Militärsausgaben und Waffenexporte in Zeiten des Ukrainekonflikts

Die Berichterstattung hinsichtlich des Militärs und der Waffenproduktion in unserem Land ist derzeit stark durch den Konflikt in der Ukraine beeinflusst. Das führt soweit, dass viele Medienhäuser, Parteien und unter diesem Eindruck scheinbar auch eine öffentliche Mehrheit einen Gesinnungswandel von 180 Grad im Vergleich zu ihren Positionen von vor dem Krieg vorgenommen haben. Manche These wird dabei recht evidenzbefreit verbreitet. Beispielsweise werden die erhöhten Militärausgaben als „längst überfällig“ und „dringend notwendig“ verklärt. Dass die Nato bereits vor diesen Ausgaben des Bundestags über eine deutlich größere und vor allem moderne Armee als Russland verfügte, wird ignoriert. Dass die Diskussion der Militärstärken von Supermächten im Zeitalter von Atomwaffen ohnehin vollständiger Irrsinn ist, wird als Argument vollständig aus dem Diskurs verbannt.

Mich beschäftigt deswegen die Frage, was eigentlich die Steigerung unserer Militärausgaben konkret bewirken soll. Diese Steigerung ist übrigens kein neues Phänomen, sondern eine Tendenz, die sich seit 2015 fortsetzt. 37 Milliarden € in 2017 erhöhten sich in den letzten 5 Jahren um über 30% auf 50,3 Milliarden Sondervermögen zur Stärkung der Bundeswehr | Bundesregierung. Sollten wir den Nato-Forderungen von 2% des BIPs nachkommen (2021 immerhin 3,6 Billionen) würde sich dieser Betrag weiterhin signifikant auf über 70 Milliarden erhöhen. Das wären gemessen am derzeitigen Haushalt schon um die 15% (zum Vergleich: Gesundheit 5%, Klima 3% Bundeshaushalt - Bundeshaushalt digital).

Für die 100 Milliarden Sonderausgaben gibt es auf die oben genannte Frage konkrete Antworten. Ein Großteil geht in die Luftwaffe (33%), 16% für Landkräfte und 8% für die See. Weitere 20% für „Führungsfähigkeit und Digitalisierung“ – es geht ernsthaft einen Absatz lang fast nur um Funkgeräte: Ministerin: „Wir sorgen für eine voll einsatzbereite Bundeswehr“ (bmvg.de) – und der restliche Betrag wird nicht weiter erörtert. Auffällig ist, dass nicht bessere Ausbildungsmöglichkeiten oder vergleichbares diskutiert werden, sondern nur Investitionen in Equipment. Konkret bedeutet das also, dass sich die deutsche, private Waffenindustrie über eine kräftige Finanzspritze freuen darf.

Ob diese Investitionen irgendeinen direkten Einfluss auf das Geschehen in der Ukraine nehmen werden, konnte ich nicht herausfinden. Klar ist, dass wir bis jetzt nur bereits hergestelltes Kriegswerkzeug lieferten. Vermutlich wird es von der Länge des Konflikts abhängen. Wie lange es aber noch dauert, dass die Früchte unserer Ausgaben einsatzbereit sind, konnte ich nicht herausfinden und das scheint auch nicht wesentlich diskutiert zu werden.

Es lässt sich bestimmen, dass 2022 der Großteil der Waffen Deutschlands in die Ukraine gegangen ist (Deutsche Rüstungsexporte 2022: Mehr als acht Milliarden Euro - ZDFheute). Mit 2,2 Milliarden Euro ist das trotzdem kaum mehr als ein Viertel unserer Exporte. Wenn das in einem heißen Krieg unser Beitrag sein soll, müssen wir dann davon ausgehen, dass der Großteil der 100 Milliarden Euro nicht für den Ukrainekonflikt, selbst wenn er sich noch über viele Jahre hinziehen sollte, eingesetzt wird?

