LdN320: Art. 5 der NATO

Ihr sagt, dass es von Olaf Scholz auch unter dem Gesichtspunkt „mit gehangen, mit gefangen“ unnötig war, die USA ebenfalls zu Panzerlieferungen zu drängen. Abgesehen davon, dass dies ohnehin nur ein de jure Argument ist, an das sich eben einfach nicht gehalten werden kann (was bei einem Atomkrieg zumindest nicht ausgeschlossen ist), sagt Carlo Masala bei Anne Will dazu, dass Art. 5 „keine automatische Beistandsverpflichtung ist. Der Art. 5 reicht von Raketen abschießen auf das angreifende Land bis zu einem Beileidstelegramm“.

Gerade mit diesem Wissen lässt sich das Verhalten von Scholz evtl. nicht nur als Zögern interpretieren.

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Schauen wir uns den Artikel 5 doch noch mal an:

Darin stecken letztlich zwei Wertungen:

Erstens: Ein Angriff wäre wie ein Angriff gegen sie selbst zu werten. Daher: Wenn Russland Estland angreift, müssen die USA so bewerten, wie wenn Russland die USA direkt angegriffen hätten. Offensichtlich würden die USA hier mehr tun, als ein „Beileidstelegramm“ zu schicken…

Zweitens: Die Staaten behalten einen weiten Ermessensspielraum, was für Hilfeleistungen notwendig sind, darauf spielt der Satz „Raketen oder Beileidsschreiben“ letztlich an. Würde aber Russland z.B. Estland angreifen und der Angriff ist ohne Hilfe der USA nicht abzuwehren, aber die USA sagen: „Umm, also außer einem Beileidsschreiben gibt’s von uns nix!“ wäre das schon mit ziemlicher Sicherheit ein Vertragsbruch, weil auch hier der Ermessensspielraum realistischerweise Grenzen hat. Denn wenn Russland hier „gewinnt“, ist es offensichtlich „erforderlich“, mehr als ein Beileids-Telegramm zu senden. Aber so schwarz-weiß sind die Situationen natürlich in der Regel nicht. Dennoch: Gerade die USA können sich realistischerweise nicht darum drücken, „tatkräftige“ Unterstützung zu liefern. Montenegro könnte vielleicht damit durchkommen, nur moralische Unterstützung zu liefern :wink:

Letztlich geht es hier um die internationale Glaubwürdigkeit. Eine halbwegs intakte US-Regierung, egal ob unter Republikanern oder Demokraten, würde hier die eigene Glaubwürdigkeit selbstverständlich schützen wollen. Denn ein In-Stich-Lassen von Verbündeten würde dazu führen, dass die USA nie wieder irgend einem Verteidigungsbündnis beitreten könnten - denn niemand würde ihnen trauen. Das würde selbst ein Wahnsinniger wie Trump vermutlich nicht riskieren.

Aus der NATO auszutreten setzt übrigens eine einjährige Karenzzeit voraus, daher: Erst ein Jahr nach Ankündigung des Austritts erlöschen die Beistandspflichten. Also auszutreten, wenn Russland gerade vor Estland aufmarschiert, würde auch nicht funktionieren.

Aber natürlich gilt: Wenn ein Land so weit geht, zu sagen: „Scheiß auf’s Recht, wir machen einfach nicht mit!“ gibt es natürlich keine Möglichkeit, das Land zum Beistand zu zwingen - also die NATO kann keinen Beistand von vertragsbrüchigen Parteien erzwingen. Ein Verteidigungsbündnis basiert daher immer auf Vertrauen - und genau deshalb ist es Staaten wichtig, ihre eigene Glaubwürdigkeit zu schützen.

Kurzfassung:
Es ist nicht so, dass die USA im Falle eines russischen Angriffs auf ein NATO-Land tatsächlich „nur ein Beileidstelegramm“ schicken könnten… aber es ist auch nicht so, dass sie in jedem Fall „All In“ gehen müssten.

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„Ein Angriff gegen sie alle“ ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit „ein Angriff gegen sie selbst“. Ich kann mich als Teil einer Gruppe angesprochen fühlen aber dennoch keinen eigenen Handlungsbedarf empfinden. (Es stimmt aber natürlich, dass das politisch ein gelinde gesagt schwieriger Standpunkt wäre.)

