Menschenrecht auf Anonymität

Ihr habt im Segment über den Einsatz von KI zur Ermittlung von Straftätern auf ein Menschenrecht auf Anonymität hingewiesen. Das ist, sofern ich mich recht entsinne, in der Vergangenheit schon einmal erwähnt worden.

Woraus leitet sich das Recht ab? Insbesondere bezogen auf Internet? Wenn ich gewisse öffentliche Räume beanspruche und nutze, habe ich dieses Recht (gegenüber Behörden) doch auch nicht.

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Jein. Natürlich hat der Staat in bestimmten Situationen das Recht, die Anonymität einzuschränken, was jedoch stets problematisch ist - sowohl in real-life als auch im Internet - ist es, wenn der Staat oder Drittanbieter die Anonymität anlasslos völlig oder teilweise aufheben können, also gegen den Willen des Betroffenen Handlungen des Individuums im öffentlichen Raum (zu dem auch das öffentliche Internet gehört) aufzeichnen oder gar verbreiten (wie bei PimEyes durch De-Anonymisierung zufälliger Fotos im öffentlichen Raum).

Selbstverständlich gibt es keine „absolute Anonymität“, wer ein KFZ führt muss z.B. mit der Einschränkung der Anonymität im Hinblick auf das Kennzeichen leben, wer einen Bahnhof (oder bestimmte öffentliche Plätze) betritt wird auch damit leben müssen, dass dort Videoaufnahmen gemacht werden. Wenn der Staat jedoch plötzlich anfängt, anlasslos diese Daten zu bündeln und bei Bedarf mit KI auszuwerten, hätten wir ein riesiges Problem im Hinblick auf die Anonymität.

Ähnliches gilt auch für das Internet. Das Schlagwort „Menschenrecht auf Anonymität“ kann wohl wie auch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung am ehesten über Art. 8 Abs. 1 der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hergeleitet werden. Dieser besagt:

Dieses Recht setzt ein Mindestmaß an Anonymität zwingend voraus, auch im öffentlichen Raum und im Internet, da unser Privat- und Familienleben nahezu zwangsläufig auch im öffentlichen Raum stattfindet und unsere Korrespondenz in der modernen Zeit größtenteils über das Internet abläuft. „Privatleben“ umfasst eben mehr als das, was in geschlossenen privaten Räumen passiert, sondern auch z.B. was auf den Wegen zwischen diesen Räumen oder bei der Verrichtung notwendiger Geschäfte des Alltags (z.B. einkaufen im Supermarkt) passiert.

Wie hoch dieses Mindestmaß an Anonymität anzusetzen ist, hängt natürlich von der eigenen politischen Auffassung ab, hier vertreten die GFF oder der CCC natürlich ganz andere Positionen als konservative Parteien oder oder Strafverfolgungsbehörden. Dass es jedoch in einer freiheitlichen Gesellschaft ein Mindestmaß an Anonymität auch im öffentlichen Raum geben muss bestreitet nahezu niemand.

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Ich persönlich muss sagen, dass ich die Aufregung wenig nachempfinden kann. Nachschärfen des Gesetzes gerne, aber bereits jetzt kann man über Google und CO bereits nach Personen suchen. Es ist eben eine individuelle Entscheidung, was man von sich in welchem Maße ins Netz stellt.

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Ja und Nein.

Also dagegen, dass Behörden Daten nutzen dürfen, die Menschen bewusst und wissentlich von sich im Internet preisgegeben haben, habe ich auch nichts. Also wenn ich Fotos auf mein öffentliches Facebook-Profil stellen würde, wäre ich quasi damit einverstanden, dass diese auch genutzt werden.

Problematisch wird es aber dadurch, dass Informationen durch Dritte in’s Internet gestellt werden, wenn es also um Information geht, die ich gerade nicht freiwillig preisgegeben habe. Beispiel: Irgendwer macht in der Innenstadt ein Urlaubsfoto und du bist im Hintergrund dabei zu sehen, wie du gerade in den örtlichen Erotik-Store gehst und packt das auf seine Facebook-Seite. Und nun de-anonymisiert eine KI die Fotos, jemand sucht - aus Jux und Dollerei - nach dir über eine Seite wie PimEyes und stößt auf dieses Foto… oder auch nur: Jemand macht ein Foto in Urlaubsland XYZ und du bist auf dem Foto, wolltest aber, aus welchem Grund auch immer, dass nicht die ganze Welt weiß, dass du zu der Zeit in Land XYZ warst. Ohne KI-Auswertung ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand auf diese Fotos stößt, gleich Null. Mit KI-Auswertung ist plötzlich ein großer Teil der Anonymität passé.

