Müde/satte Gesellschaft

Hallo,
seit einiger Zeit beobachte ich in meinem privaten und geschäftlichen Umfeld eine große Müdigkeit/Sattheit - auch bereits vor Corona.

Das spiegelt sich beispielsweise in Lethargie, Antriebslosigkeit, fehlender Kreativität, „mir ist es egal“-Haltung, etc. wieder.

Ich fände es sehr interessant, hier einen soziologischen Blick auf dieses Thema zu erhalten, da dies meiner Meinung nach ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt.
So erlebe ich in meinem Beruf (Ingenieur in der IT Branche) häufig eine gewisse Arroganz insbesondere ggü. Schwellenländern (inkl. China), die eine reaktive Haltung unsererseits rechtfertigen würde.
Dadurch entstehen dann bei neuen Produktentwicklungen beispielsweise unkreativere oder wenig innovative Produkte, weil der Bedarf (angeblich) nicht da wäre, bzw. die eigene Lösung ohnehin besser als die des Mitbewerbs dasteht.

Als Einstieg in das Thema habe ich z.B. folgenden Artikel von 2018 gefunden:

Oder auch dieser Artikel + Studie von 2008:

Erlebt/beobachtet ihr ähnliches in eurem Umfeld?

Gruß,
ralfrichter

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Ich meine, dies ist auch deutlich in der Politik zu erkennen. Vor 100 Jahren wurde Politik vor allem als ein Mittel angesehen, die Gesellschaft zu verändern - in totalitären Gesellschaften auch mit äußerster Brutalität. Machthunger war das treibende Motiv und mit der Macht wollte man auch etwas anfangen. Dieser Gestaltungswille scheint mir fast völlig verloren gegangen zu sein. Aus heutiger Sicht erscheinen mir selbst Projekte wie die europäische Einigung aus einer Zeit der Utopie zu stammen. Wer hätte heute noch den Anspruch und „die Eier“, um sowas wie die Einführung des Euro durchzusetzen?

Nun geht es eher um „Statushunger“ als wesentliches Motiv der politischen Akteure. Man will einen Posten erreichen bzw. diesen verteidigen als Selbstzweck. Politisches Handeln in größerem Umfang findet nur noch als Reaktion auf Krisen und Empörung statt. Es ist im Grunde lästig und dient hauptsächlich dazu, den einmal errungenen Status möglichst zu verteidigen.

Ich finde das sehr spannend, aber auch sehr schwierig. Ich bin sehr erstaunt, dass ich gerade einem Meinungsartikel aus der Welt so umfassend zustimme, dem aus dem Deutschlandfunk aber so gar nicht.

Ich hoffe, es ist nicht ungebührlich, wenn ich einfach erst mal frei meine Eindrücke schildere, ohne gleich mit Quellen und Belegen zu kommen. Also:

Der zweite Artikel insbesondere reduziert Fortschritt meiner Ansicht nach viel zu stark auf wirtschaftliches Wachstum und „Leistungsbereitschaft“. (Dieser Begriff ist vielleicht auch schon Teil des Problems…) Innovation wird dort, so wie ich es verstehe, nur als technischer Fortschritt, bessere Produkte und materieller Wohlstand verstanden. Eigentlich erschreckend für jemanden mit der Kurzbio „Jahrgang 1941, studierte Rechtswissenschaft, Geschichte und Philosophie“… Genau das kritisiert aus meiner Sicht der erste Artikel. Wäre Innovation und echter Fortschritt (und echter Wohlstand) nicht viel mehr ein erfülltes, zufriedenes und menschenwürdiges Leben für alle? Natürlich ist das auch abhängig von materiellen Faktoren, aber eben bei weitem nicht nur.

Einerseits habe ich den Eindruck, wenn man Antriebslosigkeit und fehlende Kreativität konstatiert, tut man hier doch einem Teil der Gesellschaft sehr Unrecht: Es gibt viele Gruppen, die sich hochengagiert darüber Gedanken machen, wie wir zusammen leben wollen und wie es mit uns als Menschheit im Großen und Gesellschaft im etwas Kleineren weiter gehen soll. Fridays for Future sind da nur ein Beispiel, aber beispielsweise Initiativen zu neuen Wohnformen, neuen Arbeitsformen etc. gibt es auch zahlreiche, die wirklich tolle Dinge vorantreiben.

Andererseits sehe ich aber auch, wie schwer es ist, den Kopf für solches Engagement und Sinngedanken frei zu bekommen. Dieses Phänomen - Müdigkeit, Sinnleere, Gesättigtsein - scheint mir auch äußerst heterogen verteilt zu sein.

