LdN 424 - USA holen die Kartoffeln aus dem Feuer - sind die Verhältnisse tatsächlich so einseitig?

In der LdN 424 hieß es, die negativen Ansichten von Vance und anderen amerikanischen Spityenpolitikern gegenüber Europa seien verständlich, weil die USA stets für Europa „die Kartoffeln aus dem Feuer“ holen. Teilweise stimme ich dem zu. Aber man muss auch bedenken, dass die USA tatsächlich im Gegenzug davon profitieren, dass sie bislang die Rolle der Weltpolizei spielen, auch zugunsten Europas:

  • Europäer haben im Irak-Krieg und anderen Konflikten für die USA gekämpft (GB, F, DK etc. - ausgerechnet Dänemark mit einer relativ hohen Todesquote); Deutschland hat amerikanische Kriege teils mitfinanziert.
  • Durch die wirtschaftliche Vorrangstellung wurde der Dollar zur Leitwährung mit enormen wirtschaftlichen Vorteilen für die USA (z.B. ein exorbitanter Kreditrahmen) - das hätte sich nicht so entwickelt, wenn die USA sich nicht über die Jahrzehnte sehr viel „good will“ verdient hätten.
  • Die USA nehmen sich auf internationaler Bühne Sonderrechte heraus, die die Weltöffentlichkeit anderen Staaten nicht so leicht durchgehen ließe: Boykott (jetzt Sabotage) des IGH und IStGH, Austritt aus Pariser Klimaschutzabkommen und zugleich enorme Schäden durch Umweltverschmutzung zuhause.
  • Ein enormer Fluss von Anlegerkapital an die New Yorker Börse aus Europa und andere wirtschaftliche Investitionen - die so nicht möglich wären, wenn die USA nicht die europäische Wirtschaft auch militärisch unterstützen würden.
  • Die amerikanische Kriegsindustrie konnte sich nur aufgrund der Rolle der USA als Weltpolizei so entwickeln, und so kommt es, dass Europa auch tüchtig dort einkauft.
  • Geheimdienste nutzen europäische Infrastruktur; Militärbasen in Europa nutzen nicht nur der europäischen Sicherheit, sondern auch anderen amerikanischen Interessen.
  • Internationale Kooperationen: Deutschland hat z.B. einen russischen Schwerverbrecher an Russland überstellt, damit Amerikaner in Russland freikommen.

Ich sehe also die verächtlichen Äußerungen von Vance und anderen im Signal-Groupchat kritischer, als es in der Podcastfolge durchklang. Die Frage lautet deshalb für mich: Wenn sich Europa nun im Bereich Sicherheitspolitik selbständiger macht und aufrüstet, wie kann Europa verhindern, dass die USA weiterhin die massiven wirtschaftlichen Vorteile erhalten, obwohl sie im Gegenzug wesentlich weniger für Europa tun werden?

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Das ist alles nicht falsch.

Im Ergebnis interveniert die USA in vielen Fällen im Interesse auch von Deutschland oder Europa militärisch, schlicht und ergreifend, weil Deutschland bzw. die EU nicht können. Und zwar weil die USA mehr als 3x so viel pro Kopf für Militärausgaben ausgibt im Vergleich zu Deutschland oder auch zur EU. Wir haben das Friedensdividende genannt. Und die Amerikaner sind - spätestens seit Bill Clinton - zunehmend genervt von diesem Trittbrettfahrer-Verhalten. Das haben wir so lange ignoriert wie die Transatlantischen Beziehungen für die USA wichtig waren. Das ist spätestens jetzt nicht mehr der Fall, so dass dieses strukturell instabile Gerüst in sich zusammen fällt und wir „plötzlich“ merken, dass wir uns nicht mehr selbst verteidigen können.

Eins von den vielen Beispielen, bei denen Politik unter Beweis stellt, dass man um den kurzfristigen Vorteil nicht langfristig denken und handeln will ….

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Hast du hier ein Beispiel für einen Konflikt bei dem die USA in den letzten 10 Jahren aktiv mit geholfen haben ohne starke Eigeninteressen sondern für die EU? Mir fällt keiner ein … Selbst die Unterstützung der Ukraine war ja im Sinne der USA und war hauptsächlich Material und Geheimdienst Informationen und kein direktes militärisches eingreifen mit Soldaten.

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Gerade vor ein paar Tagen sind drei amerikanische Soldaten in Litauen umgekommen (nicht im Kampf), wo die NATO-Präsenz Soldaten aus verschiedenen Ländern umfasst. Letzten August wurde ein Taylor-Swift-Konzert in Wien abgesagt, weil ausländische Geheimdienste eine islamistische Bedrohung erkannt hatten - da war mit Sicherheit auch ein amerikanischer Geheimdienst involviert. Und schließlich gilt die nukleare Abschreckung der NATO durch die USA stets, und ohne die USA stünde Europa ziemlich blank da. Die letzten beiden britischen Raketentests sind gescheitert (im Laufe der letzten zehn Jahre oder so), und das französische Militär hat m.W. kaum ein größeres Budget als die Bundeswehr, muss damit aber auch die Atomwaffen auf Vordermann halten.

