LdN 402: Warum so hoher Bedarf an Psychotherapie für Kinder?

In Minute 2:30 der Folge sagt Philipp:

In der Schule meines Sohnes waren, (…) so ungefähr 30% der Schüler und Schülerinnen schon mal bei einem Psychotherapeuten, oder in klinischer Behandlung. Das haben die nicht geschätzt, das haben die da erhoben.

Das halte ich für eine grotesk hohe Anzahl. Ich habe hierzu nur wenige weitere Quellen gefunden, und die verweisen irgendwie alle auf einen Barmer Arztreport von 2021.

Auch ein Artikel auf Tagesschau.de stütz sich auf obigen Report:

Am größten sei 2019 der Bedarf in Berlin mit 5,19 Prozent aller Kinder und Jugendlichen gewesen, gefolgt von Nordrhein-Westfalen und Hessen.

Den geringsten Anteil habe Mecklenburg-Vorpommern mit 3,33 Prozent aller jungen Menschen verzeichnet, hieß es weiter.

Nun sind 5% schon mal viel weniger als 30%, aber der Artikel bezieht sich ja auf das Jahr 2019, also vor der Pandemie.

Ich denke die Corona-Pandemie als Ursache ist schon ziemlich klar, aber warum war die Rate der Kinder in Behandlung schon vorher so hoch? Der Barmer Report listet folgende Diagnosen für Psychotherapien (Fallzahlen aus dem Text in Klammern):

  • F43 – Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (37.400)
  • F32, F33 – Depressionen (23.100)
  • F93, F94 – Emotionale Störungen des Kindesalters sowie Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (22.000)
  • F41, F40 – Andere Angststörungen sowie Phobische Störungen (8.226 und 3.722)
  • F50 – Essstörungen (4.900)
  • F98 – Andere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (4.700)
  • F42 – Zwangsstörung (4.400)
  • F92 – Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (4.200)

Des weiteren schreibt die Barmer:

Alle übrigen auf Rang 13 bis 19 gelisteten dreistelligen ICD-10-Diagnosen ließen sich im Rahmen der hier durchgeführten Auswertungen im Jahr 2019 jeweils nur als Anlass für zwei oder weniger Prozent der Richtlinientherapien bei Kindern und Jugendlichen verantwortlich machen.

Was sind die Ursachen?

  • Sind die heutigen Kinder anfälliger?
  • Wird heute eher behandelt als früher?
  • Hängen die Kids zu viel am Handy?
  • Ist unserer Gesellschaft härter geworden?
  • Kinder wachsen Zusehens von Armut bedroht auf?
  • Hat Ganztagsbetreuung ab dem ersten Lebensjahr eine Auswirkung?
  • Haben zwei berufstätige Eltern eine Auswirkung?
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Ist die Rate denn hoch? Laut dieser Quelle sind jährlich (Stand 2023) 27,8% der Bevölkerung von psychischen Krankheiten betroffen, das ist zwar Post-Corona, aber ich denke, es kann davon ausgegangen werden, dass die Rate dann schon 2019 zumindest deutlich höher als 5 Prozent lag. Insofern wären Kinder hier eher unterdurchschnittlich betroffen.

Ich glaube nicht das psychologische Erkrankungen gleich verteilt über alle Altersklassen hinweg verteilt sind. 0-10 jährige welche an Depressionen leiden werden vermutlich erheblich weniger sein als in der Gruppe der 70-80 jährigen wenn man ehrlich ist.

Ich sehe auch nicht in meinem Umfeld jeden vierten in Behandlung. Oben wird geschrieben das die Kinder schon mal in Behandlung waren, wobei die 27,8% von psychischen Krankheiten betroffen spricht…was auch immer das heißen soll.

