Nachverfolgung bei niedrigen Inzidenzen

Es wurde ja im letzten Jahr vielfach behauptet, zumindest implizit, dass bei niedrigeren Meldezahlen eine bessere Nachverfolgung von Infektionen bei Corona möglich wäre. Auch der Zero-Covid-Ansatz beruhte ja mit seinen grünen Zonen auf dieser Annahme.
Die dienstäglich veröffentlichte Grafik des RKI zeigt aber, dass sich diesbezüglich überhaupt nichts getan hat, obwohl die Inzidenzen teilweise nur noch einen Bruchteil der Werte von vor zwei Monaten ausmachen. Auch im Vergleich zum Sommer 2020 ist die Nachverfolgungsquote schlechter geworden und nicht besser.
Ich fände es spannend, mal etwas dazu zu hören, warum das so ist und weshalb es kaum jemanden zu stören scheint

Legende: Die kleine Grafik zeigt sämtliche gemeldeten Fälle, die große Grafik nur diejenigen Fälle, die nachverfolgt werden konnten. Der Anteil der nachverfolgbaren Fälle lässt sich also nur anhand der beiden Skalen schätzen. Die Grafik ist jeweils dienstags im Situationsbericht des RKI enthalten.

Edit: Legende

2 „Gefällt mir“

*NoCovid :stuck_out_tongue_winking_eye: Da gibt’s einen großen Unterschied.

Vielleicht zwei/drei spontane Gedanken dazu:

  • Ich glaube nicht, dass der Anteil an zuordenbaren Fällen zwingend ein guter Indikator für eine bessere Nachverfolgung ist. Es ging mE in der Diskussionen vor allem darum, dass bei geringerer Auslastung der Gesundheitsämter potentielle Kontaktpersonen schneller und teilweise überhaupt (war bei hohen Inzidenzen nicht immer möglich) kontakiert werden können. Das wird aber durch diesen Parameter nur sehr eingeschränkt gemessen.
  • Zwar zeigt der Parameter gut an, wie gut das Backward-Tracing („wo hat sich die Person angesteckt?“) funktioniert, was wichtig ist um Cluster zu erkennen. Jedoch gibt es ja auch ein Forward-Tracing („wen könnte die Person angesteckt haben?“), was hier nicht abgebildet wird. Hier lässt sich natürlich drüber streiten, wie wichtig überhaupt das Forward-Tracing im Vgl. zum Backward-Tracing ist (Stichwort Überdispersion).
  • Der Grund für den hohen Anteil an nicht zuordenbaren Fällen ist vielleicht zu einem gewissen Teil mit der Arbeitsfähigkeit der Gesundsämter verknüpft, jedoch kann es auch viele andere Gründe geben, wieso die Infektionsquelle nicht gefunden werden können: Ansteckungen im öffentlichen Raum (zB ÖPNV, Supermarkt etc), sozialer Druck (Infizierte wollen ihren Arbeitgeber nicht verpfeifen), Angst für rechtlichen Konsequenzen, mangelnde IT-Strukturen in den Gesundheitsämtern, mangelnde Kooperationsbereitschaft der positiv getesteten Person,… Ich vermute mal, dass du auch auf diesen Punkt hinaus wolltest.
  • Wenn man annimmt, dass es immer eine Anzahl an nicht zuordenbaren Fällen gibt (s.vorheriger Punkt), führt eine gut funktionierende Kontaktnachverfolgung der zuordenbaren Fälle (inkl. der Präventation, z.B. in Form von Clusterisolation) ja sogar paradoxerweise dazu, dass der Anteil an nicht zuordenbaren Fällen steigt, da die Bereiche der zuordenbaren Fälle besser „überwacht“ werden.
  • Unabhängig von dem Parameter „Anteil an zuordenbaren Fällen“ muss man aber die einfache Schlussfolgerung „Geringere Inzidenz“ → „Gesundheitsämter können besser rückverfolgen“ zum Teil relativieren: Bei geringer Inzidenz müssen die Gesundheitsämter zwar weniger positiv getestete Fälle bearbeiten, jedoch steigt der Aufwand pro positiver Fall, da bei geringerer Inzidenz die Regeln gelockert werden und somit die sozialen Kontakte zunehmen, die dann als Kontaktperson ermittelt werden müssen. Das wird keinen ausgleichenden Effekt haben, aber eine einfache Rechnung, wie halbe Inzidenz → halbe Arbeit für Gesundheitsämter, ist sicherlich nicht möglich.

Ein der Gründe wird hier gut erklärt: Digitalisierung der Gesundheitsämter - warum das Rollout von Sormas bis heute gescheitert ist. Sehr gut recherchiert.