Und dann sind wir eben doch wieder bei der These des ersten Artikels: Die zahlreichen materiellen Fortschritte, die es ja zweifellos gibt, führen für viele dennoch nicht zu einem besseren Leben. William Gibson, berühmter Science Fiction-Autor (z.B. „Neuromancer“), sagte mal: „The future is already here – it’s just not evenly distributed.“ Man sieht ja, dass wir produzieren und produzieren und alles, was wir brauchen, im Überfluss da ist. Einige verwenden darauf viel mehr Arbeitszeit, als gesund wäre, entweder weil sie sonst am Ende des Monats nicht genug Geld in der Tasche haben (Geringverdienende) oder weil das ihnen irgendeine perverse Arbeitskultur vermittelt (Besserverdienende). Wir alle könnten gut essen und uns gut kleiden und uns famos unterhalten. Einige müssen trotzdem jeden Groschen umdrehen und dann landet so viel von dem, was unsere Gesellschaft produziert, teilweise ungenutzt einfach im Müll (jüngstes Beispiel: Atacama-Wüste in Chile: Müllhalde für Fast-Fashion | tagesschau.de).

Kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs schrieb der Psychologe B.F. Skinner (der mit den Ratten und den Elektroschocks…) eine Utopie, „Walden Two“ (hier im Internet Archive gibt’s das von ihm selbst gelesen: Walden Two Chapter 01 : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive). Es ist kein literarisches Meisterwerk, aber es hat mich vor gut zehn Jahren nachhaltig beeindruckt. Er zeichnet da das Bild einer Gesellschaft, die mit vier bis sechs Stunden Arbeit am Tag alles wegarbeiten, was für die Existenz nötig ist, und der Rest der Zeit ist zur freien Verfügung, für sozialen Austausch, Forschung, Kunst, Kultur und alles, was wirklich Sinn macht und hat. Und das war kein Science Fiction. Gerade wird immer wieder Automatisierung wie ein Schreckgespenst an die Wand gemalt, weil dadurch menschliche Arbeit überflüssig wird. Ich finde das so befremdlich! Es ist doch toll, wenn Arbeit optional wird! Wie schrecklich ist es, dass als selbstverständlich hingenommen wird, dass der gesamtgesellschaftliche Vorteil, der daraus entsteht, dass alles, was wir brauchen, mit immer weniger menschlicher Arbeit geschafft werden kann, nur denen zugute kommt, denen eben das Unternehmen gehört, das jetzt Roboter statt Menschen beschäftigt. Wie viel Zeit für Sinnstiftung könnte frei werden, wenn der Mensch, der wegen des Roboters weniger arbeiten muss, einfach gleich viel Geld bekommt wie vorher - der Profit des Unternehmens würde sich dadurch doch prinzipiell gar nicht ändern (die Anschaffungs- und Unterhaltungskosten der wie auch immer gearteten Maschine mal ausgenommen). Mir kommt es also so vor, dass da vor allem die Gier weniger das Leben vieler ihres Sinns beraubt.

Ich hatte mir wirklich nicht vorgenommen, hier eine linke „Die Produktionsmittel den Arbeitern!“-Tirade zu verfassen. Aber an dem oben genannten Punkt komme ich immer wieder an, wenn ich mir Gedanken darüber mache, was eigentlich Fortschritt und Wohlstand bedeuten, also einerseits wie darüber geredet wird, aber auch, was sie der Sache nach eigentlich sein sollten: Es sollte uns doch allen gut gehen können.

Und das macht, so denke ich, einige oder auch viele manchmal müde: Man sieht die Welt sich verändern, man sieht, dass die Menschheit einerseits rasante und kaum nachvollziehbare Fortschritte macht, andererseits wundert man sich, warum man selbst um die eigene Zukunft fürchtet; warum einerseits E-Autos und die zugehörigen Milliardäre ins Weltall geschossen werden, ich andererseits aber darum fürchte, dass unsere jüngsten Kinder - verhinderbar! - eine Welt erleben könnten, in der große Teile der Erde unbewohnbar, Naturkatastrophen allgegenwärtig und Nahrungsmittel unsicher sein werden. Ich vermute, wenn ich dann noch 40 oder mehr Stunden in der Woche arbeiten müsste, nur um gerade meine überteuerte Wohnung und das Nötigste bezahlen zu können, dann hätte ich auch keine Energie, Visionen über die Zukunft unserer Gesellschaft zu entwickeln. Ich bin glücklicherweise nicht in der Situation, aber die Befürchtungen bleiben und auch mir fällt es manchmal schwer, mich mit ehrlichem Elan zu engagieren und nicht zynisch zu werden.

Ich weiß nicht, ob das eigentlich Ralfs Frage trifft, aber das sind meine Gedanken dazu.

Edit: Sprache und Zeichensetzung

Danke für eure Antworten.

Und dann sind wir eben doch wieder bei der These des ersten Artikels: Die zahlreichen materiellen Fortschritte, die es ja zweifellos gibt, führen für viele dennoch nicht zu einem besseren Leben.

Das ist sicherlich richtig. Tim Jackson schreibt in seinem neuen Buch „Wie wollen wir leben?“ davon, dass ein Einkommen von 0-20k$ einen maximalen Grenznutzen hinsichtlich der Zufriedenheit hat. Danach sinkt der Grenznutzen und die Zufriedenheit steigt immer weniger, bis sie ab einem gewissen Punkt sogar rückläufig wird.
Daher ist die durchschnittliche Zufriedenheit in Ländern wie z.B. Chile höher als in den USA, obwohl das Einkommen geringer ist.
Somit kann dieser Punkt klar belegt werden.
In diesem Zusammenhang zeigt Jackson auch, dass heute psychische Krankheiten die häufigste Diagnose sind, was mit diesem System zusammenhängt.

