LDN368 - kein Bündnisfall ohne die USA - und dann?

Hallo,
wenn ich das richtig verstanden habe, tritt der NATO-Bündnisfall (Artikel 5) nur bei einstimmiger Zustimmung aller Bündnispartner ein. Falls Trump Präsident wird könnte er dann (oder jetzt schon Erdogan oder Orban) den Bündnisfall verhindern. Erinnert an den UN Sicherheitsrat, der aktuell dank Russland-Veto machtlos ist.

Aber wären wir dann wirklich handlungsunfähig? Gibt es bei uns oder anderen NATO-Staaten nationale Regelungen, dass nur im Bündnisfall schnell und „unbürokratisch“ andere Staaten mit eigenen Truppen unterstützt werden dürfen? Oder wäre es dann komplizierter und zeitaufwändiger, was dem Angreifer einein gewissen Vorteil verschaffen würde?
Und wie sieht es mit den in anderen Ländern stationierten BW-Einheiten (Litauen, Polen,…) aus? Dürften diese umgehend ihr „Gastland“ verteidigen oder müssten diese auch erst auf eine „Freigabe“ des Bundeskanzleramts oder des Bundestags warten?

Viele Grüße
Hendrik

Offiziell könnte er das, aber dann kann er auch direkt aus der NATO austreten. Also wenn Russland ein NATO-Land angreift und Trump sich weigert, den Bündnisfall anzuerkennen, wäre das ohnehin das Ende der NATO in dieser Form (bzw. der amerikanische NATO-Mitgliedschaft).

Nicht nur dank Russland-Veto. Auch die USA nutzen ihr Veto-Recht sehr ausgiebig, vor allem zum Schutz Israels (und damit zur Verteidigung der israelischen Siedlungspolitik).

Auch ohne Feststellung eines Bündnisfalles wären alle NATO-Staaten natürlich berechtigt, dem angegriffenen Staat zu helfen - und würden das wohl schon aus eigenem Interesse tun. Dazu gibt es noch Art. 42 Abs. 7 des EU-Vertrags, der ohnehin die europäischen Staaten zum Beistand verpflichtet. Selbstverständlich würden dazu dann auch ohne NATO-Bündnisfall NATO-Strukturen benutzt werden.

Die Bundeswehrpräsenz im Baltikum beruht auf der Grundlage der NATO und musste deshalb nicht im Bundestag mandatiert werden. Das bedeutet natürlich, dass wenn die NATO keinen Bündnisfall feststellt, eigentlich für einen aktiven Einsatz außerhalb eines NATO-Mandates ein Mandat des Bundestages nötig wäre. Aber hier muss auch klar sein, dass sich ein Angriff Russlands ankündigen würde, da Russland an der Grenze Truppen zusammenziehen müsste und das auf dem modernen, gläsernen Schlachtfeld nicht mehr verdeckt möglich ist. Also in diesem Fall wäre der Bundestag vermutlich schon in höchster Alarmbereitschaft und würde hoffentlich - für so kompetent halte ich die Regierung dann doch - bei Trump-induzierten Zweifeln an einem NATO-Bündnisfall präventiv ein entsprechendes Mandat vorbereiten… Und verteidigen dürften sich die Truppen natürlich ohnehin, sollte Russland also angreifen ist die Wahrscheinlich hoch, dass die Truppen ohnehin schon in Kampfhandlungen verwickelt sind, bevor die NATO den Bündnisfall oder der Bundestag ein entsprechendes Mandat verabschiedet. Das ist denke ich auch nicht das Problem.

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Woraus leitest Du das ab? Ich finde das nicht im Vertrag (im Blockzitat Art. 5 und 6 in der laut Art. 14 neben der frz. verbindlichen engl. Fassung):