Da gibt es aus meiner Sicht viele verschiedenen Aspekte.
Es hat sich das Bild der Psychologie geändert. Früher gab es in meinem Umfeld salopp gesagt die Vorstellung, dass es gesunde/normale Menschen gibt und geistig Kranke, die in eine Gummizelle müssen. Alles was heute z. B. unter Depression läuft wurde nicht diagnostiziert und die Menschen - auch wenn für das Umfeld geistige Probleme offensichtlich sind - begeben sich nicht in Behandlung.
Diese Vorstellung hat sich deutlich geändert und es gibt statt den schwarz-weiß denken auch noch viele Zwischenstufen, die früher nicht erkannt wurden. Bei Kindern entsprechend erst recht nicht.

Ein weiterer Grund ist die Erziehung. Wir haben das dritte Reich noch nicht überwunden. Das zeigt sich nicht nur im Erfolg der AfD, sondern auch in der Erziehung. Stichwort ist schwarze Pädagogik. Man merkt das z. B. daran, das ein Drittel aller Kinder keine sichere Bindung haben. Das korreliert gut mit den 30% (falls ich die Zahl richtig im Kopf habe).

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Kinder in Psyhotherapeutischer Behandlung mit Erwachsenen in Behandlung zu vergleichen ist schwierig, da es ein parallel existierendes System gibt, nämlich die Eingliederungshilfe sowie die Kinder und Jugendhilfe.

Idealerweise können diese Hilfen verhindern, dass Kinder weitere Störungen der Psyche bekommen.

Gefährdet sind Kinder mit Hoch oder Minderbegabung, Neurodiversität wie ADHS oder Autismusspektrumsstörung und andere Entwicklungsstörung wie Dyspraxie etc., da sie im Schul und Lebensalltag durch Überforderung und Missverstehen in einem Dauerstress leben.

Um all das noch zu verschärfen und da absurdum zu führen , versuchen einige Kostenträger zum Beispiel für Menschen mit Autismus Autismus die Anbieter für Autimstherapie und Heilpädagogik auszubootende und eine Approbation in Psychologie zu verlangen.

Auch in der Eingliederungshilfe werden systematisch Anbieter ausgetrocknet und unhaltbare Forderungen durchgedrückt. Die Kinder die deshalb aus ihrem Therapieplatz fallen drängen dann in das alternative System, nämlich der ärztlichen Versorgung.

Es ist eine Katastrophe. Seit in Deutschland neue EU Richtlinien einzuhalten sind werden unter dem Deckmantel der Qualitätssicherung Anbieter in die Aufgabe gedrängt.( seit jan 2021) und gewachsene Strukturen werden zerstört.
Und ich habe noch nie irgendwo darüber gelesen

Ja. Wenn wirklich ein Drittel der Menschen psychisch gestört sind, dann muss man sich fragen ob unsere gesamte Art zu leben gestört ist.

Aber, wenn man in oberer Quelle etwas tiefer gräbt, dann stößt man auf folgende Tabelle:

Die Autoren zählen Rauchen zu den psychischen Erkrankungen und das macht schon mal ein drittel aus. Aber, es bleiben immer noch 17.8 Millionen (!) Menschen, die an einer der folgenden Dinge leiden:

  • Affektive Störung (6.6 Millionen)
  • Angststörung (9.9 Millionen)
  • Zwangsstörung (2.3 Millionen)
  • PTBS (1.5 Millionen)
  • Somatoforme Störung (2.2 Millionen)
  • Essstörung (0.6 Millionen)

Lese ich das richtig? 10 Millionen Deutsche rennen rum und haben einfach nur Angst? Das irritiert mich doch sehr :confused:

Sorry, aber den Satz finde ich absolut nicht Ordnung. Eine Angststörung zu haben und dazu ev. Panickattacken hat mit einfach rumrennen und Angst haben nichts zu tun.

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Zunächst einmal zur Prozentwertdifferenz und weiteren Unschärfen:

Die Barmer-Statistik bezieht sich ja mutmaßlich auf eigene Versicherte, die dann vermutlich irgendwie hochgerechnet wurden. Da könnte wegen der Selektivität bzgl. der Menschen, die dort versichert sind, schon ein Bias drinstecken. Vielleicht bevorzugen gewisse Milieus die Barmer gegenüber der AOK oder der TK usw. Es ist schließlich nicht auszuschließen, dass die Epidemiologie mileuspezifisch variiert.