1 „Gefällt mir“

Hallo kaigallup,
ich finde es faszinierend, was Du aus der Grafik herauslesen kannst. Gerade in den Zeiten niedriger Inzidenz kann ich nicht viel herauslesen. Allerdings habe ich die Grafik bei der RKI auch nicht gefunden.
Aber tatsächlich sollten in diesen Zeiten um die Ausbrüche härter und früher reagiert werden. schnelleres Warnen der Erstkontakte mit Testpflicht und Vorsorge-Quarantäne, Recht von "zweiten Kontakten auf PVR-Tests, Reagieren auch freiwillige Meldungen von Erstkontakten (bisher kam wohl so etwas wie „warten Sie bis wir Sie kontaktieren“ und die Aufforderung zum Test und zur Selbstisolierung kam, wenn die weiteren Ansteckungen schon erfolgt waren oder die Gefahr vorbei war). Entschuldigt, wenn ich die Begriffe nicht ganz richtig verwende.
Bisher habe ich nur gesehen, dass die Behörden zum teil sehr direkt reagiert haben, wenn es sich um die Delta-Variante gehandelt hat. Ob die Maßnahmen aber richtig gesetzt wurden und alle Bereiche abgeschirmt wurden oder nur „prekäre Wohnblöcke“ eingesperrt wurden, weil die Leute sich nicht wehren können, habe ich nicht weiter verfolgt.

Ich bin nicht so sehr an den technischen Problemen interessiert, die immer noch rieseig zu sein scheinen (In Berlin-Neukölln gab es z.B. nach der Umstellung auf Sormas über zwei Wochen lang "Probleme bei der Datenübermittling - warum auch immer…).

Das ist genau der Punkt, um den es mir ging. Das Ganze ist ja kein Naturgesetz. In anderen Ländern sind ja über 50% der Infektionssettings bekannt, in einigen mit sehr niedrigen Inzidenzen sogar über 90%. In Deutschland sind es gerade Mal um die 10% (sic!). Es geht dabei wohlgemerkt, nicht unbedingt um jeden einzelnen Fall, sondern um bestimmte Settings und damit um Wahrscheinlichkeiten für künftige Infektionen. Das ist Wissen, das sehr viel zielgerichtetere und daher bei weniger Ressourceneinsatz effektivere Prävention ermöglicht. Nur: Für dieses Wissen muss ich eben auch entsprechende Daten erheben, was immer noch nicht systematisch geschieht. Und da frage ich mich schon: warum?
Mein Punkt ist, dass trotz der ständig wiederholten Phrase, der Sommer 2020 sei „verschlafen“ worden, im Wesentlichen nichts passiert ist, um das Infektionsgeschehen besser zu verstehen. Weder gibt es gezielte oder Studien dazu (z. B. Seroprävalenzstudien, Kontaktstudien, Nachverfolgung von Infektionswegen per Sequenzierung), noch eine systematische Auswertung vorhandener Studien aus anderen Ländern, noch eine Vermittlung und Aufbereitung solcher Forschungsergebnisse für die Arbeit der lokalen Gesundheitsämter. Das wurschteln alles schön weiter vor sich hin, die einen so, die anderen so. Das mag jetzt gerade egal sein, wird sich aber spätestens im Herbst rächen, wenn die Infektionen vorwiegend in Bereichen der Gesellschaft stattfinden, auf die das öffentliche Gesundheitssystem ohnehin nicht so einen guten Zugriff hat.
Und mich deucht, dass auch die politische Strategie im Umgang mit dieserm Problem dieselbe bleiben wird, wie im letzten Jahr, nämlich bestimmte Gruppen für Infektionen verantwortlich zu machen anstatt diese versuchen zu verhindern. Also Blame-Game statt Prävention.

1 „Gefällt mir“

Ich finde die Frage total berechtigt. Jetzt geht die Inzidenz wieder hoch und ich würde gerne verstehen: Gibt es ein Problem mit der Kontaktnachverfolgung das man angehen kann um hier entgegenzusteuern, oder ist das „Halten auf niedrigem Niveau“ sowieso nur eine Wunschvorstellung?

Jetzt wäre der Zeitpunkt an dem man das wieder beherzt angehen und in den Fokus bringen sollte, bevor die Zahlen wieder zu hoch sind.

Das Problem ist, dass die Politik es den zweiten Sommer nacheinander verpennt hat, die öffentliche Verwaltung so auf- und auszurüsten, dass diese auch bei steigender Inzidenz noch in der Lage sind, Infektionsketten wirksam zu unterbrechen. Unsere Gesundheitsbehörden sind — von einigen rühmlichen abgesehen …

  • personell schlecht ausgestattet (zu wenig, nicht mit den geeigneten Kompetenzen und v.a. Einstellung)
  • informationstechnisch schlecht ausgestattet (Stichwort SORMAS)
  • ohne geeignete Datenbasis: Luka App hat sich - ich sag‘s nicht gern - als totaler Flop der Entwickler, Betreiber und v.a. der bestellenden Länder und des Bundes erwiesen. Und die notwendige statistische Datenbasis (u.a. die Frage: In welche Situationen stecken sich Menschen am Meisten an) wird unverändert nicht erhoben
  • werden von — meist falschen — Datenschutzargumenten ausgehebelt
  • genießen kein Vertrauen bei der Bevölkerung

Für mich ist dieser Bereich einer der größten des Politik- und Staatsversagen im Zusammenhang mit der Pandemie

1 „Gefällt mir“