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Sind Grundrechte nicht Abwehrrechte gegenüber Staaten? Als solches kann es doch in keiner Dimension ein Recht auf Anonymität geben.

Dass jeder gegenüber anderen Mitbürgern und Unternehmen ein Anrecht auf ein Mindestmaß an Anonymität ist m.E eine Binse. Natürlich gibt es das? Das begegnet uns jeden Tag im Alltag und woraus sollte sich auch das Gegenteil ableiten?

Aber gegenüber dem Staat haben wir nie ein Anrecht auf Anonymität. Der Staat muss grundsätzlich immer in der Lage sein jedes Individuum in seinem Hoheitsgebiet identifizieren zu können. Jeder Deutsche ist verpflichtet den Meldebestimmungen nachzukommen. Sollte diese Einschränkung auf Privatsphäre (also Verpflichtung der Bürger sich gegenüber des Staates in bestimmter Form kenntlich zu machen) im Internet nicht fortbestehen?

In der Folge, als es um den Tor-Browser ging, wurde z.B. wieder auf das Grundrecht der Anonymität verwiesen, was ja letztlich nur als Abwehrrecht gegenüber dem Staat und seinem Behörden verstanden werden kann. Mir ist nicht klar, woraus sich das ableiten sollte.

Nicht dass man ein unsinniges Tor-Verbot durchsetzen oder wieder Themen wie Klarnamenpflicht aufwärmen sollte. Mir erscheint nur ein grundsätzlich verbrieftes Menschenrecht darauf seine Identität gegenüber dem Staat verschleiern zu dürfen für nicht ableitbar - oder?

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Die beiden Aussagen passen meiner Meinung nach nicht zusammen.
Ja, Grundrechte sind primär Abwehrrechte gegen den Staat, allerdings ist hier auch die Drittwirkung von Grundrechten von Bedeutung - wenn es um Plattformen wie PimEyes geht wird diskutiert, inwiefern der Staat im Rahmen einer Schutzpflicht verpflichtet ist, Grundrechtseingriffe durch nicht-staatliche Träger zu verhindern. Die Drittwirkung von Grundrechten wird in den letzten Jahrzehnten immer bedeutender, weil die Machtverhältnisse zwischen „Staat“ und „Großunternehmen“ mehr und mehr in Richtung der Unternehmen verschoben wurden. Wenn plötzlich Unternehmen wie Facebook, Twitter und co. so viel Macht haben, dass sie Grundrechte der Bürger in großem Maßstab einschränken können, wird es notwendig, dass der Staat auch Privatunternehmen an die Grundrechte bindet.

Aber wie du ja selbst sagst, geht es hier konkret um das Verhältnis Staat zu Bürger.

Das ist so nicht korrekt. Der Staat darf z.B. nicht jederzeit unbegründete Personenkontrollen durchführen, du bist auch nicht verpflichtet, jederzeit deinen Ausweis mit dir zu führen. Ja, es gibt Meldepflichten und andere Einschränkungen der Privatsphäre, aber das, was du hier schilderst („Der Staat muss grundsätzlich immer in der Lage sein jedes Individuum in seinem Hoheitsgebiet identifizieren zu können.“) ist die Definition eines Polizeistaates, nicht einer freiheitlichen Demokratie. In einer freiheitlichen Demokratie hat der Staat ein Recht, ein Individuum zu identifizieren, wenn er in der konkreten Situation ein berechtigtes Interesse hat. Daher: Wenn der (nachvollziehbare!) Verdacht einer Straftat vorliegt, darf die Polizei dich zur Identifizierung anhalten und sogar auf die Wache nehmen. Aber sonst eben nicht! Und genau das wird auch für das Internet gefordert, genau das wäre das Resultat von „Quick Freeze vs. Vorratsdatenspeicherung“. Die Vorratsdatenspeicherung entspricht der permanenten Kontrolle aller Bürger im öffentlichen Raum, der Quick Freeze entspricht der Kontrolle bei konkretem Verdacht einer Straftat.

