Lebenswirklichkeit in Ostdeutschland

Für mich war es absurd, in derselben Folge Steffen Mau mit seinen treffenden Aussagen zum Lebensgefühl im Osten zu hören (Leseempfehlung!) und dann diese belächelnden Aussagen zu bekommen, im Osten gäbe es ja eh weniger Bezugspunkte. Ich stimme @Lean zum Großteil zu. Hier im tiefsten Ostsachsen gibt es zwar einen verschwindend kleinen Anteil Geflüchteter in der Bevölkerung, aber die neue Balkanroute über Polen endet hier. Das heißt, in Ostsachsen (nur dafür kann ich sprechen) haben wir spätestens seit 2023 alltäglichen Bezug in Gartenzaungesprächen und der Tageszeitung zu Schleuserkriminalität und Asylsuchenden. Besonders letztes Jahr kamen Helikopter und Verfolgungsjagden on top. Die Geflüchteten werden dann üblicher- und richtigerweise in entsprechende Asylverfahren oder Einrichtungen gebracht. Vermittle mal der Dorf- und Kleinstadtbevölkerung, dass das alles gut und richtig ist, weil das unsere kommenden Fach- und v.a. Pflegekräfte werden. Die Beschwerden treffen zwar die Migranten, ursächlich ist aber der Migrationsprozess.

In Chemnitz ist der Anteil der ausländischen Bevölkerung von 2010 bis 2020 von 3,0 auf 8,8% gestiegen. Seitdem hat er sich der Anstieg etwas beschleunigt auf 13,8% im Hahr 2023. Dazu lässt sich erstmal sagen, dass 13,8% für eine deutsche Großstadt ziemlich wenig ist.

Aber dir ging es ja um die „Geschwindigkeit des Wandels“ der Chemnitz (stellvertretend für Ostdeutschland) erheblich höher sei als im Westen.

Nur um mal ein ziemlich zufälliges Beispiel einer westdeutschen Stadt zu nehmen: Mainz. Dort hat sich der Ausländeranteil von 14,8% im Jahr 2010 auf gut 20% Mitte 2024 gestiegen.

Gab es in Chemnitz einen stärkeren Anstieg? Ja, aber mal Hand auf’s Herz: der Unterschied ist doch minimal. Wenn daraus für Chemnitzer besondere Herausforderungen entstanden sind, dann scheint das doch eher spezifisch lokale Gründe zu haben, als das man das an den Ausländern festmachen könnte.

Das ist doch erstmal kein Herabwürdigung Ostdeutschland, sondern nur die Beobachtung eines anderen Umgangs mit demokratischen Institutionen (zu denen Demonstrationen ja gehören). FfF war zudem kein spezifisch westdeutsches Phänomen, demonstriert wurde und wird auch im Osten – in Chemnitz zuletzt Mitte 2024. Dagegen ist es meines Wissens nach ziemlich unumstritten, dass sowohl die PEGIDA-Märsche, als auch anti-Impf-Demos und die Ostermärsche (nur um mal eine Bandbreite politischer Inhalte zu bilden) im Osten traditionell stärker sind/waren.

Dieses Zitat war ein Zitat, dass sich die Hosts gerade nicht zueigen gemacht haben.

Würdet du denn abstreiten, dass in einem Bundesland, in dem mehr als die Hälfte der Wähler explizit populistische Parteien wählen, offenbar besonders viele Menschen Hoffnung auf „schnelle und einfache Lösungen“ haben? Das Werben mit solchen Lösungen ist immerhin Kennzeichen populistischer Parteien.

Warum? Natürlich muss Demokratie erlernt werden. Das war in Westdeutschland nicht anders. Und in keinem anderen Land, das aus einer Diktatur herauskommt.

Dann solltest du mal die Diskussionen recherchieren, die in Frankreich selbst während der französischen Revolution geführt wurden. Oder innerhalb der Arbeiter- und Demokratiebewegung in seit der Industrialisierung. Aktuell wird zudem immer wieder über eine fehlende demokratische Kultur in den USA geredet und die Notwendigkeit zum Aufbau eines demokratischen Bewusstseins in diversen Entwicklungsländern ist ständiges Thema in allen möglichen Kreisen, die sich mit diesen Ländern beschäftigen.

