2014 weitgehend bekannt ist.

Okay, also erstmal:

Ja, die „Entnazifizierung“ der Ukraine als Begründung für den Krieg ist natürlich vor allem eines: Propaganda. Wie fast jede Begründung für einen Krieg.

Aber wie jede Propaganda und fast jede Verschwörungstheorie hat auch diese einen kleinen, wahren Kern. Im Falle der Ukraine ist das die Verehrung der UPA.

Die UPA hat in der Tat in der Anfangszeit des zweiten Weltkriegs mit den Nazis kollaboriert (weil die Nazis aus ihrer Sicht das geringere Übel gegenüber den Sowjets waren und man sich erhoffte, die Nazis würden eine unabhängige Ukraine zulassen, was definitiv nicht im Sinne der Sowjets war) und war auch an einem Genozid gegen die polnische Bevölkerung im ukrainisch-polnischen Grenzbereich massiv beteiligt. Dabei wurden über 100.000 polnische Zivilisten teilweise brutal abgeschlachtet und das Ziel war nicht nur, alle Polen in dem Gebiet zu töten, sondern auch alle Zeichen polnischer Kultur (z.B. Friedhöfe) zu zerstören.

Das Problem aus Sicht der Ukraine ist, dass die UPA eine Doppelrolle hat:
Einerseits die Geschichte mit dem Genozid gegen die Polen, andererseits sind sie immer als tatkräftige Verteidiger der Ukraine in Erscheinung getreten, ohne die die Nationalstaatlichkeit der Ukraine heute vermutlich nicht so stark ausgeprägt wäre. Und die Ukraine konnte es sich - spätestens ab 2014 - keinesfalls leisten, diese „krassen Nationalisten“ aus der UPA zu vergraulen. Denn eben diese Nationalisten, vor allem im Westen der Ukraine, sind eben der beste Schutz davor, dass im Rest der Ukraine das Gleiche passiert wie in der Ostukraine oder auf der Krim.

Nachdem die Ukraine dann einige der Gründungsmitglieder, unter anderem auch solchen, die am Genozid gegen die Polen beteiligt waren, den Titel „Helden der Ukraine“ verliehen hat, um den Nationalismus, der im Kampf gegen die „Russifizierung“ der Gesellschaft gefördert werden sollte, zu verstärken, gab es schon einige hochgezogene Augenbrauen im Rest der Welt, vor allem natürlich in Polen.

Anhänger der UPA waren folglich auch stark an den Kämpfen in der Ostukraine beteiligt und gehören zu denjenigen, die am lautesten fordern, dass die Ukraine die abtrünnigen Teile wieder zurückerobern müsse. Und unter diesen UPA-Kämpfern sind auch definitiv viele, die wir in Deutschland ohne jeden Zweifel als „Rechtsaußen“ klassifizieren würden.

Dieser kleine Kern der ukrainischen Geschichte dient Putin nun als Vorlage, um zu behaupten, die ukrainische Regierung sei von Nazis durchsetzt. Das ist natürlich falsch - die UPA ist zwar durchaus von Nazis durchsetzt, aber eben weit weg davon, einen herrschenden Einfluss auf die Politik zu haben. Das Problem ist viel mehr, dass durch das Handeln Russlands und die Versuche, die Ukraine zu destabilisieren, die Ukraine in die Position gebracht wurde, nicht gegen die rechtsextremen in der UPA vorgehen zu können, weil die ukrainische Regierung die UPA braucht. So gesehen ist das Problem, welches Putin als Vorwand für seinen Krieg nutzt, von Putins eigener Politik erst erzeugt worden. Was die Begründung umso lächerlicher macht.

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