Immerhin muss man der Ampel-Regierung zu Gute halten, dass sie Lieferungen an Drittländer abgesehen von der Ukraine stark eingegrenzt haben. Noch im Vorjahr wurden mit Begeisterung Waffen im Wert von über 4 Milliarden Euro nach Ägypten auf den Konflikt im Jemen geschmissen (Neue Bundesregierung genehmigt Rüstungsexporte für 2,2 Milliarden Euro (wiwo.de)). Umfang und Art der Exporte liegen dabei übrigens allein im Ermessen des Bundessicherheitsrats (Bundessicherheitsrat – Wikipedia). Das Parlament insgesamt hat nicht einmal ein Vetorecht (Wirtschaft: Waffenlieferant Deutschland - Wirtschaft - Gesellschaft - Planet Wissen (planet-wissen.de)). Sollte Interesse bestehen durch Korruption Lobbyismus Einfluss zu nehmen, ist dies also stark vereinfacht.

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Nicht direkt zu den Kosten, aber zur Sinnhaftigkeit einer „Wehrhaftigkeit“ im weitesten Sinne (nicht nur militärisch, auch gesellschaftlich), folgender Podcast-Tip:

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Wenn Deutschland bei der Nato weiterhin eine wichtige Rollen haben möchte, benötigt es auch wir eine funktionierende Armee. Und das scheint im Moment auf der Kippe zu stehen. Zudem sind nicht alle NATO Truppen in Europa stationiert und bis die USA genug Truppen nach Europa verschifft hatt, vergeht eine gewisse Zeit.

Nein das wurde durchaus diskutiert. Atomwaffen sind eine so schreckliche Waffe, das sie heutzutage eigentlich nur noch zur Abschreckung gegen Atomwaffen eingesetzt werden können. Oder anders formuliert, die NATO wird vermutlich keine Atomwaffen gegen Russland einsetzen, wenn Russland Litauen überfällt. Dies würde einen atomaren Weltkrieg auslösen. Daher taugen Atomwaffen nicht zur Abschreckung gegen konventionelle Kriege. Also benötigt die Nato auch ein entsprechendes konventionelles Abschreckungspotential.

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Erst mal ein paar Zahlen zum Vergleich NATO-Russland.

Das finde ich eigentlich recht anschaulich. Da wird schon recht klar, dass Russland der NATO nur im Hinblick auf Atomwaffen und Artillerie das Wasser reichen kann. Mit Artillerie gewinnt man jedoch nur Kriege, wenn man sie auch beschützen kann - was im Anbetracht der deutlichen Luftüberlegenheit und der deutlichen Überlegenheit an Bodentruppen und Fahrzeugen seitens der NATO absolut aussichtslos wäre.

Wenn wir nun die USA+Kanada (wegen hoher geographischer Entfernung und weltweiter Verteilung der Truppen) und die Türkei (wegen unsicherer Loyalität und politischer Instabilität der Region) herausrechnen, fehlen der NATO natürlich die beiden größten Armeen (Ja, die Türkei hat die größte Armee nach den USA… und das ist „not even close“). Was bliebe ist jedoch immer noch substanziell mehr als das, was Russland zu bieten hat.

Dazu kommt der klassische Verteidigerbonus - wenn man sich anschaut, wie sich Russland in Tschetschenien und jetzt in der Ukraine abmüht, wird schon sehr deutlich, dass es selbst mit x-facher Überlegenheit sehr langsam und verlustreich ist…

Ein Angriff Russlands gegen einzig die europäischen NATO-Staaten wäre daher aus russischer Sicht in jedem Fall ein Angriff gegen einen mindestens ebenbürtigen, eher noch konventionell überlegenen Gegner in einer Verteidigungsposition. Das kann einfach nicht funktionieren, egal, wie man es dreht und wendet.

Dass wir eine funktionierende Armee brauchen, ist dabei klar. Aber der Schwerpunkt dieser Armee muss letztlich sein, im Rahmen von Bündnis-Verpflichtungen schlagkräftige, schnelle Einsatztruppen schicken zu können.

