LdN227 Putsch in Myanmar

Hallo Lage-Team,

ich habe mich sehr gefreut, dass Ihr in der aktuellen Lage die Situation in Myanmar besprecht. Bleibt da bitte dran, damit die Welt sich nicht nur für das Aerobic Video interessiert.

Einige Anmerkungen würde ich aber gerne machen:

  1. Man kann Aung Sang Suu Kyi durchaus für ihr Appeasement ggü dem Militär während des Genozids an den Rohingya kritisieren (siehe unten) - dann sollte man aber ihr nicht weniger Sätze später vorwerfen, dass sie mit mehr Appeasement ggü. dem Militär diesen Putsch hätten verhinden sollen.

  2. Zur Rolle des Militärs in Myanmar:
    Die Militärdiktatur in Myanmar war eine der härtesten, die die Welt je gesehen hat. Als die Generäle 2010 Teile der Macht auf öffentlichen Druck abgeben mussten, haben jene dies nur so weit getan, wie es nötig war.

Große Teile der Wirtschaft und der Medienlandschaft sind nachwievor in der Hand der „Cronies“ genannten Militärseilschaften. Auch die von euch thematisiserte Sperrminorität gehört dazu sowie die Ministerien für Inneres und Verteidigung (ergo das Gewaltmonopol). Wichtig ist aber, dass im eigenen Selbstverständnis, dass Land immer eigentlich dem Militär gehört hat.

Die fehlenden Checks und Balances sind also kein handwerklicher Fehler in der Verfassungsgebung sondern vom Militär so gewollt.

Es ist äußerst fraglich ob die Zivilregierung den politischen Einfluss hat, den der Westen gerne annimmt.

  1. Interkulturelle Überlegungen:
    Myanmar ist ein unglaublich armes Land, dass zu dem noch 50 Jahre kulturell von der Außenwelt abgeriegelt war. Selbst im Vergleich zum Ländern wie Kambodscha fällt einem dies auf. In Myanmar gehören beispielsweise Ochsenpflüge noch zum alltäglichen Bild.

Das Land hat seit seiner Öffnung unglaubliche Fortschritte gemacht - dennoch kann man nicht erwarten, dass in so kurzer Zeit nun jeder Birmane einen Gymnasialkurs „Kulturrelativismus nach Europäischem Muster“ gemacht hat. Auch schließen wir immer gerne von unserer westlichen „individuellen Kulturen“ auf „interdependete Kulturen“ wie jene Asiens, ohne uns den Unterschied bewusst zu machen. Vorstellbar, dass ein einräumen des Genozids durch die Zivilregierung einen Gesichtverlust für das gesamte Land bedeutet hätte. (So albern dieses Konzept für uns scheinen mag, so real ist das Konzept von „Face“ für viele Asiaten)

Es ist also auch fraglich ob die Zivilregierung kulturell die Möglichkeiten hat, die der Westen gerne annimmt.

Klar ist in diesem Land vieles im Argen, aber kulturellen Wandel braucht Zeit. Auch wenn der Rohingya-Genozid ein absolut verurteilenswertes Verbrechen gegen die Menschlichkeit war und ist, lohnt sich ein differenzierter Blick auf diesen (und auch andere bewaffnete etnische Konflikte in dem Vielvölkerstaat). Kultureller Wandel braucht Zeit - die hat Myanmar aber bisher gut genutzt, ist aber (verständlicherweise) noch lange nicht am Ziel. Diesen Prozess jetzt abzuschreiben, weil Aung Sang Suu Kyi sich nicht so verhalten hat, wie es nach unserem Verständnis richtig gewesen wäre, halte ich für einen fatalen Fehler.

Ich war im Frühjahr 2011 mit einer organisierten Wanderreise in Myanmar, in den heute noch am meisten besuchten Touristengegenden Mandalay, Inle-See, aber auch in der östl. Stadt Kehntung. Um die irrsinnige Entwicklung dieses Landes in den letzten 10 Jahren zu verstehen, muss man sich klar machen, dass es dass es 2011 noch keinen einzigen Geldautomaten gab. Man musste sein Reisegeld in möglichst makellosen Dollarscheinen mit ins Land bringen - und dann schwarz tauschen, da der offizielle Wechselkurs - wenn ich mich recht erinnere - 100 mal schlechter war. Wenn diese Dollars aufgebraucht waren, gab es keine Möglichkeit, in Myanmar an Geld zu kommen. Zusätzlich gab es keinerlei international Roaming, also keine Möglichkeit, mit dem Handy ins Ausland zu telefonieren, SMS zu schicken etc. Es gab Internet, aber zensiert und größtenteils so langsam, dass ich nicht auf das Abrufen der Nachrichten im „Internetcafé“ warten konnte. Damals gab es noch große Bereiche dieses Riesen-Landes, in die wir nicht hätten einreisen dürfen, weil sie noch in einem Bürgerkriegszustand waren. Das hat sich meines Wissens in den vergangenen Jahren auch nicht wirklich verändert.

Das nächste Mal war ich als Alleinreisende im Herbst 2018 und Herbst 2019 in Myanmar, im „unerschlossenen Süden“, 2018 eingereist mit E-Visum. Touristen dürfen nur in Hotels/Guesthouses übernachten, die zertifiziert sind, was Übernachtungen in kleinen Ortschaften bzw. Orten „zwischendrin“ unmöglich macht.

Selbstverständlich ist Myanmar immer noch ein unterentwickeltes Land, aber: in den Städten bzw. Touristenorten gibt es viele (funktionierende) Geldautomaten - und überall ist der Smartphone-Empfang sehr gut bis hervorragend. Sogar auf einer 300 km Bahnfahrt von Touristenort zu Touristenort hatte ich fast die ganze Zeit Empfang. Die Straßen sind auch im Süden größtenteils in einem sehr guten Zustand.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich diese Entwicklung der letzten 10 Jahre wieder zurückdrehen läßt - jetzt hat sich das Land geöffnet, ich war in einem Ort, in dem es genau ein Guesthouse für Ausländer gab und ich zu diesem Zeitpunkt vermutlich die einzige AusländerIn im Ort war - und selbst hier gab es englisch sprechende Jugendliche, die neugierig waren. Die Tochter der Besitzer eines Hotels in Dawei, die perfektes Englisch spricht. Ich glaube nicht, dass die Militär-Herrschaft nochmal so sehr das Land von der Welt abschneiden kann, wie sie es vor 2011 tat.

Ich hoffe es sehr - auch wenn mir bewusst sind, dass ich nur einen winzigen Ausschnitt dieses großen Landes gesehen habe - und vermutlich als Europäerin nicht die geringste Ahnung von der wirklichen Situation habe.

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