LdN279-281 Russlands Krieg gegen die Ukraine

Vielleicht kann ich ein Kleinwenig beitragen. Wir hatten nun drei Jahre eine Russin in der Einliegerwohnung, die selbst zwar in St. Petersburg aufgewachsen ist, deren Mutter jedoch eine sich als Russin begreifende Ukrainierin ist, die aus dem Donbas stammt. Folgendes habe ich aus den Gesprächen mit ihr mitgenommen:

  • Animositäten bis hin zum offenen Hass zwischen nationalistisch gesinnten Ukrainern und allen als „Russen“ auftretenden Menschen gab es schon zu Zeiten der UDSSR. Das wurde jedoch von offizieller Seite nicht anerkannt, sondern totgeschwiegen. (Ukrainischer) Nationalismus war auch ein Ventil/Betätigungsfeld für alle, die mit dem System unzufrieden waren.

  • Als die UDSSR zerfiel, waren Russland (korrekter die RUF) und die Ukraine plötzlich nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität unterschiedliche Staaten. Die kulturell und politisch vorher dominanten „Russen“ sahen ihren Status bedroht. Außerdem war seit 1990 die wirtschaftliche und demographische Entwicklung in der Ukraine derart katastrophal, dass viele Menschen im Osten der Ukraine eine enge Anbindung an Russland als letzten Strohhalm sahen. (Eine sicherlich etwas schräge Analogie: man stelle sich vor, während einer Schwächephase von UK wäre Irland zunächst zusammen mit dem nördlichen, hauptsächlich von Unionisten besiedelten, Teil unabhängig geworden. Und UK will später einen möglichst großen Teil Irlands sich wieder einverleiben.)

  • Im Zuge der Revolution 2014, die im Osten der Ukraine auch, wenn nicht hauptsächlich, als eine Machtübernahme der Nationalisten begriffen wurde, half Russland nach Kräften bei dem Unabhängigkeitskrieg der „Russen“ im Donbas. Nach dem Waffenstillstand sahen aber die Menschen in den nun von Separatisten kontrollierten Gebieten ihre Hoffnungen enttäuscht. Statt des Anschlusses an Russland bekamen sie nun einer Herrscherclique aus Mafiosis und an der „Kontaktlinie“ einen beständig schwelenden militärischen Konflikt. Während die von einem russischen Großreich träumenden Kräfte weitere Teil der Ukraine erobern wollten, setzten sich radikale urkrainische Nationalisten erbittert zur Wehr. Beide Seiten gingen ohne große Rücksicht auf die Zivilbevölkerung vor.

  • In den russischen Medien und den Verlautbarungen der Regierung wird dieser Konflikt als „Genozid“ an der russischen Bevölkerung der Ukraine dargestellt - seit 2014 ununterbrochen. Selbst wenn diese Gefechte verglichen mit dem, was jetzt gerade passiert, einen minimalen Umfang hatten, gab es in all den Jahren mehr als genug Bilder von im Separatistengebiet durch Beschuss aus dem Westen getötete Zivilisten. Das ist die Legitimationsbasis, auf deren Grundlage die russische Regierung ihre „spezielle Militäraktion“ im eigenen Land verkauft. Welchen Umfang dieser Krieg hat und welche Folgen er jetzt bereits zeitigt, das wird der russischen Öffentlichkeit verheimlicht (soweit das heute noch möglich ist).

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Weder die Ukraine noch Russland haben den Statut des Gerichtshofs ratifiziert, aber die Ukraine offenbar deren Zuständigkeit anerkannt, wie ich gerade bei HR info gelernt habe, daher beschäftigt sich der Gerichtshof nun mit der Kausa. Aber mangels Ratifizierung wird ein Prozess dort wohl sehr unwahrscheinlich sein.

Haltet ihr eigentlich das momentane diplomatische Getöse des Westens für klug?

Sowas wie genau jetzt über die Mitgliedschaft der Ukraine in der EU reden oder den öffentlichen Gedanken, Russland aus dem UN-Sicherheitsrat zu werfen.

Ich sehe zwei Interpretationen und kann mich nicht für eine entscheiden:

  1. Das treibt Putin noch mehr zur Gewalt, weil er sieht, dass er diesen Krieg nun vollends gewinnen muss, sonst ist die Ukraine beim Feind.
  2. Das ist genau das Richtige, damit man bei Friedensverhandlungen wieder von diesen Maximalforderungen als Kompromiss zurücktreten kann (das viel beschworene „Putin versteht nur Stärke“).

@Clara2 Das sehe ich ähnlich.

Ich habe zwar oben argumentativ eine andere Meinung, bezogen auf die aktuelle Situation, vertreten, dass heißt aber nicht, dass ich das Ziel einer friedlichen Welt nicht für machbar oder erstrebenswert halte.