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Das ist aber doch aus US-Sicht super gewesen. Die Alternative wäre gewesen, dass europäische Staaten (mutmaßlich mehrere) sich selbst eine ausreichende Abschreckung beschafft hätten, mit entsprechenden Folgen für Proliferation und die Sicherheit der USA.
Ähnliches gilt fur viele andere Kollateralnutzen des US-Schutzes für Europa. Wenn die Europäer sich nun teilweise oder sogar ganz aus dieser Abhängigkeit lösen wird sehr deutlich werden, welchen extremen Verlust an soft- und hard-power, welche ökonomischen Nachteile das für die USA bedeutet. Das ist eine Entwicklung, die in Summe keine Verbesserung für die USA bedeuten wird, sondern eine dramatische Verschlechterung.

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Also ich lese kein Beispiel bei dem die USA Aktiv für rein europäische Interessen militärisch aktiv wurde. :thinking:
Litauen war eine Übung der Nato. Taylor-Swift Anschlag war kein militärisches Ziel in dem Sinne und es wurde wohl durch das CIA gewarnt. Nukulare Abschreckung ist durch Frankreich gegeben und die USA hat massive Vorteile gegenüber Russland durch Stationierung innerhalb der EU.

Die französische Raketen sind leider nicht ausreichend zu nuklearen Abschreckung geeignet. Dazu braucht es mehr (die Anzahl, deren Locations, deren Abschussmechanismen) und auch andere (taktische Waffen).

Frankreich hat 290 England 225…wie viel braucht man für die Abschreckung? Wenn 200 Atomraketen auf Moskau zufliegen muss nur eine durchkommen :person_shrugging:

Weil Atombombe nicht Atombombe ist.

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„Frankreich unterhält insgesamt vier sous-marin nucléaire lanceur d’engins (SNLE, deutsch: Atom-U-Boot mit Raketenstartrampen), von denen zwei ständig auf hoher See einsatzbereit gehalten werden.“

Spätestens die sollten als Abschreckung funktionieren. Oder erkläre mir bitte warum nicht.

Abschreckung ist ein relativ komplexes Thema, weil die sich nicht aus der objektiven Zahl der Sprengköpfe oder Raketen oder der Sprengkraft ergibt, sondern im Kopf des Gegners. Stark vereinfacht: Einsetzbare Mittel x Erwartung eines Gegners, dass man die einsetzen wird = Abschreckung.
Beide europäischen Nuklearstaaten besitzen strategische Nuklearwaffen, mit denen man, wenn entsprechend mit mehreren Sprengköpfen bestückt, mehrere Städte ausschalten kann. Frankreich besitzt zusätzlich noch eine flugzeuggestützte Nuklearwaffe, die speziell für den Zweck designt wurde, als quasi ultimative letzte Warnung das Erreichen der appokalyptischen Schwelle gegenüber einem Gegner signalisieren zu können.
Nun nehmen wir mal an, Russland marschiert im Baltikum ein, vielleicht mit 20km Tiefe oder so. Einen möglichen Gegenangriff will Moskau nuklear abschrecken. Die Verbündeten greifen an und Russland reagiert mit nuklearen Gefechtsfeldwaffen. Soll Russland glauben, dass eine demokratische europäische Regierung darauf reagiert, indem sie Moskau auslöscht? In dem Wissen, dass Paris oder London das gleiche Schicksal treffen würde? Was also unter anderem fehlt, sind Zwischenstufen der nuklearen Eskalation.
Ausführlich dazu

Zur Geschichte und unterschiedlichen nuklearen Waffensystemen (auf englisch) https://youtu.be/xSnZLWjOkHU?si=7Wiq1RJjoH_mXVO3

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Das wäre auch meine Quelle gewesen. Danke

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Die französischen Atomwaffen dienen nur der Abschreckung von Angriffen auf Frankreich und nicht auf andere Länder, die sind sozusagen französische Privatangelegenheit und haben nichts mit der NATO zu tun. Aber womöglich wollen Macron und Merz darüber jetzt verhandeln. Le Pen hatte angedroht, dass sie den französischen Schirm keinesfalls auf Deutschland ausdehnen wollte, aber ihre Pläne haben ja erst einmal an Bedeutung verloren.

Na wir sollten ja technisch dazu in der Lage sein eigene zu bauen/entwickeln. Aber die Diskussion geht in eine falsche Richtung. Also ist die Abschreckung mit Atomwaffen das einzige das die USA militärisch für Europa ohne Hintergedanken leistet (Außer Stationierung auf dem europäischen Kontinent) und darauf kann man sich eh nicht verlassen und ist jetzt auch nichts etwas in den letzten 20 Jahren von Relevanz war.

