Ich finde das sehr spannend, aber auch sehr schwierig. Ich bin sehr erstaunt, dass ich gerade einem Meinungsartikel aus der Welt so umfassend zustimme, dem aus dem Deutschlandfunk aber so gar nicht.
Ich hoffe, es ist nicht ungebührlich, wenn ich einfach erst mal frei meine Eindrücke schildere, ohne gleich mit Quellen und Belegen zu kommen. Also:
Der zweite Artikel insbesondere reduziert Fortschritt meiner Ansicht nach viel zu stark auf wirtschaftliches Wachstum und „Leistungsbereitschaft“. (Dieser Begriff ist vielleicht auch schon Teil des Problems…) Innovation wird dort, so wie ich es verstehe, nur als technischer Fortschritt, bessere Produkte und materieller Wohlstand verstanden. Eigentlich erschreckend für jemanden mit der Kurzbio „Jahrgang 1941, studierte Rechtswissenschaft, Geschichte und Philosophie“… Genau das kritisiert aus meiner Sicht der erste Artikel. Wäre Innovation und echter Fortschritt (und echter Wohlstand) nicht viel mehr ein erfülltes, zufriedenes und menschenwürdiges Leben für alle? Natürlich ist das auch abhängig von materiellen Faktoren, aber eben bei weitem nicht nur.
Einerseits habe ich den Eindruck, wenn man Antriebslosigkeit und fehlende Kreativität konstatiert, tut man hier doch einem Teil der Gesellschaft sehr Unrecht: Es gibt viele Gruppen, die sich hochengagiert darüber Gedanken machen, wie wir zusammen leben wollen und wie es mit uns als Menschheit im Großen und Gesellschaft im etwas Kleineren weiter gehen soll. Fridays for Future sind da nur ein Beispiel, aber beispielsweise Initiativen zu neuen Wohnformen, neuen Arbeitsformen etc. gibt es auch zahlreiche, die wirklich tolle Dinge vorantreiben.
Andererseits sehe ich aber auch, wie schwer es ist, den Kopf für solches Engagement und Sinngedanken frei zu bekommen. Dieses Phänomen - Müdigkeit, Sinnleere, Gesättigtsein - scheint mir auch äußerst heterogen verteilt zu sein.
Und dann sind wir eben doch wieder bei der These des ersten Artikels: Die zahlreichen materiellen Fortschritte, die es ja zweifellos gibt, führen für viele dennoch nicht zu einem besseren Leben. William Gibson, berühmter Science Fiction-Autor (z.B. „Neuromancer“), sagte mal: „The future is already here – it’s just not evenly distributed.“ Man sieht ja, dass wir produzieren und produzieren und alles, was wir brauchen, im Überfluss da ist. Einige verwenden darauf viel mehr Arbeitszeit, als gesund wäre, entweder weil sie sonst am Ende des Monats nicht genug Geld in der Tasche haben (Geringverdienende) oder weil das ihnen irgendeine perverse Arbeitskultur vermittelt (Besserverdienende). Wir alle könnten gut essen und uns gut kleiden und uns famos unterhalten. Einige müssen trotzdem jeden Groschen umdrehen und dann landet so viel von dem, was unsere Gesellschaft produziert, teilweise ungenutzt einfach im Müll (jüngstes Beispiel: Atacama-Wüste in Chile: Müllhalde für Fast-Fashion | tagesschau.de).
Kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs schrieb der Psychologe B.F. Skinner (der mit den Ratten und den Elektroschocks…) eine Utopie, „Walden Two“ (hier im Internet Archive gibt’s das von ihm selbst gelesen: Walden Two Chapter 01 : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive). Es ist kein literarisches Meisterwerk, aber es hat mich vor gut zehn Jahren nachhaltig beeindruckt. Er zeichnet da das Bild einer Gesellschaft, die mit vier bis sechs Stunden Arbeit am Tag alles wegarbeiten, was für die Existenz nötig ist, und der Rest der Zeit ist zur freien Verfügung, für sozialen Austausch, Forschung, Kunst, Kultur und alles, was wirklich Sinn macht und hat. Und das war kein Science Fiction. Gerade wird immer wieder Automatisierung wie ein Schreckgespenst an die Wand gemalt, weil dadurch menschliche Arbeit überflüssig wird. Ich finde das so befremdlich! Es ist doch toll, wenn Arbeit optional wird! Wie schrecklich ist es, dass als selbstverständlich hingenommen wird, dass der gesamtgesellschaftliche Vorteil, der daraus entsteht, dass alles, was wir brauchen, mit immer weniger menschlicher Arbeit geschafft werden kann, nur denen zugute kommt, denen eben das Unternehmen gehört, das jetzt Roboter statt Menschen beschäftigt. Wie viel Zeit für Sinnstiftung könnte frei werden, wenn der Mensch, der wegen des Roboters weniger arbeiten muss, einfach gleich viel Geld bekommt wie vorher - der Profit des Unternehmens würde sich dadurch doch prinzipiell gar nicht ändern (die Anschaffungs- und Unterhaltungskosten der wie auch immer gearteten Maschine mal ausgenommen). Mir kommt es also so vor, dass da vor allem die Gier weniger das Leben vieler ihres Sinns beraubt.
Ich hatte mir wirklich nicht vorgenommen, hier eine linke „Die Produktionsmittel den Arbeitern!“-Tirade zu verfassen. Aber an dem oben genannten Punkt komme ich immer wieder an, wenn ich mir Gedanken darüber mache, was eigentlich Fortschritt und Wohlstand bedeuten, also einerseits wie darüber geredet wird, aber auch, was sie der Sache nach eigentlich sein sollten: Es sollte uns doch allen gut gehen können.
Und das macht, so denke ich, einige oder auch viele manchmal müde: Man sieht die Welt sich verändern, man sieht, dass die Menschheit einerseits rasante und kaum nachvollziehbare Fortschritte macht, andererseits wundert man sich, warum man selbst um die eigene Zukunft fürchtet; warum einerseits E-Autos und die zugehörigen Milliardäre ins Weltall geschossen werden, ich andererseits aber darum fürchte, dass unsere jüngsten Kinder - verhinderbar! - eine Welt erleben könnten, in der große Teile der Erde unbewohnbar, Naturkatastrophen allgegenwärtig und Nahrungsmittel unsicher sein werden. Ich vermute, wenn ich dann noch 40 oder mehr Stunden in der Woche arbeiten müsste, nur um gerade meine überteuerte Wohnung und das Nötigste bezahlen zu können, dann hätte ich auch keine Energie, Visionen über die Zukunft unserer Gesellschaft zu entwickeln. Ich bin glücklicherweise nicht in der Situation, aber die Befürchtungen bleiben und auch mir fällt es manchmal schwer, mich mit ehrlichem Elan zu engagieren und nicht zynisch zu werden.
Ich weiß nicht, ob das eigentlich Ralfs Frage trifft, aber das sind meine Gedanken dazu.
Edit: Sprache und Zeichensetzung