LdN282 IGH Anordnung vom 16. März

Lieber Philip, lieber Ulf,

in der letzten LdN habt ihr über die Anordnung vorläufiger Maßnahmen des IGHs im Verfahren Ukraine v. Russland vom 16. März berichtet und davon gesprochen, der IGH habe den russischen Krieg gegen die Ukraine „offiziell als völkerrechtswidrig qualifiziert“. Das stimmt so aber in zweierlei Hinsicht nicht ganz:

Erstens konnte die Ukraine den IGH (leider) nur auf Grundlage des Art. IX der Völkermordkonvention anrufen. Die Zuständigkeit des IGH - die von Russland in besagter schriftlicher Erklärung an das Gericht bestritten wurde - besteht daher nur für Fragen im Zusammenhang mit der Völkermordkonvention. Die Ukraine hat sich an den IGH gewandt, damit dieser - quasi im Sinne eines negativen Feststellungsurteils - klarstellen möge, dass die Ukraine nicht, wie von Russland behauptet, eine Völkermord begangen hat. Darauf aufbauend hat die Ukraine den IGH auch um eine Feststellung der Tatsache gebeten, dass die russische Anwendung von Gewalt gegen die Ukraine nicht durch den vorgeschobenen Völkermord gerechtfertigt werden kann. Der IGH hat damit aber keine Zuständigkeit einer allgemeinen Feststellung der Völkerrechtswidrigkeit der russischen Gewaltanwendung gegen die Ukraine. In der Anordnung vom 16. März konnte der IGH daher gar nicht allgemein feststellen, die Gewaltanwendung Russlands sei völkerrechtswidrig. Stattdessen hat er allerdings durch die Blume sehr deutlich darauf hingewiesen, dass er genau dieser Auffassung ist: „The Court is profoundly concerned about the use of force by the Russian Federation in Ukraine, which raises very serious issues of international law.“ (Para. 18). Eine rechtsverbindliche Feststellung der allgemeinen Völkerrechtswidrigkeit der russichen Gewaltanwendung ist dies aber (leider) nicht.

Zweitens handelt es sich bei der Anordnung des IGH vom 16. März noch nicht um ein endgültiges Urteil, sondern nur um eine Art Anordnung einstweiliger Maßahmen (indication of provisional measures). Das heißt, ähnlich des deutschen Pendants im Verwaltungsrecht, wird in einem solchen Verfahren nur geprüft, ob die vom Antragsteller geltend gemachte Rechtsverletzung plausibel ist und ob die Anordnung vorläufiger Maßnahmen notwendig ist, um irreparablen Schaden zu verhindern (sehr vereinfacht). Auf dieser Grundlage hat der IGH entschieden, dass die von der Ukraine geltendgemachte Rechtsverletzung (der Völkermordkonvention) plausibel ist und hat deshalb einstweilige Maßnahmen angeordnet. Diese Maßnahmen gingen aber in der Tat sehr weit und sogar über den Antrag der Ukraine hinaus: Der IGH ordnete an, dass Russland sofort alle militärischen Maßnahmen beenden solle. Dies ist in der Tat ein sensationelles Tor für die Ukraine, da der IGH diese Maßnahme scheinbar ohne direkten Zusammenhang zur Völkermordkonvention erlassen hat. Dennoch konnte er dies nur auf Grundlage der von der Ukraine geltend gemachten Verletzung der Völkermordkonvention tun und nicht etwa auf Grundlage einer allgemeinen Feststellung der Völkerrechtswidrigkeit der Gewaltanwendung. Der IGH wird sich aber im Hauptverfahren noch ausführlich mit den von der Ukraine geltend gemachten Rechtsverletzungen befassen, das Verfahren ist also noch lange nicht vorbei.

Der Ukraine ist aber in jedem Fall dafür zu applaudieren, dass sie trotz des eklatanten, nicht zu rechtfertigenden Völkerrechtsverstoßes Russlands gerade den Weg des Völkerrechts beschreitet, um für ihre Rechte zu kämpfen! Umso wichtiger ist es, dass dem Völkerrecht - als Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens - immer wieder Geltung verliehen wird, weshalb es mir aber auch nochmal wichtig war, auf diese Feinheiten der IGH-Anordnung hinzuweisen :slight_smile:

Liebe Grüße!
Fiona

Ausführlicher (und rechtlich sauberer) dazu hier:

1 „Gefällt mir“