Zu Recht, denn das ist halt auch kein valides Argument. Atomwaffen sind zwar mächtige Waffen, aber keine Kriegswaffen. Atomwaffen sind rein politische Waffen. Sie spielen keine Rolle auf dem Gefechtsfeld eines konventionellen Kriegs, und tatsächlich durchgeführte Kriege sind konventionell. Selbst Atommächte haben kein Interesse daran, konventionelle Kriege zu Atomkriegen zu eskalieren, denn sie alle wissen: es ist für jeden einigermaßen industriell entwickelten Staat viel zu einfach, Atomwaffen herzustellen, so dass ihre unzweifelhaft große politische Macht zwangsläufig angezählt wäre, wenn aktuelle Nicht-Atomstaaten durch einen tatsächlichen Einsatz atomarer Waffen in Kriegen faktisch dazu gezwungen würden, sich ebenfalls atomar aufzurüsten, um nicht bei nächster Gelegenheit von der nächstbesten Atommacht überfallen zu werden. Und haben erst mal alle Atomwaffen, dann hat effektiv keiner mehr Atomwaffen. Diese Situation nennt sich „atomares Tabu“ und sie garantiert derzeit die Nutzlosigkeit von Atomwaffen auf dem Schlachtfeld - jedenfalls so lange das Tabu hält.

Die größte Atommacht des Planeten, die USA, sind übrigens ebenfalls dieser Meinung, oder warum sonst, denkst du, leisten die sich eine gigantische - sowohl was die Stärke als auch was die Kosten angeht - konventionelle Streitmacht, wo sie doch auf den meisten und modernsten Atomsprengköpfen sitzen? Könnten sich ja auch einfach darauf ausruhen und 90% ihrer Militärausgaben sparen.

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Dass solche Tabellenvergleiche nicht selten ganz schnell nach hinten losgehen, zeigt sich nicht nur durch die gesamte Militärgeschichte hindurch, sondern auch jetzt, live in der Ukraine (auf dem Papier ist Russland um Größenordnungen stärker als die Ukraine). Außerdem werden da Aspekte wie Moral, Kommandostruktur, Logistik, Geographie usw. usw. überhaupt nicht betrachtet. Zudem war die größte Sorge der Natoplaner immer die berühmtberüchtige hybride Kriegsführung der Russen, soll heißen, die Kombination von militärischen Operationen mit verdeckten Operationen sowie Propaganda- und Desinformationskampagnen im Westen.

Das widerspricht dem Satz, den du darüber geschrieben hast (und der gesamten Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts: Atommächte führten seit es diese gibt Kriege unterhalb der nuklearen Schwelle, konventionell wie unkonventionell).

Daran ist nichts auffällig. Die Mängel an Material sind hinreichend bekannt.

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Dafür muss ich ein wenig ausholen. Ich glaube Militärmacht war eine inhärente Funktion insbesondere der aufkommenden Nationalstaaten gewesen, um ihre Herrschaftsansprüche zu legitimieren. Nicht unbedingt nach außen, sondern als Schutz der eigenen Bevölkerung. Da Militärmacht aber notwendig auch immer eine Bedrohung nach außen darstellt, war ein Wettrüsten vorprogrammiert. Logischerweise konnte sich dadurch eine ganze Industrie bilden, die daran satt verdiente. Insbesondere im kalten Krieg hat sich die Absurdität dessen im nuklearen Zeitalter dann aber herauskristallisiert. Wie auch bei vielen anderen Aspekten sind Nationalstaaten in dieser Funktion den Herausforderungen einer globalen Welt nicht gewachsen. Insbesondere in den USA ließ sich das Narrativ des mächtigen Staates aber immer sehr gut mit einem gewissen „Exceptionalism“ verbinden. Das Image als Weltpolizei war beliebt und außenpolitische Dominanz konnte lange über innenpolitische Probleme hinwegtäuschen. Die Synergie-Effekte eines extrem reichen militärisch-industriellem Komplexes auf der einen Seite und einer politischen Kaste, die für ihren Machterhalt insbesondere in den USA auf große Geldströme angewiesen war, auf der andere Seite, sind ohnehin offensichtlich. Der Terror, den die USA im 20. Jh. in Südamerika oder im Nahen Osten zu verantworten haben, ist nur ein furchtbares Resultat. Das bricht durch eine sich weiter verschärfende innenpolitische Lage (Lohnstagnation seit den 70ern) und die traumatisierenden Erfahrungen der letzten Kriege in den USA aber zunehmend in sich zusammen. Die in den letzten Jahren zu beobachtenden politischen Spannungen dürften Ausdruck dessen sein. Beispielsweise die zunehmende libertäre Haltung vieler Amerikaner resultiert meiner Erfahrung darauf, dass sie keine Steuern mehr zahlen wollen, weil diese ohnehin nur für Militärausgaben verschwendet werden, statt etwas aufzubauen. Die von ihnen dargestellte Meinung der USA stellt sich also nicht so offensichtlich dar. Es ist eher abhängig davon wer mit „die USA“ gemeint ist.
Die vielen globalen Konflikte sind doch in diesen Dimensionen erst möglich durch die Waffen der westlichen Welt und häufig werden sie darüber hinaus auch noch durch direkte Intervention angefacht. Interventionen durch eine Politik befeuert, die durch eine Industrie beraten wird, die davon profitiert, wenn mehr Waffen benötigt werden. Putin hat in den ersten Jahren seines Amtsantrittes unschöne Popularität dadurch erlangt, indem er seine politischen Gegner von Balkonen werfen ließ. Das war in den 90ern. Es ist nicht erst seit gestern bekannt, dass er nicht der nette Junge von nebenan ist. Warum hat man es versäumt Russland ökonomisch zu isolieren? Die Mittel für diesen Krieg sind für Russland selbst unter jetzigen Umständen knapp und wären auf diese Weise nie vorhanden gewesen. Warum reden wir jetzt nicht über Einsparungen, um unsere Abhängigkeit von China zu verringern und sie ökonomisch zu isolieren? Stattdessen produzieren wir Ausgaben für Waffen für Konflikte mit Unrechtsstaaten, mit denen wir trotz unvereinbarer moralischer Gegensätze Handel betreiben (unter anderem mit Waffen) und sie dadurch überhaupt erst in die Situation bringen, eben diese Konflikte zu führen. Wie auffällig muss diese tödliche Abwärtsspirale denn noch sein?