Was man diesen Menschen hoch anrechnen muss. Aber die Geschichte ist voller Widerstandskämpfer und Demokratieaktisten, die irgendwann selbst autokratische Tendenzen entwickeln. Das passiert nicht zwangsläufig, ist aber oft das Ergebnis eines revolutionären Ereignisses, dem nicht der systematische Aufbau demokratischer Institutionen folgt.

3 „Gefällt mir“

Das ist noch lange kein Grund, Rechtsextreme zu wählen.

Die Herausforderung besteht wohl eher für die Ausländer, die in solch einer ihnen offensichtlich nicht wohlgesonnenen Umgebung leben (müssen).

Oha.

… ist übrigens ein Begriff des ostdeutschen Soziologen Steffen Mau.

Demokratieverständnis wird ja nun mal niemandem in die Wiege gelegt.

Kudos dafür. Aber war das wirklich die Mehrheit?

Das hat Mau doch beschrieben, als er sagte:

Politik ist dann eigentlich, dass die Politik mehr oder weniger Erfüllungsgehilfe der eigenen Wünsche ist.

Das ist doch fein.

Wodurch genau wird die Situation von Menschen vor Ort beeinträchtigt, wenn andere Menschen schlecht deutsch sprechen?

Hier in der Stadt leben Menschen aus fast allen Ländern der Erde. Der Ausländeranteil ist mehr als doppelt so hoch wie in Chemnitz, der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund ist gut viermal so hoch. Der AfD-Wähleranteil bei der Europawahl war in der sächsischen Großstadt mehr als dreimal so hoch wie hier. Hier ist man entspannt im Umgang mit Menschen, die (noch) Sprachschwierigkeiten mit dem Deutschen haben.

Es ist vielmehr ein merkwürdiges ‚Demokratieverständnis‘, wenn Leute rechtsextreme Demokratiefeinde wählen (und dann noch nicht mal dafür Verantwortung übernehmen wollen).

2 „Gefällt mir“

Was ich nicht verstehe: wenn die Demokratie im Osten so groß geschrieben wird, warum wird sich dann so wenig in Parteien engagiert?

2 „Gefällt mir“

Wenn der Tenor bei der Kritik ist „Wir“ (Wessis) erklären „euch“ (Ossis) jetzt mal wie Demokratie geht, dann kann ich durchaus verstehen, warum das sehr schräg rüberkommt. Denn solange in der Ex-DDR brav die klassischen Westparteien (allen voran CDU und SPD) gewählt wurden, hat sich niemand an der unzureichenden Demokratie der dortigen Wähler gestört. Bezogen auf die PDS/Linke, die ja in den Ost-Bundesländern immer schon deutlich stärker war, sah das schon anders aus. Und nun lösen die hohen Stimmanteile für die AfD noch sehr viel stärker solche Reaktionen aus, obwohl in absoluten Zahlen die Mehrheit der AfD-Wähler im Westen wohnen. Das erinnert mich schon etwas an Fußballspieler, die als „unsere Jungs“ gefeiert werden, so lange das Team erfolgreich ist und plötzlich wieder zu „Ausländern“ oder „Migranten“ werden, wenn es verliert.

Ich kann auch einen Teil der Kritik von @Lean verstehen. Einige Formulierungen von Ulf und Philipp wirkten auch auf mich etwas unterkomplex, vor hatte ich den Eindruck, dass ein bestimmtes Bild „vom Osten“ verallgemeinert wird - was in erster Linie die Realität von Menschen ignoriert, die tatsächlich versuchen, dem in vielen Gegenden herrschenden rechten Mainstream entwas entgegenzusetzen.

