LdN217 Die Amokfahrt und die Natur des Menschen

Liebe Leute,
wie ging es Euch mit der Bemerkung in der LdN217-Folge, dass man Angesichts der Amokfahrt in Trier konstatieren müsse, dass Menschen nun Mal gelegentlich durchdrehen und solche Dinge nicht zu verhindern seien?
Ich als Idealist würde mir da etwas mehr Kreativität wünschen und keine Naturalisierung eines gesellschaftlichen Zustandes, der Menschen in die Lage versetzt, solche Gräueltaten zu unternehmen.
Zwar wurde im Verlauf der Folge als Mittel gegen solche Unternehmungen von „gestörten“ Einzeltätern das nachbarschaftliche, kollegiale „Können wir Ihnen vielleicht helfen?“ vorgeschlagen, das ist mir aber nun wirklich zu wenig!
Ich denke, weniger gesellschaftliche Isolierung durch Nachbarschaftsinitiativen, mehr Streetworker, mehr niedrigschwellige Angebote psychologischer Begleitung, weniger Lohnarbeitsstress usw. wären alles Maßnahmen, die auf struktureller Ebene ergriffen werden müssten, um solchen Amokfahrten vorzubeugen.
Dass Menschen in dieser Art ausflippen mit „so ist halt die menschliche Natur“ zu rechtfertigen, empfinde ich als eine Absage an all jene Maßnahmen, als eine Untertreibung der gesellschaftlichen Verantwortung für diejenigen, die durchs Raster fallen! Oder geben wir uns mit der Einschätzung zufrieden, dass in einer idealen Gesellschaft solche Dinge ebenso passieren?
Bei Jugendlichen, die Amok laufen, weil sie das in Computer-Spielen gelernt haben, sagt ja auch niemand „so sind Jugendliche halt, das ist die Pubertät!“…
Also: Bitte etwas mehr die gesellschaftliche Grundlage solcher Taten beleuchten.
Das nur am Rande.
Viele Grüße aus Freiburg,
Lu

Jugendliche laufen Amok, weil sie das in Computerspielen gelernt haben? Hätten wir jetzt 1998 würde ich Ihnen das glatt abkaufen. Aber im Jahr 2020 wissen wir es besser, dass es eben nicht die „Killerspiele“, sondern deutlich komplexere Ursachen sind, die einen Menschen zu einer solchen Tat bringen.

Dem Argument mit der niedrigschwelligen psychologischen Begleitung gehe ich mit. Ich half einem suizidgefährten Freund, eine Therapie für eine Depressionen zu bekommen. Das war eine Odyssee, bis wir eine Einrichtung gefunden haben, in der er gut betreut wird und nochmal länger, bis er im Anschluss daran einen guten Therapeuten gekriegt hat. Hätte er diese Anrufe alleine tätigen müssen, hätte er wohl aufgrund seiner Depression schnell aufgegeben.
Da sehe ich wirklich großes Verbesserungspotential.

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Gebe dir Recht, was alle Maßnahmen betrifft, die du beschreibst. Ich denke aber, bei der LdN-Folge ging es aber hauptsächlich darum, dass es keinen Sinn ergibt, Schutzmaßnahmen, wie sie in den Medien schon gefordert wurden, wie Abschottung der Innenstädte durch Pöller etc. zu ergreifen. Und in dem Sinne kann ich den beiden zur zustimmen: der Versuch, sich durch erhöhte Sicherheitsmaßnahmen vor solchen Zwischenfällen zu schützen, ist zum Scheitern verurteilt.

Aber ja, klar. Völlig richtig, was die strukturellen Maßnahmen angeht.
Was die Niederschwelligkeit psychologischer Begleitung angeht, finde ich es eigentlich erstaunlich, dass wir immer noch nicht an einem Punkt sind, an dem im Gesundheitssystem wenigstens diskutiert wird, ob es nicht sinnvoll wäre, ein Checkup ähnlich dem physischen beim Allgemeinarzt auch einmal im Jahr beim Psychotherapeuten durch die Krankenkassen übernehmen zu lassen, damit Belastungen und Risikofaktoren auffallen, bevor sie zu größeren Problemen werden.