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Gut, es mag ja durchaus noch weitere Gründe für die USA geben, einen großen Militärapparat zu unterhalten, als nur der Erhalt der Möglichkeit, in konventionellen Kriegen mit konventionellen Waffen mitmischen zu können. Das invalidiert aber in keinster Weise meine Kritik an deiner Aussage, dass es unsinnig wäre, über (ich implizierte an dieser Stelle das Wort „konventionelle“) Militärstärke im Zeitalter von Atomwaffen zu diskutieren. Atomwaffen bleiben irrelevant auf dem Schlachtfeld, ihre Rolle bleibt eine politische, und dementsprechend ist die Stärke des konventionellen Militärs in militärischen Konflikten nach wie vor hochgradig relevant und ihre Diskussion folglich alles andere als „irrsinnig“.

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Entschuldige, der Punkt, dass der Aufrüstungsirrsinn durch das Zeitalter der Atomwaffen irrelevant wurde, ist wohl untergegangen. Direkter Krieg zwischen Nationen mit Atomwaffen ist nicht mehr möglich (außer man haut sich wie Indier und Chinesen zuletzt mit Stöcken - vielleicht das beste Beispiel für die Absurdität des Krieges). Einfach aus dem Grund, weil niemand sich einbilden darf, die Eskalationsspirale kontrollieren zu können. Ich denke diverse historische Höhepunkte während des kalten Krieges haben das eindrucksvoll untermauert. Ich denke auch, dass die USA Russland ansonsten schon lange angegriffen hätten.
Alles was nach wie vor möglich ist, sind Stellvertreterkriege. Ich wollte darauf hinaus, dass es keine andere Rechtfertigung für diese geben kann, als ein einseitiges (/für einen kleinen Teil der Gesellschaft profitables) ökonomisches Kalkül. Das ist mittlerweile common sense und darum wird die Aufrüstung des Militärs in Deutschland auch nicht damit gerechtfertigt. Wie im Ausgangspost beschrieben, ist es höchst unwahrscheinlich, dass überhaupt ein signifikanter Teil der 100 Milliarden Euro jemals in der Ukraine landet. Die Rechtfertigung erfolgt dadurch, dass wir (Deutsche) uns verteidigen müssen. Das ist meiner Meinung nach einfach nur Propaganda.
Die Rolle von Atomwaffen derartig zu invalidieren zeugt übrigens von einem Optismismus, den ich gerne teilen würde, solange irre Diktatoren auf den Auslösern sitzen. Drücken wir die Daumen.