Wie gesagt, eine völlige Aufhebung der Anonymität, egal ob im öffentlichen Raum oder im Internet, ist ein Kennzeichen für einen Polizeistaat, nicht für eine freiheitliche Demokratie. Wie man das Recht auf Anonymität herleiten kann, habe ich im letzten Beitrag recht klar anhand von Art. 8 Abs. 1 EMRK dargestellt.

Und ja, du darfst dich im öffentlichen Raum auch verschleiern, wenn du das möchtest. Das Vermummungsverbot gilt nur auf Demonstrationen (und ist demokratietheoretisch schon stark umstritten. Fun Fact: Die Einführung eines Vermummungsverbotes war beim Euromaidan in der Ukraine einer der Tropfen, die das Fass zum Überlaufen gebracht haben…), ansonsten gibt es gerade keine Gesetze, die es dir verbieten würden, dich verschleiert in der Öffentlichkeit zu bewegen. Auch wenn konservative Sicherheitspolitiker gerne die Burka-Verbots-Debatte verwenden würden, um ein generelles öffentliches Verscheierungsverbot durchzusetzen… ein Schelm, wer Böses dabei denkt, den konservativen Sicherheitspolitikern geht es natürlich dabei um Frauenrechte, wir wissen ja alle, welche Priorität Frauenrechte für diese Leute haben :wink:

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Ein Vemummumgsverbot ist erst recht kritisch zu sehen wenn die Gefahr der Auswertung von Bildmaterial einer Demo mit KI und Abgleich mit Biometrischen Datenbanken wie etwa vom staatlichen Ausweis droht.

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Ich bin mit allem d‘accord. Es gibt vermutlich ein Missverständnis. Eigentlich hatte ich gehofft, dass klar wird, dass ich genau diese Pflicht (sich auszuweisen) nicht meinte.

Technisch: Der Staat muss grundsätzlich die Möglichkeit haben jeden zu identifizieren. Dies darf nicht ansatzlos geschehen, aber jemand, der sich dieser grundsätzlichen Möglichkeit entzieht, macht sich strafbar.

Wie lässt sich das aufs Internet übertragen? Der Staat darf nicht unbegründet unsere Identität feststellen. Aber: Handelt jemand, der Tor benutzt, nicht so wie jemand, der seiner Meldepflicht nicht nachkommt? Wie soll der Staat in begründeten Fällen noch die Identität feststellen?

Hier gilt doch auch die Datensparsamkeit und Minimierung.
Was nicht gebraucht wird, wird nicht gespeichert und kann somit nicht in fremde Hände fallen.

Ergo fragen wir uns: Wofür braucht der Staat welche Daten? Wie können wir hier dafür sorgen dass nur das Notwendigste temporär gebraucht wird?

Tor Nutzen als aktive Straftat zu begreifen ist doch albern.

aber dieses Prinzip wäre ja nicht verletzt, wenn der Staat gezielt mit KI im Internet nach Straftätern sucht.

In der aktuellen Situation haben wir ein krasses Missverhältniss, in der Privatpersonen mit KI-Tools Personen identifizieren können, aber der Staat nicht. Das ist ungefähr so, als würde man sagen, Privatpersonen dürfen jederzeit anderer Leute Ausweise verlangen aber Polizei und Behörden nicht.

Man stelle sich vor, derzeit kann ein Auftragsmörder seine Zielperson mit Hilfe dieser Tools orten, aber die Polizei kann nicht den Auftragsmörder mit den selben Tools verfolgen?

Dieses Missverhältniss darf es nicht geben. Also gibt es zwei Optionen. Entweder niemand darf Zugang zu diesen Tools haben, oder der Staat muss auch Zugang dazu haben.

Mir persönlich wäre Option 1 lieber, die Frage ist ob das erreichbar ist, weil die Unternehmen ja in den USA sitzen. Grundsätzlich könnte man sich vorstellen, die Nutzung und Bereitstellung solcher Tools für Privatpersonen unter Strafe zu stellen, man könnte auch Sanktionen gegen die Unternehmen, die diese Tools anbieten verhängen, aber ob das wirklich reicht um sie zu beseitigen? und wie reagieren die USA in denen diese Unternehmen ja sitzen? Sind wir bereit uns mit den USA ersthaft anzulegen in dieser Frage?