4 „Gefällt mir“

Vielleicht auch deshalb, weil die Vorstellung von Demokratie bei vielen doch recht eigentümlich ist. Forscher der Universität Leipzig haben das mal ermittelt:

„[…] Jeder zweite wünscht sich eine ‘starke Partei‘, die die ‚Volksgemeinschaft‘ insgesamt verkörpert. Statt pluralistischer Interessensvielfalt wird eine völkische Gemeinschaft gewünscht“, erläuterte Brähler. Decker fügt hinzu: „Unsere Untersuchung zeigt, dass sich derzeit viele Menschen in den ostdeutschen Bundesländern nicht mehr demokratische Teilhabe und Sicherung der demokratischen Grundrechte wünschen, sondern die scheinbare Sicherheit einer autoritären Staatlichkeit.“

1 „Gefällt mir“

So habe ich das Segment der LdN aber in keiner Weise wahrgenommen. Es sei denn, man lehnt einfach aus Prinzip ab, wenn Westdeutsche über Ostdeutschland reden. Das ist meiner Meinung nach aber eine extrem umkonstruktive Haltung, die andersherum wohl auch nicht akzeptiert werden würde.

Praktisch die einzigen, die sich darüber ernsthaft echauffiert haben waren die CDSU, aus deren Sicht inzwischen ja selbst die Grünen nicht koalitionsfähig sind. Muss man daran wirklich sein Selbstwertgefühl festmachen? Außerhalb der CDSU waren vor allem DDR-Bürgerrechtler der PDS/Linken gegenüber kritisch eingestellt, was man dieser Gruppe vielleicht nachsehen kann, wenn man bedenkt, dass die PDS die Nachfolgepartei der SED war.

Absolut gesehen ist in Deutschland praktisch bei jeder Frage die Mehrheit im Westen. Einfach weil im Osten (Berlin nehme ich da mal aus, ist ja soziologisch auch völlig anders) ein so geringer Anteil der Bevölkerung lebt. Darum sind ja relative Statistiken so hilfreich.

Ohne jetzt konkrete Belege parat zu haben: ich hab das schon auch darüber hinaus wahrgenommen, so ein wenig im Sinn von „die sind ja noch nicht richtig in der Demokratie angekommen, wenn die immer noch die alte SED wählen“. Auch von der SPD, die aus meiner Sicht eh in großen Teilen stets ein eher neurotisches Verhältnis zu PDS und noch mehr zur Linkspartei hatte. Und die Rhetorik von der „SED-Nachfolgepartei“ kam besonders gerne von CDU und FDP, die sich die jeweiligen DDR-Blockparteien inklusive Personal einfach einverleibt haben.
Und nein, niemand „muss“ sein Selbstwertgefühl daran festmachen, das habe ich aber auch nicht geschrieben und so habe ich hier auch niemand anders verstanden.

Gerade beim Blick auf die AfD habe ich oft den Eindruck, dass dies vielen eben nicht präsent ist. Dazu tragen auch grafische Darstellungen, etwa die berühmte Landkarte mit der jeweils stärksten Partei, bei der dann der gesamte Osten AfD-blau ist, während diese Farbe im Westen kaum zu sehen ist. So ein Bild ist allemal einprägsamer als jede Statistik.

2 „Gefällt mir“

Da hier von Chemnitz die Rede war, ist noch Folgendes interessant:

Hinter dieser ‚Abstimmung mit den Füßen‘ steckt keine Medienverschwörung, sondern sie hat durchaus reale Gründe:

Da kann man nur hoffen, dass sich in der nächsten Kulturhauptstadt Europas etwas zum Positiven wendet:

Aber es geht bei solchen Darstellungen doch gerade um gesellschaftliche Realitäten. Und da ist es doch egal, ob in Köln doppelt so viele AfDler rumlaufen wie in Chemnitz. Wenn die Bevölkerung in Köln viermal so groß ist, dann ist der gesellschaftliche Einfluss der AfD in eben Chemnitz trotzdem stärker.

Was die konkrete Karte angeht: ob „stärkste Partei“ eine sinnvolle Variable ist, um einen gesellschaftlichen Trend zu illustrieren, darüber kann man streiten. „Stimmanteil“ wäre vielleicht besser gewesen, weil es Nuancen stärker zum Ausrdruck bringt. Solche Karten findet man auch. Aber „Absolute Zahl aller AfD-Wähler“ wäre in jedem Fall absolut ungeeignet, um irgendeinen Erkenntnisgewinn zu bringen.