Bei dem hier will ich allerdings nicht zustimmen:

Der Begründungszusammenhang mit Computer-Spielen ist nach wie vor ziemlich unbelegt und aller Wahrscheinlichkeit Quatsch und ein ähnlicher Straw Man wie vor 20 Jahren der Versuch, Marilyn Mansons Musik die Schuld an Columbine zu geben.
Für Jugendliche gilt dasselbe, was du schon zum Generellen gesagt hast, und insbesondere sollte der Ausbau der schulpsychologischen Dienste dabei eine Rolle spielen.

Hm ich denke ich verstehe was du meinst, nur finde ich auch deine Deutung der Ursachen für gewagt bzw spekulativ. Es ist und bleibt wahrscheinlich unbekannt was genau im Leben des Täters schief gelaufen ist und welche gesellschaftlichen und persönlichen Ursachen zu der Tat geführt haben.

Die traurige Wahrheit ist, dass wir zum einen in keiner idealen Gesellschaft Leben und vermutlich nie Leben werden und zum anderen dass tatsächlich leider manchmal Menschen im Affekt oder bewusst/gezielt anderen Menschen schaden. Nicht immer ist es möglich dies zu verhindern.

Dennoch stimme ich dir zu, wir sollten als Gesellschaft möglichst dahin streben eine ideale Gesellschaft für alle Menschen zu werden, wo keiner „durch das Raster rutscht“.
Doch bleiben wir Menschen und es werden stets Fehler passieren und Lücken bleiben.
Solange wir auf der Erde leben und noch nicht der Himmel auf Erden angebrochen ist.

Was ich jetzt aber merke und was mich wirklich stört an deinem Beitrag ist, dass du die Verantwortung des Täters ausblendest und diese bei der Gesellschaft suchst.
Quasi der Täter als Opfer seiner Umstände.

Dem widerspreche ich entschieden, denn im Endeffekt ist es die Verantwortung jedes Einzelnen nicht zum Täter zu werden. Es gibt viele harte Schicksale und jeder trägt sein Päckchen an Verletzungen und (Fehl) Prägungen, dennoch ist es die höchst eigene Verantwortung was man daraus macht.
Anderen zu Schaden ist kein Umgang damit.

Ich danke Euch für eure spannenden Rückmeldungen! Es stimmt, dass das Beispiel mit den Computer-Spielen und den Jugendlichen nicht ganz passt. Ich wollte damit nur plakativ darauf hinweisen, dass ich die Debatte über die strukturellen Hintergründe extremistischer Taten wichtig finde.

Und ja @Ruhrpottler da könnte jetzt eine philosophische Diskussion über die Autonomie des Subjekts in der Spätmoderne starten. Wer trägt die Verantwortung dafür, dass ein Mensch zum Täter wird? Ich würde schon sagen, dass dem Täter Verantwortung zukommt. Ich bin jedoch weiterhin entschieden dafür, dies nicht NUR auf eine konstruierte Vorstellung von der Natur des Menschen zu schieben, sondern AUCH die Verantwortung der Gesellschaft zu thematisieren. Das ist für „Unbeteiligte“ natürlich unangenehmer und wesentlich komplexer, als wenn ein Täter bereitsteht, dem die ganze Schuld zugesprochen werden kann.

Ich denke schon, dass in der gegenwärtigen, hoch-individualisierten Gesellschaft zu oft Konzepte der Selbstverantwortung und des unabhängigen Subjekts hochgehalten werden, um menschliches Verhalten zu erklären. In der Konsequenz entlastet dies die Entscheidungen jener, die unser alltägliches Leben und die Spielräume unseres Verhaltens rahmen.

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