LdN280 Reaktivierung der Wehrpflicht

Moin zusammen,

in der Folge 280 wird im Interview mit Thomas Wiegold kurz angerissen, wie es um eine Reaktivierung der Wehrpflicht steht. Ich habe 2019 meine Abschlussarbeit über das Desertionsphänomen innerhalb der Bundeswehr eingereicht und mich in einigen Kapiteln intensiv mit der Geschichte der Wehrpflicht von ihrer Entstehung im Jahr 1956 bis zu ihrer Aussetzung im Jahr 2011 (S. 4 ff.), mit der Rechtsgrundlage (S. 18 ff.) und den Handlungsoptionen für Soldaten (S. 55 ff.) im Fall einer aktiven sowie einer ausgesetzten Wehrpflicht auseinandergesetzt.

Ich habe nach der Rede von Olaf Scholz am 27.02.2022 zur Erhöhung des Wehretats auf mehr als 2 % des BIP sowie des einmaligen Einsatzes von 100 Milliarden Euro wahrlich die Stunden gezählt, bis die Debatte über die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht einsetzt. Am folgenden Morgen um 04:15 erschien dann auch schon einer der ersten großen Artikel in der FAZ (Allgemeine Dienstpflicht: Debatte durch Ukraine-Krieg entbrannt), in den sozialen Medien tobte die Diskussion schon ein paar Stunden länger.

Mit Blick auf die Geschichte und auf die derzeitige rechtliche Situation, stellt sich mir wirklich die Frage, wie überhaupt nur dran gedacht werde kann, all die gesellschaftlichen Debatten sowie die humanitären und freiheitsrechtlichen Fortschritte innerhalb von Stunden über den Haufen zu werfen. Zumal sich, wie Thomas Wiegold im Interview sehr gut analysiert, die Frage der Umsetzung durch bereits vollzogenen Abbau der Infrastruktur auch noch hinten anstellt.

Ebenso pharisäisch sehe ich den Impuls, den ich gerne als „Beißreflex“ bezeichne, von Menschen, die nicht von der Wehrpflicht betroffen wären, eine starke Meinung zu diesem Thema zu äußern, frei nach dem Motto: „Die jungen, faulen Leute, denen durch die Pandemie sowieso einen Teil ihrer Jugend genommen wurde, sollen jetzt erst einmal runter von der Couch und ab in die Kaserne, damit ich mich sicher fühlen kann.“

Ich empfehle vor allem mit Blick auf die Geschichte, sich erst einmal vor Augen zu führen, was für ein wahnsinniges Konzept eine Zwangskonskription eigentlich ist und welchen Freiheitsgrad sich die Gesellschaft in Deutschland durch die Aussetzung über Jahrzehnte erkämpft und erarbeitet hat, der nicht einfach so aufgegeben werden sollte.
Das Bundesministerium der Verteidigung sowie die Wehrbeauftragte der Bundeswehr scheinen kein Interesse an wissenschaftlichen Studien zu dem Themenkomplex zu haben. Daher habe ich die Arbeit an Philipp und Ulf übermittelt, die mich gebeten haben, sie hier zu veröffentlichen, was ich hiermit mache:

Liebe Grüße

t

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Ich schließe mich dir hier vollständig an - und ich habe meinen Wehrdienst im Jahr 2001/2002 abgeleistet.

Was mich am meisten stört ist, dass hier auch einfach zahlreiche fragwürdige Argumente für die Wiedereinführung der Wehrpflicht genannt werden.

  1. Die Wehrpflicht trägt zur Verteidigungsfähigkeit Deutschlands bei
    Das ist schlicht Unsinn. Die Wehrpflicht führt dazu, dass wir viele Menschen mit militärischer Grundausbildung haben, die in einem Szenario wie in der Ukraine im Schützengraben liegen und später im Partisanenkampf kämpfen könnten. Aber so ein Szenario ist für Deutschland undenkbar. Bis z.B. Russland überhaupt bis Deutschland vordringen könnte, müsste Russland erstmal das Baltikum und Polen nicht nur überrennen, sondern auch dauerhaft besetzen. Wenn es dazu kommt, haben wir schon lange einen Atomkrieg, abgesehen davon, dass Russland nicht die militärische Stärke hat, ein von Europa und der NATO aktiv unterstütztes Polen oder Baltikum auch nur annähernd einzunehmen.