Im Grunde sind ja alle internationalen Maßnahmen, die den Handel oder die Zusammenarbeit mit Russland aussetzen/beenden ja pazifistisch, wenn auch nicht im strengsten Sinne, da z.B. die Türkei ihre Blockade des Bosporus im Zweifel wohl auch militärisch gegen russische Schiffe durchsetzen würde.

Ich denke mal, ein Teil der Bedenken an solchen Positionen, kommt wohl auch daher, dass man sich selbst nicht als Adressat solcher Mahnungen zum Pazifismus fühlt, da „wir im Westen“ ja auf „Seiten der Ukraine“ sind und hier ja nicht der Aggressor sind.

Diese Situation kann sich aber natürlich drehen, sollte die Ukraine sich tatsächlich gegen Russland behaupten und sogar Geländegewinne in der Ost-Ukraine machen. Dann muss, auch von internationaler Seite, darauf geachtet werden, dass es z.B. nicht zu Rache-Aktionen gegen die dortige pro-russische Bevölkerung kommt. Das wäre auch nicht im Sinne einer friedlichen Gesamt-Ukraine.

Möglicherweise dürfen wir uns gerade auch nicht zu sehr in der Rolle des freiheitlichen, demokratischen Westens sonnen, erst recht nicht wenn wir 100 Milliarden Euro teure Rüstungspakete schnüren.

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In der Tat. Was jetzt der Ukraine widerfährt, das ist nicht viel anders als das, was der Irak vor 20 Jahren und in der Folge erleiden musste.

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Ich habe die Tage das Zitat gehört. „Macht zu haben und sie nicht einzusetzen ist Pazifismus. Keine Macht zu haben, die man einsetzen kann, macht einen widerum harmlos.“

Das trifft es denke ich ganz gut. Ich sehe auch nicht wie Pazifismus hier helfen sollte. Russland würde einfach eine pro russische Regierung an die Macht setzen, eventuell Geld und Maschinen abziehen und wer nicht mitmacht wird sich selbst überlassen. Pazifismus wäre dann also hungern, kein Zugang zu Bildung oder sonstigen Einrichtungen. Blockade von Straßen oder ähnlichem würde einfach gewaltsam Niedergeschlagen. Ich sehe halt leider wirklich nicht wie Pazifismus den Menschen in der Ukraine helfen kann.

Vielleicht ein bisschen zu dem passend was @Clara2 geschrieben hat hier ein kurzes Interview mit einem deutschen der seit 8 Jahren in der Ukraine lebt.
https://www.welt.de/politik/ausland/video237199781/Deutscher-in-der-Ukraine-Unsere-Waffen-sind-unser-Verstand-unser-Herz-unsere-Einheit.html

Was ist eigentlich mit diesem Gerichtshof:

Laut Wikipedia ist Russland dem beigetreten, ihm also „unterworfen“. Natürlich gilt auch hier, dass Putin diesem Gericht nur von Russland aus ausgeliefert werden kann, aber da hätte ich die Siegerjustizbauchschmerzen nicht, wenn die Wikipedia Recht hat mit dem Beitritt. Ob dieser Gerichtshof für sowas zuständig wäre, weiß ich nicht.

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@vieuxrenard: Noch eine Ergänzung zu meinem vorherigen Beitrag – warum die Ukraine den Informationskrieg gewinnt (vom Autor des Buchs „LikeWar: The Weaponization of Social Media“):

Ich glaube, dass dort keine Staaten klagen können, aber betroffene Bürger.
Ich halte das auch für einen guten Ort um zu prüfen, ob die Invasion Menschenrechte verletzt hat.

@Clara2 ich verstehe und respektiere ihre Motivation und ihren Standpunkt. Ich persönlich finde es erstrebenswert in einer Gewaltfreien Welt zu leben.

Fakt ist, dass man in die Muster zurückfällt die man kennt bzw. erlebt hat. Meine Erfahrungen in unserer jetzigen Welt ist dass sich der stärkere durchsetzt. Deshalb ist meine Reaktion auf eine Bedrohung mich zu wehren. Damit ich nicht in dieses Muster verfalle muss ich aktiv dagegen ankämpfen. Oft fehlt mir dazu das Bewusstsein und eine Art Automatismus gewinnt.

Mir bleibt nur die Hoffnung dass spätere Generationen andere Erfahrungen machen und dadurch andere Verhaltensmuster erlernen.

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Ich sehe das auch wie @Matder, Frieden und Zusammenarbeit müssen immer das Hauptziel sein.

Nichtsdestotzrotz verstehe ich auf den aktuellen konkreten Konflikt bezogen einfach nicht, inwiefern ein rein pazifistisches Vorgehen hier eine Lösung sein kann. „Verweigerung der Kooperation“ ist da für mich ein zu schwammiger Begriff, insbesondere wenn hier die Gegenseite offensiv militärische Gewalt nutzt und auch vor Kriegsverbrechen nicht zurückschreckt. (Siehe auch meine Fragen zu den pazifistischen Handlungsvorschlägen oben)

Ich bin aber für andere Perspektiven und Argumente natürlich offen, eine friedliche Lösung ist ja in unser aller Interesse.