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Nein, es ist Rationalismus. Oder von mir aus Zweckoptimismus. Oder Fatalismus. Ist egal, es kommt auf dasselbe raus.

Die Logik ist diese: Wenn ich falsch liege, sind wir alle bereits tot, wir wissen es nur noch nicht. Wenn ich in einer möglichen Zeitlinie unvermeidlich in einem Atomkrieg sterbe und persönlich keine Handlungsoption habe, mich diesem Schicksal zu entziehen, ist es müßig, sich auch nur mit der Möglichkeit dieser Variante zu beschäftigen. Ist verschwendete Lebenszeit, auch nur drüber nachzudenken, die ich lieber anderweitig verwende. Also setze ich in meiner Abwägung die Wahrscheinlichkeit für diese Zeitlinie ganz bewusst hart auf null, auch wenn sie in der Realität nicht ausgeschlossen werden kann und somit eigentlich vielleicht gering, aber doch nicht ganz null ist.

Die „irren Diktatoren“ klingen zwar plakativ, haben aber übrigens nicht wirklich viel mit meiner Argumentation zu tun. Selbstverständlich ist es auch unter der Annahme eines systemisch perfekt funktionierenden atomaren Tabus immer möglich, dass Atomwaffen aus irgendeinem Grund doch gezündet werden. Sei es infolge eines Unfalls ohne dass auch nur ein einziger Mensch dies beabsichtigte, oder auch ausgelöst durch einen irren Akteur (und dem Versagen sämtlicher Sicherungssysteme, die normalerweise verhinden sollen, dass selbst irre Diktatoren im Alleingang nukleare Waffen zünden können). Dass diese Möglichkeit besteht, bedeutet aber nicht, dass Atomwaffen dadurch irgendeine Rolle auf dem Kriegsschlachtfeld spielen würden. Sie sind und bleiben dort irrelevant, denn sie sind und bleiben auch dann politische Waffen. Das würde sich erst ändern, wenn tatsächlich eine im Rahmen eines Krieges verwendet würde - dann würden sie aber sehr schnell politisch nutzlos.

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Solche Vergleiche gehen auch in der Militärgeschichte immer nur für den Angreifer nach Hinten los, und das geht schon bis zur Antike so. Es sind immer die Angreifer, die mit einer scheinbaren Übermacht doch an den Verteidigern scheitern, niemals umgekehrt die Angreifer, die mit einer absolut unterlegenen Truppe die Verteidiger ausschalten (zumindest nicht auf breiter Front, höchstens in einzelnen begrenzten Schlachten / Szenarien, in denen der Angreifer einen Hinterhalt legen kann, was die Ausnahme ist).

Ich kann nur immer wieder wiederholen:
Russland hat die Wirtschaftskraft von Italien, nicht mal die von Deutschland oder Frankreich.
Ja, Russland ist, wie auch Nordkorea, im Rahmen seiner Möglichkeiten maximal hochgerüstet, aber das stößt an Grenzen.

Russlands Schlagkraft wurde über Jahrzehnte immer wieder überschätzt. Russland hat in keinem einzigen Krieg seit dem Ende des zweiten Weltkriegs wirklich überzeugen können. Afghanistan war auch für Russland eine Katastrophe, für das mickrige Tschetschenien brauchte man zwei Anläufe und etliche Jahre… alle anderen Kriege mit Beteiligung der Sowjetunion waren eher in der Unterstützer-Rolle.

Russland hat einen massiven Mythos aufgebaut, der im Kern immer noch auf dem Sieg Russlands über die Nazis im zweiten Weltkrieg beruht. Real ist an diesem Mythos nicht.

Beispiel: Russland gibt an, über 12.000 Panzer zu verfügen - und damit ähnlich viele Panzer wie die NATO zu haben. Daran gibt es aber laut diesem Bericht der fr erhebliche Zweifel..

Daraus:

Siehe dazu auch diesen Artikel: Wo sind die 10.000 russischen Panzer.