5 „Gefällt mir“

Wenn es um die Relation zwischen Köln und Chemnitz geht oder um den Einfluss der AfD in den beiden Städten, hast du vollkommen Recht. Aber wenn es um den gesamtgesellschaftlichen Einfluss der AfD geht (etwa um die Zahl der Bundestagsmandate), dann trifft das eben nicht mehr zu. Und ich nehme häufig eine Sichtweise wahr, die das Problem AfD auf den Osten reduziert, was aus Wessi-Sicht natürlich bequem ist, aber halt nicht wirklich hilft, erst recht nicht, wann auch auch „nur“ 10% Stimmenanteil für so eine Partei problematisch findet.

Das spiegeln die Karten halt auch wieder.




Und überraschend: Deutschland war bei der EU-Wahl immer noch eine der grünen Hochburgen.

1 „Gefällt mir“

Blockzitat
Gab es in Chemnitz einen stärkeren Anstieg? Ja, aber mal Hand auf’s Herz: der Unterschied ist doch minimal.

Blockzitat

Also Faktor 4,6 vs 1,35 finde ich jetzt nicht minimal.
Auch hier in der Lage wird Mal wieder über den Osten geredet und nicht mit den Menschen.

Was möchtest du jetzt damit ausdrücken? Soll das jetzt belegen das ganz Chemnitz oder vielleicht auch der Osten Rechts ist?

War das jetzt die mentale Ausbürgerung vom ostdeutschen Podcast-Gast Steffen Mau?

2 „Gefällt mir“

Nein.

Also der Gast der letzten Lage war Ostdeutscher und aus der Diskussion hier schließe ich, das Recht viele der Diskutanten es ebenfalls sind.

Was die Lage sehr explizit nicht macht ist mit dem Mensch auf der Straße zu reden, aber das ja auch mit niemanden, nicht nur nicht mit Ossis.

2 „Gefällt mir“

Die Wahlergebnisse von AfD und BSW sind in Wahlkreisen besonders hoch, wo die Abwanderung (insbesondere von Frauen) stark ist.

Ich selbst bin vor 10 Jahren aus Nürnberg nach Dresden gezogen.

Als meine Kumpel aus Nürnberg mich besucht haben, ist uns aufgefallen, dass die Leute sie auf der Straße ansehen. Wir haben uns zunächst gewundert.
Dann haben wir gefragt, und die Leute meinten :„Na, die sind doch Ausländer“.
Erst da ist mir klar geworden, dass es um die rumänischstämmige Mutter meines Kumpels geht.

In der Folge ist mir immer wieder aufgefallen, dass in Ostdeutschland Menschen mit Migrationshintergrund schlicht als „Ausländer“ bezeichnet werden.

Und wenn man genau hinguckt ist es auch oft so. Menschen die in Ostdeutschland geboren sind und jetzt 40 Jahre alt sind, haben fast nie eine dunklere Hautfarbe.

In Nürnberg dagegen hat man sich schon lange daran gewöhnt, dass die Bevölkerung eben auch durch Zuwanderung geprägt ist. Mein Patenonkel hat eine türkischen Migrationshintergrund, in meiner Klasse waren nicht nur weiße „biodeutsche“ Kinder.

Ostdeutschland ist in der Migrationserfahrung also heute auf dem Stand, an dem Westdeutschland vielleicht 1970 war.

Und damals war auch im Westen die Skepsis viel höher.

Ostdeutschland hat also durch die Stillstandszeit bis 1990 das Problem, dass viele Entwicklungen jetzt in viel kürzerer Zeit nachgeholt werden müssen.

Aber hier sollte man auch immer wieder darauf hinweisen, dass niemand Ostdeutschland gezwungen hat der Bundesrepublik 1990 beizutreten.
Es war damals eine demokratische Entscheidung der DDR Regierung.

Ostdeutschland hätte auch ein eigener Staat werde können. Dann wäre viele anders gekommen und heute würde es eher so aussehen wie in Polen. Weniger Ausländer aber eben auch ein viel niedrigerer Lebensstandart.

6 „Gefällt mir“

Weil man den Ossis in den 90ern beigebracht hat, dass das nichts bringt.
In den großen Parteien wurden sie ignoriert und die PDS wurde als Nachfolgeparrei der SED geframt und ausgegrenzt ohne sich jemals mit ihrem Programm zu beschäftigen.

Wo soll also eine positive Erfahrung mit der Parteiendemokratie herkommen und damit Motivation sich in einer Partei zu engagieren?

3 „Gefällt mir“