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@Clara2 Ich finde es absolut wichtig, Alternativen zu benennen. Natürlich ist es nicht einfach, Lösungen in dem aktuellen Konflikt zu finden, die ohne Waffengewalt, ohne Zerstörung, ohne tote Menschen auskommen. Denn das war bisher immer die sogenannte letzte Option. Ohne Zerstörung und tote Menschen geht es nicht. Und aus dieser Kriegslogik auszusteigen, wenn man sich in Friedenszeiten keine konkreten Gedanken zu Alternativen gemacht und diese eingeübt hat, ist schwierig oder sogar unmöglich. Wir hier in Deutschland haben (noch) Frieden. Die 100 Milliarden, die für die Bundeswehr vorgesehen sind, müssten wir in Rüstungskonversion und in Bildungsarbeit für das Einüben von Sozialer Verteidigung stecken. Und zwar für die gesamte Bevölkerung.

Das Kind ist in den Brunnen gefallen, Putin wird was angefangen wurde zu Ende bringen.
Mehr Waffen machen jetzt alles nur noch schlimmer und die Ukraine sitzt nicht am längeren „Hebel“.
Meiner Meinung nach hat der Westen zu hoch gepokert oder vielleicht fehlte auch einfach nur das „Expertenwissen“, wo kein Wille ist ist auch ein Weg.
Auch ukrainischen Oligarchen sind keine Saubermänner, die Bevölkerung muss den Mist jetzt ausbaden. Deeskalation geht jetzt nur in dem mal einer über seinen Schatten springt,
vielleicht sollte die Ukraine den Neutralitätsstatus akzeptieren.

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Andersrum wird ein Schuh draus.
Putin ist zu weit gegangen.
Welche Zukunft für ein Russland mit einem Führer Putin siehst du noch?
Selbst China ist mit seiner Enthaltung im Sicherheitsrat auf Distanz gegangen.

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Lieber Philip, lieber Ulf,

das ist das erste Mal, dass ich Euch schreibe. Ich habe die Lage nun schon länger abonniert und seitdem keine ausgelassen. Ihr nervt mich manchmal, weil für mich etwas zu links. Aber Ihr macht das wett durch Euren Intellektualismus und Eure Fairness. Das findet man sonst nirgendwo. Die letzte Ausgabe zum Start des Angriffskriegs auf die Ukraine geht für mich persönlich jetzt aber in die Sternstunden des deutschen Journalismus ein. Ich will Euch auf diesem Wegen nur Danke sagen und gar nicht so sehr in die Details abdriften. Das Wichtigste, was sich in Eurer Sendung grundsätzlich und auch hier besonders gezeigt hat, kurz erwähnt: Ihr bemüht Euch stets um die Wahrheit und seid auch bereit eigene Irrtümer einzugestehen und Euch zu revidieren. Das ist nicht selbstverständlich. Das ist einfach groß. Respekt und vielen Dank.

Herzliche Grüße
Adam

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Glauben Sie wirklich, dass es Putin noch um einen „Neutralitätsstatus“ geht? Russland will keine unabhängige Ukraine, sondern einen Satellitenstaat a la Belarus, aus dem er nach Belieben Stücke rausreißen kann.

Selenskyi ist im übrigen kein Oligarch sondern ein frei gewählter Präsident.

Und immer noch dem Westen eine Schuld am russischen Angriffskrieg zu geben, ist für mich noch unverständlicher.

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Ihm werden enge Beziehungen zum Oligarchen Ihor Kolomojskyj nachgesagt.

Was wäre das für ein Signal an alle Führer von Staaten mit expansiven Gelüsten? Jetzt ist er einmaschiert, dann lasst ihn jetzt auch? Das wäre doch fatal! Putin darf diesen Konflikt politsch in gar keinem Fall überleben, es muss von der Welt-Gemeinschaft ein ganz klares Signal gesendet werden, dass so ein Verhalten nicht akzeptiert wird und auf jeden Fall mit sehr großen persönlichen Verlusten an Macht und Geld verbunden ist.

Leider fällt mir auch keine gute Möglichkeit ein, wie man die Last auf die Bevölkerung beider Länder minimieren kann, aber so eine Geschwür muss rausgeschnitten werden, auch wenn es erstmal weh tut.

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Die Frage ist halt was gewinnen WIR wenn sich Putin so in die Ecke gedrängt fühlt und er glaubt sein einziger Ausweg ist der „rote Knopf“?
Was gewinnt die Ukraine wenn der Wahnsinnige demnächst doch Atomkraftwerke oder Atomlager hoch gehen lässt?

Es ist die höchste Zeit zu deeskalieren und vielleicht die eine oder andere Kröte zu schlucken.

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