Ja, viele west- und zentraleuropäische Staaten haben in der Vergangenheit vielleicht etwas zu stark am Militär gespart, aber wir müssen einfach verdammt aufpassen, dass das „Schreckgespenst Russland“ nicht genutzt wird, um uns zu überzeugen, in’s komplette Gegenteil umzuschlagen. Eine realistische Bedrohung selbst der europäischen NATO-Truppen durch Russland sehe ich einfach nicht, gemessen an allem, was wir von Russland auf dem Schlachtfeld seit 1945 gesehen haben. Ich sehe einfach nur einen maßlos überzogenen Mythos, einen volkswirtschaftlichen Trabi mit einer gut inszenierten Porsche-Verkleidung aus Pappmaché…

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Und Russland (bzw. die Sowjetunion) ist im Zweiten Weltkrieg massiv von den USA unterstützt worden, mit annähernd soviel Material wie die USA für ihre eigenen Truppen nach Europa geschickt haben. Dazu kam noch eine Menge aus Großbritannien.

Ich komme in all diesen Diskussionen immer wieder zu der Frage: Brauchen wir eine Bundeswehr in der aktuellen Form und Grösse?
Wenn die Bedrohungslage so gering bzw absehbar in Europa ist, warum dann keine gemeinsame Lösung?
Jedes NATO Mitglied stellt nach eigenen Möglichkeiten eine Division oder Bataillon, oder man macht gemischte Einheiten, wo jedes Land Spezialisten stellt, Luxemburg zum Beispiel Sanitäter, Deutschland Panzertruppe, Frankreich Marine, etc…
Vorteil: einheitliches Material, das günstiger eingekauft wird, koordinierte Kommunikation, gut ausgerüstete, top ausgebildete Soldaten, die schnell verlegbar sind.
Nachteil: Länderinteressen müssten hinten angestellt werden, die Motivation aus nationalen Motiven entfällt, mehr Abstimmungsbedarf.

Aber eine Option?

Vielleicht wird sich sowas in Osteuropa herausbilden. In Polen wird mit einem engen Bündnis der Staaten zwischen Baltikum und Adria geworben.

Aber Deutschland, Frankreich, UK, Spanien, Italien fehlt der Wille zur Einigung - und auch der Zwang dazu, wie ihn nun einige Nachbarn Russlands verspüren.

Und auf absehbare Zeit dürfte es ausgeschlossen, dass sich irgendjemand im militärischen Bereich auf Deutschland verlässt.

Leider haben sich Frankreich und die Niederlande 2004 gegen eine EU-Verfassung ausgesprochen und auf ihre Nationalstaatlichkeit bestanden. Wäre die EU-Verfassung durchgekommen, wäre die Europäische Union heute wesentlich näher daran, ein Staat im klassischen Sinne zu sein und wir hätten mit ziemlicher Sicherheit eine gemeinsame, europäische Armee, denn die EU-Verfassung beinhaltete auch eine verstärkte Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Ich habe schon vor dem Ukraine-Krieg klar die Idee einer europäischen Armee vertreten, weil es einfach unglaublich ineffizient ist, wenn alle EU-Staaten eigene „Vollarmeen“ mit allen Teilstreitkräften unterhalten müssen. Das macht vor allem für die ganz kleinen Länder keinen Sinn, aber Länder wie Deutschland und Frankreich könnten mit mehr Spezialisierung weit mehr erreichen. Insofern Auslandseinsätze dieser europäischen Armee von den EU-Staaten einstimmig beschlossen werden müssen droht auch keine Gefahr der Militarisierung, im Gegenteil, die einzelnen Staaten könnten ihre Armeen nicht mehr nach eigenem Ermessen in den Krieg schicken…

Leider liegt eine wirkliche europäische Armee in weiter Ferne, nicht nur, weil u.a. Frankreich nicht akzeptieren, ihre Armee der EU zu unterstellen, sondern auch, weil wir mit Ungarn und co. zu viele potentielle Quertreiber haben, die das Einstimmigkeitsprinzip nutzen könnten, um die EU zu erpressen (wie es zuvor die Briten gerne getan haben…).