Ein Musterbeispiel für das Präventionsparadox: Abschreckung funktioniert dann am besten, wenn man denkt, es ginge auch ohne.

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Du glaubst also, der russische Präsident setzt nukleare Waffen auf dem Schlachtfeld ein, tötet bzw. verstrahlt damit potentiel zehntausende seiner eigenen Soldaten und hofft danach „normal“ weiter regieren zu können?
Das halte ich für ein sehr unwahrscheinliches Szenario.

So ein Nuklearwaffeneinsatz würde vermutlich auch China sehr stören, (die noch eine geordnete (Handels-) Weltordnung brauchen, um ihrerseits die USA irgendwann als globale Hegemonialmacht abzulösen) und die sich dadurch sogar gegen die russische Regierung wenden könnten, um nur mal eine mögliche Folge zu skizzieren.

Solche Pläne werden den Russen ja öfter mal angedacht. Und da frage ich mich immer, wieso den Russen an der Stelle plötzlich so wenig Weitsicht und fast schon ein geopolitischer Todeswunsch unterstellt wird, während man sie meistens danach gleich wieder als gerissen und schlau hinstellt. (Das bezieht sich jetzt nicht direkt auf @JohanneSAC , sonden auf viele Leute)

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Es ging ja darum, eine Lücke in der Abschreckung zu illustrieren, nicht um das wahrscheinlichste Szenario. Ich wollte die Diskussion hier nicht zu weit zerfasern. Die Debatte, was genau man eigentlich nuklear abschrecken will also wie hoch die Einsatzschwelle wäre, ist eine andere, als die, über die tatsächliche oder „gerechte“ "Arbeitsteilung " in der Sicherheitspolitik, die Frage, wie Russland seine Optionen abwägt, wieder eine andere.

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In Anbetracht, wie zyklisch diese Diskussionen sind und wie wenig da bis Trump passiert ist, kann man das getrost unter Innenpolitik verbuchen. Zu mal, wenn man sich die französisch-amerikanischen Beziehungen über die Jahrzehnte anschaut, deutet eher weniger daraufhin, dass die USA jemals wirklich viel interesse an eigenständigen Europäern hatte.

Glaube das ist mehr talking point als fakt. Niemand glaub ernsthaft die Nato könnte sich, auch ohne die USA, nicht gegen Russland verteidigen. Die USA soldaten sind nicht noch in Europa stationiert, weil sonst die NATO hilflos darstehen würde, sondern um die Abschreckungwirkung durch US Beteiligung quasi zu manifestieren. Da gehts, um Abschreckung nicht Verteidigung. Die Fragilität der Nato besteht vor allem darin dass Osteuropa, Westeuropa und vor allem Deutschland nicht abkauft, sie zu verteidigen. Was verständlich ist, wenn man bedenkt, wie lange Deutschland gebraucht hat um die Grenze anzuerkennen.

Das ergibt nicht so viell Sinn. Die neuausrichtung deutscher Machtpolitik, von delegitimierter militärischer zu wirtschaftlicher ist schon eine klare langfristige Strategie gewesen und kein schwäbischer Anfall. Zumal auch bisher kein Wahlkampf vergangen ist ohne, dass nicht zumindest einmal von konservativer Seite deutsche Aufrüstung gefordert wurde. Je mehr ich darüber nachdenke desto mehr scheint mir der Friedensdividendebegriff einfach nur konservative propaganda zu sein. Zum einen, wo soll diese denn hingeflossen sein ? In den Sozialstaat, Infrastruktur, Forschung oä. ganz sicher nicht. Zum anderen verließ der Diskurs zur Aufrütung noch nie entlang der Frage der Finanzierbarkeit.

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Meines Wissens gilt es als belegt, dass Deutschlands Munitionsvorräte im Falle eines Angriffs unzureichend wären („innerhalb von zwei Tagen“, „wir stehen blank da“).Ich meine, die UK steht da noch schlechter da und ich vermute, dass es in Frankreich nicht signifikant besser ist.

Naja, gegen ein Russland, wie es die Ukraine überfallen hat bzw. wie es jetzt dort kämpft, könnte sich ein Europa sicher verteidigen.
Gehen wir mal davon aus, dass die USA nicht unsere Waffensysteme deaktivieren und uns Munition verkaufen würden. Südkorea würde sicher auch liefern können und unsere Reaktion wäre wohl etwas wehementer gewesen, was die Kapazitätsausweitungen angeht.

Ob das auch noch gilt, wenn Russland in 5 Jahren angreift, nach 8 Jahren Kriegswirtschaft, mit einem Gottkaiser Trump in der 3. Amtszeit der findet, wir sollten uns vergleichen und nachdem wir auch die kommenden 5 Jahre nichts an strategischen Kapazitäten aufgebaut haben, das ist ne andere Frage.