Mehr Psychotherapie für Geflüchtete, weniger für Menschen mit deutschem Pass?

Karl Lauterbach hat einen Gesetzesänderung vorgeschlagen, mit der für Psychotherapeut:innen und Ärzt:innen Sonderkontingente geschaffen werden sollen, um vulnerable Gruppen zu versorgen, unter anderem Geflüchtete. Das Ziel: zukünftige Attentate verhindern.
Der Clou: die Kontingente werden unabhängig von einem Kassensitz ausgeschrieben. Sprich, die absolute Zahl der mit der Kasse abrechenbaren Stunden in Deutschland steigt. Das ergibt Sinn, da das Problem nicht ist, dass wir zu wenige Therapeut:innen haben (zumindest noch nicht, da die Ausbildungsreform Psychotherapie nicht finanziert ist, könnte das in ein paar Jahren auch anders aussehen), sondern dass es nur eine begrenzte Anzahl von Kassensitzen gibt, die seit den 70er Jahren in ihrer Zahl nicht mehr angepasst wurden und dem Bedarf einfach nicht entsprechen.
Die Kritik: kommt von 2 Seiten. Und schließlich auch von mir.

  1. von Leuten die seit Monaten mit deutschem Pass auf eine Psychotherapie warten und hier eine ungerechte Bevorzugung sehen. Denen muss man sagen: nein. Die Warteliste bei Therapeut:innen mit Kassensitz wird dadurch nicht länger, sondern im Zweifel KÜRZER, weil Personen die mit dem Sonderkontingent versorgt werden können, dann zu Therapeut:innen gehen, die nach Sonderkontingent behandeln und keinen Kassensitz haben (es ergibt 0 Sinn, beides zu haben, man braucht ja nur einmal die Ermächtigung, abrechnen zu dürfen). Mit ihrer grundsätzlichen Kritik an der Versorgungslage haben sie aber natürlich trotzdem recht, und an den Kommentaren unter dem Instagram-Post von Lauterbach zu dem Thema sieht man, wie schnell sich diese beiden Probleme zu einer populistischen Aussage verbinden lassen: die Ausländer nehmen uns die raren Therapieplätze weg. Karl Lauterbach on Instagram: "Die psychotherapeutische Behandlung von traumatisierten Geflüchteten wurde viel zu lange vernachlässigt. Fremd- und Selbstgefährdung können die Folge sein. Am Freitag wurde im Bundesrat unsere Verbesserung beschlossen. Sie war längst überfällig. https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/lauterbach-therapie-fluechtlinge-verband-deutscher-psychotherapeuten-100.html"

  2. Parallel gibt es noch Kritik aus der Gegenrichtung, und die ist substantiell: diese Kontingente gelten nur, wenn man gesetzlich versichert ist. Das sind die meisten Menschen die nach Deutschland kommen als Asylsuchende in den ersten 36 Monaten nicht. Sprich: diese Regelung geht am Bedarf vorbei. Je nach Studie wird das Vorliegen psychischer Störungen, vor allem Trauma-assoziiert, auf 30-80% geschätzt in Geflüchteten-Populationen. Wer beispielsweise an einer Posttraumatischen Belastungsstörung leidet, kann sich nicht konzentrieren und somit weder Deutsch noch einen Beruf lernen, außerdem ist die Wahrscheinlichkeit viel höher, körperliche Erkrankungen zu bekommen, und eine Behandlung wird tendenziell immer schwieriger und länger, je chronifizierter die Erkrankung ist. Es somit teuer und kurzsichtig, gerade diese Menschen weiterhin kaum zu versorgen. Außerdem bezahlt die Krankenkasse Stand jetzt keine Dolmetschenden für Psychotherapien. Also Therapie für Geflüchtete gerne, wenn sie schon jahrelang unbehandelt hier sind und in der Zeit Deutsch oder Englisch gelernt haben.
    https://www.baff-zentren.org/aktuelles/mehr-therapieplaetze-warum-gefluechtete-menschen-nicht-von-lauterbachs-neuer-ermaechtigungsregelung-profitieren-werden/

  3. Meine persönliche Kritik bezieht sich auf das Ziel, Attentate zu verhindern. Ein Zusammenhang zwischen Gewaltbereitschaft und psychischen Erkrankungen zeigt sich vor allem für Suchterkrankungen und für wahnhafte und psychotische Erkrankungen. Diese sind die vorherrschende Diagnose in der Forensik. Sie sind NICHT die typische Reaktion auf Traumata. So lobenswert und ökonomisch sinnvoll mehr Psychotherapie für Geflüchtete ist, es ist zu sehr Gießkanne, um diesem Gefährdungspotential Einzelner zu begegnen. Was es hier braucht, ist eine Stärkung der entsprechenden Dienste und Versorgungsangebote in Psychiatrie und Sozialarbeit. Damit würde man auch direkt noch Attentate durch deutsche Personen verhindern, die aufgrund einer psychischen Störung gefährlich sind - ja, prozentual weniger, aber im absoluten Zahlen deutlich mehr als in der Geflüchteten-Population.
    https://ora.ox.ac.uk/objects/uuid:2f36c150-3c92-4032-8a08-daa4e2c2d730/download_file?safe_filename=WhitingetalAAM2020.pdf&file_format=pdf&type_of_work=Journal+article

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