Dennoch geht der Trend auch auf der europäischen Ebene klar in Richtung mehr gemeinsame Koordination und Zusammenarbeit. Es geht daher ganz langsam in jedem Fall in die Richtung einer Europaarmee.Aber die ganzen redundanten Mehrfachstrukturen der nationalen Armeen abzubauen wird halt nur gelingen, wenn man sich auf eine gemeinsame Dachstruktur und eine klare Spezialisierung der einzelnen Länder verständigt…

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Wenn man die USA wegdenkt, gibt es die NATO als schlagkräftiges Bündnis gar nicht mehr. Alles, was die Europäer sich nach kurzer Schockstarre gegenüber Russland „herausnehmen“, passiert unter dem Schutzschirm des US-Militärs. Allein die Rückendeckung der USA sorgt für eine (ziemlich) geeinte Front „des Westens“ gegenüber Russland. Müsste Olaf Scholz ernsthaft befürchten, dass ein paar russische Raketen auf deutschem Boden landen, würde Deutschland dennoch Waffen an die Ukraine liefern? Oder Frankreich? Oder Spanien, Italien, die Niederlande? Hätte Polen eine Gutteil seiner Kampfpanzer an die Ukraine abgegeben?

Bei aller Beschränktheit des russischen Militärs, eine „Superkraft“ stellen sie in diesem Krieg unter Beweis: aberwitzige Verluste hinzunehmen und dennoch stoisch weiter den Befehlen aus dem Kreml zu folgen. Wäre die Opferbereitschaft auf Seiten der Ukrainer nicht ebenso ausgeprägt, könnte das russische Militär allein dadurch schon einen entscheidenden Vorteil erzielen. Ich bezweifle, dass irgendeine der Regierungen westlich von Warschau es durchhalten könnte, zehntausende der eigenen Soldaten in den Tod zu schicken, um z. B. eine lokale begrenzte Grenzstreitigkeit zwischen den baltischen Staaten und Russland zugunsten der ersteren zu entscheiden. Und Kernwaffen werden Frankreich oder UK bestimmt nicht einsetzen, solange nicht ein Durchmarsch „des Russen“ bis Berlin oder noch weiter zu befürchten steht.

Wie würde die Lage heute mit einem Präsidenten Trump im Weißen Haus aussehen? Deutschland wäre dann null handlungsfähig, denn unsere Regierung gesteht ja offen ein, dass man ohne die Führung der USA zu keinerlei risikobehafteten Handlung in der Lage ist. Und wenn man das einmal weiter denkt, wird meines Erachtens klar, dass auch in Europa jeder Staat bestrebt sein sollte, seine Sicherheitsinteressen selbst durchsetzen zu können. Wenn es hart auf hart kommt, ist auf andere, deren Interessen etwas anders gelagert sind, kein Verlass. Niemand führt dies so gut vor wie unsere (in dieser Frage) unsägliche Regierung.

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Das sind alles Annahmen vor dem Hintergrund der aktuellen Situation.

Wie es wirklich aussehen würde, wenn Russland z.B. während einer zweiten Amtszeit Trumps in Estland einmarschiert und die USA sagen: „Meh, wir sind raus aus der NATO“, können wir nicht beurteilen.

Ja, die letzten Jahrzehnte war es verdammt gemütlich, sich stets hinter den USA zu verstecken. Aber mit größeren Herausforderungen würde man eben auch über sich hinaus wachsen. Man könnte fast argumentieren, dass das nötig wäre: Denn so lange die USA in der NATO so mächtig sind, dass sie alleine auf Grund ihrer militärischen Stärke de-fakto immer den Ton angeben, ist es eben auch schwierig, aus dem Schatten der USA hervorzutreten.

Daher nochmal:
Die Zahlen im Hinblick auf die militärische Stärke sind verheerend für Russland. Russland hat schon beim Einmarsch in die Ukraine den Fehler gemacht, die Gegenwehr zu unterschätzen. Bei einem Einmarsch in ein EU-Land zu denken (nach einem theoretischen Wegfall der USA aus der NATO), die EU würde sich kampflos ergeben, wäre genau so falsch wie die russische Erwartung im Hinblick auf die Ukraine war.