Article 5
The Parties agree that an armed attack against one or more of them in Europe or North America shall be considered an attack against them all and consequently they agree that, if such an armed attack occurs, each of them, in exercise of the right of individual or collective self-defence recognised by Article 51 of the Charter of the United Nations, will assist the Party or Parties so attacked by taking forthwith, individually and in concert with the other Parties, such action as it deems necessary, including the use of armed force, to restore and maintain the security of the North Atlantic area.
Any such armed attack and all measures taken as a result thereof shall immediately be reported to the Security Council. Such measures shall be terminated when the Security Council has taken the measures necessary to restore and maintain international peace and security .
Article 6
For the purpose of Article 5, an armed attack on one or more of the Parties is deemed to include an armed attack:
on the territory of any of the Parties in Europe or North America, on the Algerian Departments of France, on the territory of Turkey or on the Islands under the jurisdiction of any of the Parties in the North Atlantic area north of the Tropic of Cancer;
on the forces, vessels, or aircraft of any of the Parties, when in or over these territories or any other area in Europe in which occupation forces of any of the Parties were stationed on the date when the Treaty entered into force or the Mediterranean Sea or the North Atlantic area north of the Tropic of Cancer.

Im restlichen Text stehen auch keine Vorbehalte oder Einstimmigkeitserfordernisse.

Edit: Link eingefügt.

Genau, leider eine in der öffentlichen Wahrnehmung vernachlässigte Norm. Hoffentlich nicht so sehr in der politischen und militärischen Elite.
Teil der Sicherung europäischer Sicherheit ohne die USA sollte auch sein, dass die Handlungen unter § 42 Abs. 7 EUV klar abgesprochen und durchgeplant sind, v.a. soweit es EU-Staaten außerhalb der NATO wie Österreich betrifft.

Der NATO-Vertrag ist da leider generell sehr knapp gehalten. Er statuiert lediglich in Art. 9, dass ein Rat einzusetzen ist, der über Fragen wie das Vorliegen des Art. 5 (und welche Maßnahmen ergriffen werden müssen) entscheidet. Wie der genaue Entscheidungsprozess des NATO-Rates ist, geht zumindest aus dem NATO-Vertrag nicht hervor. Im internationalen Recht ist es aber üblich, dass wenn es keine Regelungen über notwendige Mehrheiten gibt, eine Einstimmigkeit vorausgesetzt wird, weil kein Staat in internationalen Verträgen gerne seine Souveränität einer Mehrheit opfert, wenn er eine andere Position vertritt.

Nur Art. 10 des NATO-Vertrags zur Aufnahme neuer Mitglieder gibt explizit vor, dass eine Einstimmigkeit erforderlich ist. Das wird in der Praxis auch auf andere Entscheidungen übertragen.

Ich erinnere mich jedenfalls daran, dass nach dem 11. September 2001, der ja als erster und bisher einziger festgestellter NATO-Bündnisfall in die Geschichte einging, große Diskussionen darüber gab, weil die Niederlande, Belgien und Spanien zuerst gegen eine Feststellung des Bündnisfalles waren, dann aber eingeknickt sind, sodass der Bündnisfall einstimmig erklärt werden konnte.

Danke, sehr aufschlussreich!
Im Umkehrschluss aus Art. 10 könnte man auch argumentieren, dass andere Aktionen dann nicht Einstimmigkeit voraussetzen. Den Umkehrschluss soll man aber nicht überstrapazieren.
Ich würde ja argumentieren, die Formulierung von Art. 5 gibt den Staaten ohnehin genügend Freiraum („such action as it deems necessary“) für diplomatische Manöver auf der Seite der Auswahl der Mittel, wohingegen die Verpflichtung zum Beistand sich unmittelbar aus dem Recht ergibt. Ohnehin schiene mir die Notwendigkeit, einen einstimmigen Beschluss zu fassen, dem Sinn und Zweck des Vertrages - Abschreckung durch Gewissheit eines Krieges gegen den gesamten Block - zu widersprechen. Vergib mir die juristische Haarspalterei. :wink:
Um es genau herauszufinden, müssten wir wohl in die Tiefen der Wiener Vertragsrechtskonvention und der Übung durch die NATO-Staaten (immer schwierig, viele gut vergleichbar Fälle gibt’s selten im Völkerrecht) hinabsteigen. Nicht, dass ich keine Lust hätte, aber ich vermute, keine Zeit. :smiley:

Klar ist, dass das alles nichts hilft, wenn niemand da ist, um eine vertragsbrüchige Partei zur Rechenschaft zu ziehen. Das klassische Problem des Völkerrechts. Von daher ist diese meinem Verständnis nach eher politische oder soft-law-Gepflogenheit am Ende ausschlaggebend. Oder auch: Es ist egal, wenn es nicht verbindlich ist, solange es alle behandeln, als ob es verbindlich sei.