Nun bezieht sich die Statistik lt. Sekundärquelle auf tatsächlich durchgeführte Psychotherapien. Das ist nicht dasselbe, wie wenn jemand sagt, dass Menschen schon mal beim Psychotherapeuten waren. Denn ein Termin dort mündet nicht in jedem Fall in eine Therapie.

Die Barmer-Statistik bezieht sich ferner auf ein einzelnes Jahr. Philips Aussage bezieht sich aber auf alle Schüler:innen an einer bestimmten Schule, die „schon mal [bei Psychotherapeut:innen] oder in klinischer Behandlung“ waren. Bei einem Berliner Gymnasium umfasst das also mindestens die Jahrgänge sieben bis zwölf, bei einer Gemeinschaftsschule können es auch die Jahrgänge eins bis dreizehn sein, wobei ja nicht einmal gesagt wurde, dass die Schüler:innen während ihrer Zeit auf der jetzigen Schule psychotherapeutisch betreut wurden. Es kann sich also um die Altersspanne von sechs bis 18 handeln, in der die 30 % Kinder irgendwann mal bei einer psychotherapeutischen Fachkraft waren.

Für eine bestimmte Schule ist die soziale Selektion ja in der Regel noch viel ausgeprägter als fürs Klientel einer Krankenkasse. Es könnte ja z. B. so sein, dass etwa bildungsbeflissene Eltern bestimmter Milieus, die an einer konkreten Schule gehäuft vorkommen, ihre Kinder eher mal Psychotherapeut:innen anvertrauen. Da wird dann vielleicht auch mal die Höhen- oder Prüfungsangst des Kindes therapiert, was in anderen Milieus seltener vorkommen mag.

Dann muss man auch noch bedenken, dass Angebot auch zu Nachfrage führen kann. Die Psychotherapeut:innendichte je Einwohner:in ist in Berlin sehr wahrscheinlich deutlich höher als in Posemuckel. Demzufolge könnte die Inanspruchnahme von Psychotherapie dort auch einfach gängiger sein.

Diese paar Überlegungen zeigen schon, dass die beiden Prozentwerte in vielerlei Hinsicht nicht vergleichbar sind.

Und das ist noch jenseits der Tatsache, dass längst nicht alle Psychotherapien kassenärztlich abgerechnet werden.

Ein gewisser Teil der Zunahme könnte zudem auch in einem veränderten Elternverhalten begründet sein. So wie die Anzeigebereitschaft bei Straftaten längerfristig zugenommen hat, könnte der Gang zu Psychotherapeut:innen zunehmend enttabuisiert sein, was dann zu höheren Fallzahlen führt.

Die Verdopplung der Fallzahlen im Elfjahreszeitraum (2009-2019) lässt sich allein damit aber wohl kaum erklären.

Statt auf Spekulationen, woran das liegen könnte, sollte man besser auf profunde empirische Studien setzen. Um überhaupt nur Mutmaßungen anstellen zu können, müsste man erst einmal genaue Daten dazu haben, welche Diagnosen denn drastisch zugenommen haben. Korrelieren z. B. mobbingtypische Folgeprobleme mit der Entwicklung berichteter Mobbingfälle? Steht vielleicht die Zunahme bei der Social-Media-Nutzung in irgendeinem belegbaren Zusammenhang mit der Entwicklung von Depressionen/Angststörungen? Lassen sich andere mögliche Ursachen ausschließen oder haben sie womöglich eine geringere Effektstärke? Das muss man im Grunde ganz systematisch erheben und durchrechnen. Alles andere ist Kaffesatzleserei.

@Schorschie:

Die in den USA und Europa durchgeführten epidemiologischen Untersuchungen haben ergeben, dass in allgemein medizinischen Praxen etwa 15 bis 30 % der Patienten an psychischen Störungen leiden. Bei mindestens einem Drittel bis zur Hälfte dieser Patienten kann eine Angststörung diagnostiziert werden. Die zahlreich durchgeführten Untersuchungen haben ergeben, dass die Lebenszeitprävalenz von Angsterkrankungen in der Allgemeinbevölkerung bei etwa 15 % […] anzusetzen ist.

