LdN337 Arbeitslosigkeit und psychische Krankheit

Lieber Philip Banse, lieber Ulf Buermeyer,

ich bin Arzt in Weiterbildung zum Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und seit letztem Jahr treuer Hörer der Lage. Zur aktuellen Sendung möchte ich folgendes Anmerken:

In der Einleitung zum Thema Migration sagt ihr, sinngemäß zitiert: Es gibt etwa eine Millionen Dauerarbeitslose und sehr viele davon werden wohl auf Grund einer psychischen Störung auch nie mehr arbeitsfähig sein. Das sei „völlig normal und überrascht nicht weiter“. Diese Aussage finde ich dann doch überraschend in zweierlei Hinsicht: Erstens, ist diese Häufigkeit schwerer psychischer Störungen vielleicht normal in dem Sinn, dass in den meisten oder allen Ländern ein nicht so geringer Anteil der Bevölkerung psychisch schwer erkrankt ist. Keinesfalls jedoch heißt das, dass dies so auch akzeptiert werden sollte und es stellt sich die Frage, ob hier nicht ganz besonders eine gesellschaftliche Bagatellisierung und Ausgrenzung psychischer Krankheit deutlich wird. Zweitens, ist es in Bezug auf die Logik unseres Sozialsystems überraschend, denn wenn die Einschätzung stimmt, dass ein relevanter Teil der Arbeitslosen auf Grund psychischer Störungen nicht arbeitsfähig ist (inhaltlich Teile ich diese Einschätzung), so dürften diese Menschen eigentlich nicht unter die Arbeitslosenstatistik fallen, sondern sollten krankgeschrieben oder erwerbsunfähig sein. Auch dies ein Hinweis, dass hier etwas nicht richtig funktioniert.

Dazu auch ein Hinweis auf die unsichere Zukunft der psychotherapeutischen Versorgung: z.B. Schwierige Lage für angehende Psychotherapeut*innen

Beste Grüße, Felix Wicke

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Ich denke, darüber herrscht Einigkeit, aber die Bereitschaft und die gesellschaftliche Fähigkeit, das zu ändern, ist möglicherweise begrenzt (siehe die langen Wartezeiten für Psychotherapie).

Was wohl mit „das ist völlig normal“ gemeint sein dürfte, ist, dass der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ja sein dürfte, dass Menschen nicht psychisch krank sind, weil sie arbeitslos sind, sondern oft arbeitslos sind, weil sie psychisch krank sind. Der Anteil der psychisch kranken dürfte daher unter Langzeitarbeitslosen in der Tat ziemlich hoch sein.

Diese Ausgrenzung ist das große Problem. Ich hatte selbst nach einem Burnout eine mehrjährige berufliche Auszeit und kann daher auch aus eigener Erfahrung sagen, dass man danach erstmal massiv stigmatisiert wird und kaum eine Chance bekommt, wieder zurück auf den Arbeitsmarkt zu kommen. Deshalb betone ich auch so häufig, dass wir in Deutschland nicht nur einen Fachkräftemangel haben, sondern auch einen Chancengebermangel. Menschen, die ein paar Jahre wegen Burnout / Depression aus dem Beruf ausscheiden, wird einfach keine Chance gegeben. Und wenn dann aus 2 oder 3 Jahre Auszeit plötzlich 4 oder 5 werden, weil die Leute nach all den Absagen resignieren, entwickeln sie natürlich auch schnell weitere psychische Probleme. Diesen Teufelskreis müssen wir in der Tat viel stärker durchbrechen.

Naja, man könnte natürlich den Zugang zur Erwerbsminderungsrente und Sozialhilfe erleichtern, aber das riskiert wieder, dass Menschen um die Arbeitslosenstatistik zu schönen abgeschrieben werden. Das ist auch nicht gerade wünschenswert…

Das hat ein bisschen was vom Henne-Ei-Problem. Ich möchte das daher etwas Challengen:

Eine Vielzahl von Studien belegt sowohl die negativen gesundheitlichen Folgen von Arbeitslosigkeit (Verursachung) als auch schlechtere Beschäftigungschancen für gesundheitlich beeinträchtigte Personen (Selektion). Dabei spricht die internationale Studienlage insgesamt dafür, dass die Bedeutung der Verursachung negativer gesundheitlicher Folgen von Arbeitslosigkeit für den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Gesundheit in der Regel größer ist als die der Selektion.
Quelle: Arbeitslosigkeit und Gesundheit | Datenreport 2021 | bpb.de

Der Begriff Chancengebermangel gefällt mir :slight_smile:
Da müsste man natürlich auf den Zahn fühlen, woran das liegt. Ebenso wie mit mangelnden Ausbildungsangeboten. Man sollte ja meinen, dass die Rufe nach mangelnden Arbeits- und Fachkräften dazu animieren würde mehr Leute zu befähigen.

Vielleicht lohnt das unter dem Aspekt nicht, dass eine „Arbeitskraft“, die man so gefördert und für den Arbeitsmarkt „fit“ gemacht hat, jederzeit zur Konkurrenz wechseln kann, die lieber aggressiv abwirbt, als selbst auszubilden oder Chancen zu geben. Da wäre politisch natürlich viel möglich. Das ist aber absolut ins Blaue geraten. Ich weiß nicht wie der Arbeitsmarkt in dem Bereich wirklich ausgestaltet ist.