Gerade die Polen würden kein Stück weniger starken Widerstand leisten als die Ukrainer - und die restliche EU würde definitiv alles an mobilen Truppen, Ausrüstung und Munition schicken, was man irgendwie im Lager hat. Denn in diesem Szenario muss man nichts zurückhalten, da außer Russland kein anderer Angreifer in Frage kommt (also Marokko wird nicht plötzlich in Spanien einfallen ^^). Es gibt für Europa in diesem Sinne nur eine Flanke, und an die würde man absolut alles schicken, was verfügbar ist.

Russland kann gerne bereit sein, tausende Soldaten mit schlechter Ausrüstung zu verheizen. Selbst wenn in Europa die Zahl der Kriegsdienstverweigerer größer wäre, bei einer Gesamtbevölkerung von über 500 Millionen auf Seiten der EU (+europäische NATO-Staaten) gegen 144 Millionen auf Seiten Russlands wäre auch das „not even close“, von der weit überlegenen Ausrüstung mal ganz abgesehen.

Die europäische Verteidigungsstärke wird leider konsequent klein geredet (auch die Bundeswehr, die trotz aller Mängel weit besser ist als ihr Ruf), die Russen hingegen konsequent überhöht. Nochmal: Die EU hat drei Mal so viele Einwohner, eine 9-mal so hohe Wirtschaftskraft (mit entsprechendem Potential bei Umstellung auf eine Kriegswirtschaft), mehr als doppelt so viele Soldaten und deutlich mehr und modernere Wehrtechnik.

Die Leute müssen endlich aufhören, so zu tun, als sei Russland der Riese und Europa der Zwerg. Das Gegenteil ist der Fall. Selbst wenn man bei all diesen Zahlen zum Ergebnis kommen würde, dass Russland wegen der Rücksichtslosigkeit der Kriegsführung auf Augenhöhe mit der EU sei, wäre ein Angriffskrieg auf Augenhöhe trotzdem ein Szenario, welches Russland unmöglich gewinnen könnte, denn für einen solchen Krieg braucht man eben eine klare Überlegenheit und die ist beim besten Willen, selbst bei der pessimistischsten Betrachtung Europas und der optimistischsten Betrachtung Russlands, absolut und ohne jeden Zweifel ausgeschlossen.

Ich würde mich natürlich freuen, wenn Putin das auch so sieht und die EU nicht angreifen wird.
Der Politikwissenschaftler Gustav Gressel glaubt, dass Russland in 10 Jahren bei uns einmarschieren wird, wenn es in der Ukraine keine herbe Niederlage erleidet. "Die Alternative hieße, in zehn Jahren selbst Krieg führen zu müssen, gegen ein ... | Presseportal

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Also wenn man sich diesen Artikel durchliest merkt man schon, dass Gressel hier vor allem aufrütteln will und sich dadurch deutlicher Übertreibungen bedient. Er will quasi Angst machen, damit Europa in der Ukraine stärker interveniert.

Ich unterstütze auch seine allgemeine Aussage - ich habe auch in der Vergangenheit immer wieder gesagt, das Russland aus diesem Angriffskrieg mit keinem Quadratkilometer Landgewinn rausgehen darf, da die europäische Friedensordnung sonst dauerhaft beschädigt wird.

Der Punkt, an dem unsere Meinungen auseinander gehen, ist der Punkt, was Russlands nächstes Ziel wäre, wenn es in der Ukraine Landgewinne verzeichnen könnte. Hier ist ganz klar: Das nächste Ziel wäre die Landbrücke nach Transnistrien (daher Odessa und co.), das übernächste Ziel wäre die Gesamtukraine, danach käme Moldawien. Das wären die Ziele Russlands auf die nächsten Jahre bis Jahrzehnte, da diese Ziele vor dem Hintergrund eines Sieges im aktuellen Ukraine-Krieg tatsächlich erreichbar wären.

Das Szenario, dass Russland bei „uns“, gemeint ist wohl die NATO/EU, daher das Baltikum oder Finnland, einmarschieren könnte, geschweige denn bei „uns“ im engeren Sinne, also Deutschland, halte ich wie gesagt für völlig ausgeschlossen. Dieses Szenario soll Angst machen und dadurch Tätigkeit hervorrufen, denn die wesentlich realistische Annahme, dass Russland dann „in einigen Jahren wieder in die Ukraine einfallen würde“, schockiert eben nicht so stark.