Phobien sind aber natürlich sehr vielfältig.

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Das ist mir nicht unmittelbar einleuchtend. Jedenfalls gibt es die Datenlage nicht unbedingt her. Hier der Anteil an Depressionen nach Alter und Gecshlecht für 2020 (allerdings nur für Erwachsene):

Ja aber es litten doch nicht 10 Millionen Deutsche (hochgerechnet von 4483 Probanden) im Jahr 2014 an Panikattacken, oder?
Da kann doch irgendwas nicht stimmen? Diesen Statistiken nach müssten ja jeder fünfte Mensch (Rauchen und Trinken ausgenommen) in unserem Bekanntenkreis betroffen sein.

Ich hätte gedacht, eine psychische Erkrankung ist so was wie Krebs,…
Wenn es so ist wie die Statistiken sagen, dann brauchen wir fast so viele Psychotherapeuten wir Zahnärzte.

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Ist das eine Statistik von Leuten die an Depressionen leiden oder von Menschen die in Behandlung sind wegen Depressionen? Da ist denke ich ein großer Unterschied in den Generationen.

Die Wahrscheinlichkeit in seinem Leben an Krebs zu erkranken liegt bei ~25%. Passt doch. [1]

Man könnte sich ja Fragen, ob man sich entweder in einem außergewöhnlich gesunden Umfeld bewegt, oder ob das Umfeld vielleicht nicht gerne über die eigene (psychische) Gesundheit spricht?

[1] Global, regional, and national lifetime probabilities of developing cancer in 2020 - PubMed

Nicht wirklich. Ein Mal im Leben verteilt ja die Erkrankungen auf ein paar Jahre und das deckt sich auch mit den absoluten Zahlen. 2023 waren 493.000 Menschen an Krebs erkrankt, also grob 0,5% der Bevölkerung.

Die oben verlinkte Tabelle spricht von 27% psychisch gestörten in den letzten 12 Monaten. Wobei die bereits, wie geschrieben auch schon Rauchen und Trinken zu den Störungen zählen. Lässt man Suchterkrankungen weg, bleiben immer nich grob 20% über.

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Es sind nicht aller mit Angststörungen von Panikattacken betroffen. Und wenn man bedenkt, dass Sozialphobie einen nicht unwesentlichen Anteil der Angststörungen ausmacht, dann ist es auch nicht so überraschend, wenn diese Leute in Bekanntenkreisen unterrepräsentiert sind.

Grundsätzlich führen eben psychische Probleme häufig zu sozialer Isolation und werden umgekehrt auch von sozialer Isolation verstärkt.

Ja, schon. Nach kurzer Recherche gibt es wohl etwa 72000 behandelnde Zahnärzt*innen in Deutschland und 55000 Psychotherapeut*innen (zusätzlich zu etwa 14500 Psychiater*innen). Und die Unterversorgung ist bei Psychotherapie deutlich höher.

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Bent Freiwald hat Mal zusammengetragen wie es um die psychische Gesundheit der Kinder und die Entwicklung in den letzten Jahren steht:

Ich gebe ein paar wesentlicher Punkte wieder:
Krankenkassenstudien sind für die Beurteilung ungeeignet. Dort werden nur die abgerechneten Fälle erfasst und nicht die tatsächlichen. Dazu kommt, dass viele Stellen an Limit arbeiten. Heißt die Anzahl an Behandlungsplätzen ist der begrenzende Faktor, nicht die Anzahl der Kranken.
Nein anderen Daten ist das vereinfachte Bild, das die Entwicklung die letzten zwei Jahrzehnte etwa stabil war, dann kann die Pandemie und jetzt erholt sich die Situation. Ob bis auf das Vorniveau oder nicht, kann man noch nicht sagen.

Dazu gibt es noch eine ganze Menge an weiteren Betrachtungen.