Das Arbeitslosigkeit auch ein starker Beschleuniger für psychische Probleme ist, ist denke ich weithin anerkannt (und lässt sich schon aus der berühmt gewordenen Marienthal-Studie von 1933 anleiten). Das verstärkt die Problematik natürlich: Zum einen landen Menschen, die psychische Krankheiten erleiden (z.B. durch eine Depression nach der Scheidung oder einem traumatischen Ereignis) in der Langzeitarbeitslosigkeit, zum anderen führt Langzeitarbeitslosigkeit zu einer erhöhten Anfälligkeit, (weitere) psychische Schäden zu erleiden. Deshalb ist es wohl - traurigerweise - normal, dass ein großer Teil der Langzeitarbeitslosen nicht ohne sehr großen Aufwand wieder arbeitsfähig gemacht werden kann.

Das wird ein Argument sein, das andere ist ein rein wirtschaftliches:
Jemanden eine Chance zu geben - z.B. dem Schulabbrecher als Handwerker auszubilden oder den Langzeitarbeitslosen einen Wiedereinstieg in den Job zu ermöglichen - ist für den Arbeitgeber immer ein Risiko, denn die Wahrscheinlichkeit, dass es „fehlschlägt“, also die Investitionen in diesen Arbeitnehmer sich nicht auszahlen, weil der Arbeitnehmer nicht langfristig arbeitsfähig gemacht werden kann, ist zweifelsohne deutlich höher, als bei der Einstellung eines „Normal-Arbeitnehmers“ oder der Ausbildung eines Jugendlichen mit gutem Schulabschluss. Dieses Risiko kann dabei so hoch sein, dass es bei einer Risikoabwägung betriebswirtschaftlich sinnvoller ist, die Stelle gar nicht auszufüllen.

Der Staat versucht nun, durch bestimmte Förderungen das (finanzielle) Risiko für den Arbeitgeber zu senken (z.B. die neuen §16a - 16i SGB II), aber selbst die 16i-Förderung kann die betrieblichen Risiken nur begrenzt abfangen und sie ist dazu noch viel zu bürokratisch gestaltet und teilweise an absurde Voraussetzungen gebunden.

Hier müsste einfach viel mehr geschehen. Statt z.B. damals die „1 Euro-Jobs“ oder andere „Beschäftigungsmaßnahmen“ sollten die Kommunen einfach selbst viel mehr Ausbilden (und dafür gerne auch eigene Ausbildungsbetriebe einrichten) und für Menschen mit längerer beruflicher Auszeit z.B. Trainee-Programme zum Wiedereinstieg auf ihrem Qualifikationslevel einführen. Denn auch das ist wichtig: Wer z.B. als Akademiker 5 Jahre Auszeit wegen Kindererziehung genommen hat findet oft keine Anstellung auf seinem Qualifikationslevel.

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Sehr komplexes Thema, wenn ich das mal so nach 18 Jahren in der beruflichen Rehabilitation bezeichnen darf.

Der Gesetzgeber hat im Sozialgesetzbuch IX ja mit den „Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben“ einige Instrumente geschaffen, um Arbeitnehmer/innen, die aufgrund einer körperlichen oder psychischen Einschränkung ihren bisherigen Beruf nicht mehr ausüben können. Also nach dem Prinzip "Prävention vor Reha vor Rente ".
Grösste Hürden für die Betroffenen hier:

  1. Fehlende Infornation oder neutrale Beratung
  2. Komplexes Antragsverfahren, was häufig erst über ein Einspruchsverfahren zum Ziel führt.
  3. Eine sehr individuelle Auslegung im Ermessensspielraum der Leistungsträger des Paragraphen 123 SGB IX „Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit“, welcher es Menschen über 50 teils schwer macht, eine Umschulung überhaupt zu bekommen.

Die Besonderheit der Beruflichen Reha sind u.a. eine psychologische, sozialpädagogische und medizinische Begleitung während einer Umschulung. Ergänzt durch Berufsfindungsnassbahmen oder Vorbereitungslehrgängen u.a.
Hier gibt es quasi schon ein seit über 50 Jahren etabliertes (und sicher auch reformbedürftiges) Hilfesystem.
Was aktuell mangels Zuweisung von teilnehmenden Rehabilitanden grad etwas trocken läuft, da der Arbeitsmarkt alkes aufsaugt, was den Hammer an der richtigen Seite anfasst. Wie nachhaltig? Wer weiss?

Ergänzend gibt es noch die Arbeitsförderung nach SGB III Paragraf 81 in Verbindung mit SGB II, dem bekannten Bildungsgutschein. Eine primär fachliche Förderung (nicht primär gesundheitlich bedingt) zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen. Also quasi Umschulung mit Abschluss.
Vorraussetzung 3 Jahre berufliche Tätigkeit oder länger als 4 Jahre aus dem erlernten Beruf raus, dann zählt man quasi wieder als ungelernt.
Zugang deutlich einfacher, aber ohne weitere indivduelle Unterstützung.
Umschulung heisst in 24 Monaten einen neuen Beruf erlernen, mit anerkanntem Abschluss (IHK, HWK, staatliche Prüfung), meist überbetrieblich in Bildungseinrichtingen wie Berufsförderungswerke, aber auch betrieblich möglich.
Wer sich als Erwachsener darauf einlässt, zeigt schon echt Ehrgeiz und verfügt über meist danach über eine fachliche Doppelqualifikation.
Sollte für Arbeitgeber auch intetessant sein.
Gibt also schon Möglichkeiten.
Bei Langzeitarbeitslosen ist die Heranführung an den Arbeitsmarkt oft mit Zeit, Aufwand (Psychologen, Ärzte, Sozialarbeiter) und damit hohen Kosten verbunden. Ist grad Thema in der Szene, aber nicht mal eben gemacht, weil es dazu keine etablierten Strukturen gibt.
Aber auch hier Reformbedarf im ganzen System, weil viel mit der Gieskanne läuft.
Im Bereich Erstausbildung läuft da auch viel, bis zu Kooperationen mit Betrieben, um Azubis sozialpädagogisch zu begleiten und inhaltlich zu fördern.

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