Wenn herauskommt, das es nicht möglich ist, diese Tools zu eliminieren, dann muss zumindest er Staat sie auch nutzen können.

Nur als kleiner Einwurf: Nach § 127 StPO - Einzelnorm darf das jeder. Polizei ist garnicht notwendig. Die hat‘s nur wegen der eingebauten Autorität einfacher, und muss sich weniger Gedanken machen, ob ein Richter ihre Einschätzung teilen würde.

Wobei das nicht immer so war. Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen und im ÖPNV war und ist umstritten und ist lange Zeit ähnlich wie staatliche Überwachung im Internet durch Bürgerrechtler problematisiert worden. Auch heute ist die private Überwachung öffentlicher Flächen de jure verboten, auch wenn viele Eigenheimbesitzer gerne ihre Kameras auf den Bürgersteig richten.

Gibt es eigentlich irgendwo rigorose Auswertungen über den kriminalistischen „Mehrwert“ von Videoüberwachung und anderen Maßnahmen, die die Anonymisierung einschränken? Es wird von konservativer/polizeilicher Seite gerne so getan, dass all diese Maßnahmen „natürlich“ der Strafverfolgung dienlich sind, aber ist das mal unabhängig untersucht worden? Und welche Maßnahmen sind dabei sinnvoller als andere?

Das ist es schon lange nicht mehr. Wenn ich mich im öffentlichen Raum bewege, dann muss ich damit rechnen, dass Bilder von mir gemacht werden, weil heutzutage jeder ständig irgendwas mit dem Smartphone fotografiert. Ich kann nicht kontrollieren, ob ich mich da zufällig im Bild befinde.

Und diese Bilder werden automatisch bei Google oder Apple in die Cloud hochgeladen und dort auch mittels KI gesichtet und analysiert. Ich habe auch keinerlei Einfluss darauf, ob die Besitzer dieser Dateien diese dann öffentlich auf Social Media teilen.

Es ist inzwischen extrem wahrscheinlich, dass wenn du zum Beispiel ein Wochenendausflug nach Paris machst, dass dein Gesicht danach in irgendeinem georeferenzierbaren Bild im Internet aufzufinden ist. Und zwar egal ob du das willst oder nicht.

Darauf wurde in der Sendung eingegangen. Der Staat hat das Recht, bei gesetzlich begründeter Notwendigkeit deine Identität festzustellen. Aber es kann sich nicht einfach ein Polizist in die Fußgängerzone stellen und sagen „jetzt lasse ich mir mal von dem Hansel da vorne den Perso zeigen, denn die Nase gefällt mir nicht.“

Wenn man sich lediglich in der Innenstadt aufhält, darf die Polizei keine verdachtsunabhängige Personenkontrolle durchführen. Eine Kontrolle allein wegen der Haar- oder Hautfarbe oder der Herkunft ist nicht erlaubt und verstößt gegen das Diskriminierungsverbot. Personenkontrolle – was darf die Polizei?

Unser Leben verlagert sich zunehmend und seit Jahren schon in den virtuellen Raum. Warum sollte ich ein Recht (= die Polizei darf nicht „einfach so“ meine Identität feststellen) aufgeben, nur weil ich meinen Alltag im Internet statt in der Fußgängerzone verbringe?

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Stimme eurer Einschätzung bezüglich verdachtsunabhängiger Kontrollen zu, und dass nicht-weiße Menschen mit Sicherheit stärker kontrolliert werden als weiße. Würde allerdings vorschlagen, dass als Beispiel für einen nicht-weißen Menschen nicht gerade Jérôme Boateng genannt wird. Ich verstehe natürlich die Anspielung (nehme an das zielte auf das Zitat Gaulands ab), aber Boateng ist so ein umstrittener Mensch, gegen den, wie ihr sicherlich wisst, zahlreiche Vorwürfe von häuslicher Gewalt vorliegen, ich finde es also kein gelungenes Beispiel für einen nicht-weißen Menschen, der tendenziell völlig zu Unrecht verdächtigt wird.
Hier sind ein paar Beispiele für andere Personen des öffentlichen Lebens die mir spontan in den Kopf kommen: Teddy (Comidian, Tedros Teclebrhan), Jorge González (Choreograf/Model, u.a. bekannt aus Let’s Dance) oder, passend zum Podcast, Aminata Touré (Bündnis 90/Die Grünen).

Viele Grüße, Carla