Umso bedenklicher sind die aktuellen Entwicklungen und umso dringlicher ist neben dem Bemühen, insb. USA und UK in der NATO bei Laune zu halten, die Arbeit an Art. 42 Abs. 7 EUV und der EU-Verteidigungspolitik insgesamt. Frage mich auch, ob Art. 42 Abs. 7 EUV als „Backup“ funktioniert: Wenn die NATO den Bündnisfall nicht ausruft, wie viel Legitimität/Plausibilität und politische Energie verbleibt dann, um die EU-Beistandsgarantie zu aktivieren?
Schließe mich der Ausgangsfrage daher an und möchte sie konkretisieren: Falls jemand etwas zur Umsetzung des Art. 42 Abs. 7 EUV hat, gern her damit!

„Dabei muss der Bündnisfall jedoch einstimmig von den Nato-Ländern beschlossen werden.“ wurde hier behauptet:

(in dem Absatz unter der Zwischenüberschrift " Dürfen die USA den Bündnisfall nach Artikel 5 ignorieren?")

Danke fürs Nachliefern, wurde oben von @Daniel_K schon genauer erklärt, ich hab’s jetzt besser verstanden.

Nur kurz zur Erklärung meiner Zweifel: Die Frage, ob der Bündnisfall beschlossen werden muss (und nicht nur die Umsetzung der daraus folgenden Verpflichtung eines Beschlusses bedarf), wird in den Medien in der Regel nicht explizit aufgeworfen, da sie eine juristische Technikalität ist. Ich würde dazu gern jemanden mit völkerrechtlicher Expertise hören, meine Recherchemittel sind sehr begrenzt. Meine Interpretation ist, dass sich die Verpflichtung von sich aus Art. 5 ergibt. D.h. wenn die Voraussetzungen vorliegen, handelt ein Bündnispartner, der den Beistand verweigert, völkerrechtswidrig - außer, die Parteien einigen sich auf etwas anderes. Natürlich hat aber wie so häufig im Völkerrecht niemand die Macht, rechtskräftig festzustellen, dass die Voraussetzungen von Art. 5 vorliegen. Deshalb ist es de facto der NATO-Rat, der das „beschließt“. In der Regel wird man sich immer zusammensetzen und diplomatische Lösungen finden, die zB widerwilligen Bündnispartnern entgegenkommen. Letztlich ist meine juristische Haarspalterei also so lange egal, wie es auf diese Weise gehandhabt wird. Ist aber ggf. von Bedeutung für die Legitimität - oder eben nicht - der Handlungen der Bündnispartner

Ich weiß nicht ob dies der passende Artikel ist aber mir stellt sich aktuell die Frage inwiefern Deutschland mit einbezogen wird/ist, sollte Frankreich wirklich Bodentruppen in die Ukraine schicken. Auch wenn ich es für Unwahrscheinlich halte, dürfte es für Scholz und die Regierung dann sehr viel schwieriger werden sich mit der Unterstützung z.b. mit Raketen zurückhalten, oder? Was sind realistische Szenarien für einen solchen Fall? Was ist wenn Russland Frankreich im Gegenzug angreift. Jetzt nicht unbedingt mit Bodentruppen sondern z.b. mit Hackerangriffen auf Infrastruktur wie Atomkraftwerke? Wäre dies dann ein Bündnissfall?

Die Frage dürfte auch sein, wie die frz. Truppen in der Ukraine agieren… würden sie nur Grenzschutzaufgaben im Westen der Ukraine (Transnistrien) und ggf. an der der Grenze zu Belarus übernehmen, womit die bisher dort stationierten ukrainischen Truppen für Fronteinsätze frei werden? Oder würden die frz. Kräfte wirklich an der Front gegen die russische Armee kämpfen?

Bündnisfall nach Hackerangriffen dürfte etwas komplizierter werden… das wären dann sicherlich „offiziell nicht-staatliche“ Hacker-Gruppen, auch wenn diese ihre Anweisungen dann vermutlich aus dem Kreml bekommen haben werden… da wird es auch in Europa genügend Kreml-Freunde geben, die eine militärische Reaktion darauf als weitere „Eskalation des Westens“ bezeichnen und entsprechend dagegen arbeiten werden…