Zum Vergleich der deutlich ausdrücklichere Artikel 42 des EU-Vertrages:

(7) Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen.

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Den Optimismus teile ich nicht. Ich glaube zwar, dass es auch besser für die USA ist, wenn es einen freien Teil Europas an ihrere Seite gibt, aber ich glaube, die USA könnten inzwischen auch ganz gut ohne Verbündete in Europa leben (oder auch sonstwo - sie haben auf ihrem eigenen Kontinent keine auch nur annähernd gleichstarken Feinde), und ich befürchte, dass viele Trumpisten lieber Westeuropa opfern als dafür einen Atomkrieg riskieren würden.

Allerdings ist es eine relativ einhellige Meinung, dass Art. 42 des EU-Vertrages im Zweifel weniger durchschlagskräftig ist als Art. 5 des NATO-Vertrags. Das liegt darin begründet, dass der NATO-Vertrag ein dezidiertes Verteidigungsbündnis ist und entsprechend ausgelegt werden muss, während der EU-Vertrag eben kein Verteidigungsbündnis im engeren Sinne ist.

Wobei man hier bedenken muss, dass
a) der Großteil der Amerikaner Freunde und Verwandte in Europa hat
b) auch unter den Republikaners sehr starke Transatlantiker sind
c) der Rest der Republikaner ziemlich anti-russisch eingestellt ist (als Folge des Jahrzehntelangen Antikommunismus)
d) ein Aufkündigen des westlichen Bündnisses die ohnehin stark gespaltene Gesellschaft in den USA vollends spalten würde, also die Nicht-Trumpisten würden hier endgültig auf die Barrikaden gehen…
e) ein unter Russland (zwangs)vereinigtes Europa ein mächtiger dritter Global Player neben den USA und China sein könnte, der deutlich pro-chinesischer eingestellt wäre, vor allem auch durch den Verrat der USA… die USA würden sich in eine katastrophale globale Position versetzen.

Also abgesehen davon, dass ich es für extrem unwahrscheinlich halte, dass Russland ein europäisches NATO-Land angreifen würde und ich es für noch unwahrscheinlicher halte, dass Russland gegen die EU militärisch eine Chance hätte…

Allerdings würde keinen Sinn machen, den Angriff auf die Ukraine als größtes Geberland mit viel Aufwand zu unterstützen und dann bei einem Raketenabwurf auf Berlin den Botschafter mit Blumen vorbeizuschicken.
Die Ukraine mag für die USA weit weg sein, Russland ist aber ein Nachbarland.

Das sind alles richtige Überlegungen. Allein die ausdifferenzierten Meinungen und Einschätzungen hier sollten aber deutlich machen, dass die Strategie exakt so weit wie die USA zu gehen weder völlig abwegig noch zwangsweise unnötiges Zaudern ist.

Selbstredend kann man auch hier kritisieren. Ob ein Statement à la Zimmermann wirklich den Ton trifft, steht auf einem anderen Blatt. In dieser Sache hätte ich mir im Podcast aber ein bisschen mehr Weitsicht gewünscht :slight_smile:

Haben die franzosen eigentlich noch ihre auf Präventivschlag ausgelegte Doktrin ?

Aber spaß beiseite die USA sind nicht die einzigen mit Atomwaffen in europa und es gibt schon auch einen Unterschied zwischen den in EU gelagerten Sprengköpfen und jenen des US eigenen Schirms. Klar gibt es da einschränkende Faktoren aber man befindet sich hier soweit im spekulativen Bereich dass die Beschränkung auf die USA doch etwas seltsam ist. Man hat vor allem das Gefühl das Scholz sich auf die USA verlassen will weil das die geringsten Kosten bedeutet. Ein EU Abwehrschirm wie es Macron vorschlägt wäre nicht nur teuerer sondern würde auch eine verstärkte kooperation bedeuten während die USA sich hier größtenteils herausgehalten hat. Deutschland scheint sich aber stets sehr stark vor allen veränderungen zu streuben die ihre wirtschaftliche Dominanz gefährden könnte.