In Deutschland sehe ich hier eine ähnliche Entwicklung. Wir haben heute alles, was wir für das Leben benötigen, streben dennoch nach mehr Einkommen, mehr Wohnfläche, luxuriöseren Autos, exklusiveren Reisen etc. Ich sehe zwischen diesem Konsumverlangen und der Zufriedenheit jedoch keinen Zusammenhang mehr.
Insbesondere, da (zumindest Personen in meinem Umfeld) idR nicht bereit sind, für dieses Mehr an Wohlstand auch mehr zu leisten (im kapitalistischen System). Man profitiert da lieber von den etablierten Prozessen und genießt die erreichte Gemütlichkeit.

Ich hoffe sehr, dass hinsichtlich dieses Missstands ein Ruck durch die Gesellschaft geht, der u.a. folgendes bewirkt.

  1. Erwerbsarbeit wird nicht mehr als das höchste Gut behandelt
  2. Unternehmen stellen wieder den Mitarbeiter in den Fokus, wobei damit nicht das Gehalt gemeint ist, sondern die Gesundheit/Zufriedenheit/Selbstverwirklichung
  3. Die Gesellschaft findet wieder Kreativität und Antrieb für gesellschaftliche Aktivitäten (z.B. FFF, Stadtteilprojekte etc.)
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Interessant, wir argumentieren eigentlich von komplett entgegengesetzten Ausgangspunkten: Du siehst Menschen, die mehr als genug haben und daher lieber ihre Arbeitszeit zurückfahren, um Lebensqualität zu gewinnen (und um das ganz deutlich zu machen: In der Situation bin ich persönlich auch!); mir ging es um Menschen, die trotz viel zu viel Arbeit zu wenig haben.

Dennoch kommen wir im weitesten Sinne zu ähnlichen oder zumindest kompatiblen Schlussfolgerungen. Außer dass ich bei Deinem abschließenden Punkt 2. ergänzen würde, dass es Berufsgruppen gibt, bei denen der Grenznutzen bei weitem noch nicht erreicht ist und nur sowohl mehr Geld als auch bessere Arbeitsbedingungen zu mehr Zufriedenheit führen können.

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Ich habe das Buch zwar nicht gelesen, aber für mich hinkt der Vergleich bzw. müsste man doch bei so einem Vergleich den Startpunkt als maßgebenden Faktor mit einbeziehen.
Würde ein Chilene den Lebensstandard eines Durchschnittsamerikaners als Normalzustand kennen, würde ihn der chilenische durchschnittliche Lebensstandard wohl weniger zufrieden stellen.
Genauso könnte man behaupten, die indigenen Völker im Dschungel des Amazonas haben haben ja weder Währung wie wir es kennen, bzw. auch kein monatliches Einkommen.
Sind sie dann, dem Vergleich zu Folge, alle super happy oder nach unserem Empfinde total unglücklich?
Ich halte es grundsätzlich für plausible, dass ab einem gewissen Einkommen/Lebensstandard bei den meisten eine Sättigung erreicht ist.
Bis zu einer gewissen Einkommensgrenze steht bei den Gehaltsverhandlungen das Gehalt im Fokus, drüber hinaus nehmen Dinge wie WorkLife-Balance an Bedeutung zu.
Um auf den Aussage zurück zu kommen, Chile mit den USA (oder einer anderen Industrienation) in dem Bereich zu Vergleichen, ist ein klassischer Apfel-Birne-Vergleich.

Grüße

Es scheint aber auch eine psychische Komponente zu geben, die Menschen zur ungebremsten Vermehrung von Geld und Wohlstand bzw. Symbolen des Wohlstands antreibt. Sie ist individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt, kann aber erlernt werden. Sie hat viele Symptome der Sucht ohne Grenze nach oben. Glücklich macht das nicht, aber Aufhören führt zu Entzugserscheinungen. Der Zusammenhang mit psychischen Krankheiten (@ralfrichter) ist naheliegend.

Ich fürchte, bei der jetzigen Entwicklung ist die Neigung zu dieser Sucht zunehmend, denn die Verlockungen und „Vorbilder“ sind überall greifbar und werden sogar beworben. ME würde eine Angleichung der himmelschreiend ungerechten Unterschiede von Arbeitslohn gut helfen. Es ist einfach nicht herzuleiten, wie eine Friseuse nur einen Bruchteil dessen verdient, was schon ein ungelernter Arbeiter in einem Sektor mit starker Gewerkschaft verdient, von höheren Beamten z.B. ganz zu schweigen. Manager müssen schon ran, aber sie sind trotzdem grotesk überbezahlt. Es ist wieder mal eine Frage der fehlenden Bildung, die schon bei Schülern mit der Rationalisierung solcher Phänomene eine Verbesserung bringen würde.