  2. Die Wehrpflicht erhöht die Bündnisfähigkeit Deutschlands
    Das ist offenkundig falsch. Die Wehrpflicht führt dazu, dass ein Teil unseres Militäretats in die Ausbildung von Truppenteilen verwendet wird, welche gerade nicht die Bündnisfähigkeit stärken. Zur Stärkung der Bündnisfähigkeit brauchen wir Spezialisten mit Spezialausrüstung, nicht Reservisten mit Gewehren…

  3. Die Wehrpflicht könnte das Personalproblem der Bundeswehr lösen
    Das ist betriebswirtschaftlich nicht haltbar. Vergleicht man, wie viel Geld die Wehrpflicht kosten würde und hält dem die Zahl der aus der Wehrpflicht realistisch gewonnenen Personen entgegen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass wir Millionen für jeden gewonnenen Zeitsoldaten zahlen. Wenn es darum geht, die Bundeswehr als Arbeitgeber attraktiver zu machen, wäre dieses Geld an vielen Stellen viel besser investiert. Wenn man z.B. bedenkt, dass Feldwebel, die i.d.R. einen Meistertitel oder Fachwirt bei der Bundeswehr machen, in die Besoldungsgruppen A6-A8 einsortiert werden, wird klar, dass hier eine massive Unterbezahlung im Vergleich zum zivilen Bereich, sowohl dem öffentlichen Dienst, vor allem aber der freien Wirtschaft, vorliegt. Wirtschaftlich ist die Bundeswehr schlicht unattraktiv.

  4. Die Wehrpflicht verhindert, dass sich in der Bundeswehr rechtsextreme Gruppen bilden
    Auch mit einer Wehrpflicht gehen vor allem Menschen Rechts der Mitte zur Bundeswehr - das war auch früher nicht anders. Kaum jemand, der links der Mitte steht, geht zur Bundeswehr, wenn er alternativ einen anderen Dienst leisten kann. Die Gefahr, die ich aus eigener Erfahrung sehe, ist eher, dass Leute unpolitisch oder als gemäßigte Konservative zur Bundeswehr gehen und dort politisch deutlich nach Rechts rücken.

  5. Eine Wehrpflicht führt dazu, dass die Bundeswehr bei der Bevölkerung respektierter ist
    Auch das wage ich sehr zu bezweifeln. Die letzten 6 Monate der damaligen Wehrpflicht hatten nicht umsonst den Ruf, dass man da nix macht, als zu saufen. Und die Wehrpflicht hat damals massiv zur Spaltung der Gesellschaft in „Zivis“ und „Bundis“ geführt, mit massiven Vorurteilen auf beiden Seiten des Zauns.

  6. Eine Dienstpflicht ist nötig, um genug Personal im sozialen Bereich zu haben
    Das finde ich immer das schlimmste Argument. Ein Personalmangel in den Bereichen Pflege und Sozialen bekämpft man, indem man in diesen Bereichen anständige Arbeitsbedingungen schafft. Die versuche, das qualifizierte Personal dadurch zu entlasten, dass man junge Menschen zwingt, dort auszuhelfen, ist das genaue Gegenteil dessen, was nötig ist. Und es ist auch eine Geringschätzung dieser Bereiche - nach dem Motto: Statt eure Arbeitsbedingungen zu verbessern verpflichten wir lieber die Jungend in dem Bereich. Soziales und Pflege kann ja schließlich jeder, der einen kurzen Lehrgang besucht hat…

Die Aussetzung der Wehrpflicht war in jeder Hinsicht eine richtige Entscheidung und der Versuch vieler konservativer Medien, die Tragödie in der Ukraine zu instrumentalisieren, um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht zu fordern, finde ich einfach widerlich.

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