LdN 386 - Kriminalitätsentwicklung als Wahlthema

Hallo zusammen,

Ich bin seit Jahren Hörer des Podcasts und war bereits mehrfach Gast bei einer der zahlreichen Lage Live Events.

Ich begrüße den progressiven Ansatz in der Themeneinordnung und kann mich vielen der Positionen nahezu anpassungsfrei anschließen. In der aktuellen Folge 386 bin ich aber über einen Abschnitt gestolpert, der mich jetzt zum ersten mal zum schreiben eines Beitrags hier im Forum bringt.

Zu Beginn der Analyse der Ergebnisse der Europawahl gehen beide Hosts auf die von infratest durchgeführten Umfragen nach der Wahl ein. Dabei geht es auch um die stark zugenommene Angst der Wähler*innen vor steigender Kriminalität in Deutschland. Etwa 3/4 aller Wählenden gab eine Angst vor dieser als präsent an. Die Hosts behaupteten daraufhin, dass es keine faktische Grundlage für diese Sorge gäbe.

Allerdings fehlt hierbei komplett die Quellenabgabe. Die Bundeskriminalstatistik gibt tatsächlich eine stark steigende Kriminialitätsrate seit 2021 an.

Wie kommen die Hosts also zu einer solchen Annahme und selbst wenn meine Quellenlage hier irgendwie falsch sein sollte; Wie kann man einer solch subjektiven Gefühlslage in Zukunft am besten begegnen?

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Guten Tag liebes Lage-Forum,

beim Hören der aktuellen Lage-Folge tätigte Ulf die Aussage, dass Deutschland sicherer geworden sei. Nun würde ich gern wissen, ob das eine Meinungsäußerung ist, ob es auf die Kritik der Kriminalstatistik zurückzuführen ist oder es ein Fakt ist. Wenn letzteres der Fall ist, würde ich mich über eine Quellenangabe freuen, da ich es gern als Argument bei Diskussionen mit meiner „buckligen Verwandtschaft“ aus dem LK Görlitz (40% AFD) nutzen möchte. :wink:

MfG
Florian

Vermutlich wie immer im Zusammmhang mit der BKS der Hinweis: Die BKS weist per se keinen Anstieg der Kriminalitätsrate, sondern ein gestiegenes Anzeigenverhalten für Delikte aus. Das kann ja immer erst mal verschiedene Gründe haben: Frauen fühlen sich durch #metoo ermutigt Transgressionen anzuzeigen, oder bestimmte Gruppen könnten auch politisches Interesse daran haben, wirklich alles zur anzeige zu bringen: Polizeibeamte die Übergriffe gegen sie, Parteien die Angriffe auf ihre repräsentanten, migrationskritiker wahrgenomme Taten von Ausländern etc.
Also ob es tatsächlich mehr Kriminalität gibt, lässt sich aus der PKS schlecht herauslesen.

Ist ohnehin sekundär, weil ja nicht steigende Kriminalität, sondern die Wahrnehmung eines (vermeintlichen) Anstiegs das Problem ist.
Und da bin ich der Meinung, dass man das nicht durch Aufklärung oder so lösen kann, sondern nur dadurch, dass man andere themen nach vorne schiebt.
Hat ja nen grund, dass wir derzeit viel mebr über Migration als über klimaschutz reden. Klimaschutz ist ja nicht unwichtiger geworden und vorher war migration nicht weg. Aber rechte Parteien forcieren hier wie in den USA gerne die themen Migration und Kriminalität, weil sie da bei wählern in diesem feldern höher vermutete kompetenz besitzen. Ergo: Die Wahrnehmung von Kriminalität und migrationsproblematik hängt bei nicht direkt betroffenen eher daran, dass Parteien und Interessenagruppem das Thema medial forcieren. Das verändert man am besten, indem man andere themen in den öffentlichen diskurs schiebt.

Noergel

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Wir haben uns in der Lage auf den langfristigen Trend bezogen, wonach Deutschland immer sicherer wird. Das persönliche Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, ist ungleich geringer als noch 1990 oder gar 1970. Wenn du zB langfristiger Trend PKS googelst findest du dazu reichlich Treffer.

In der Tat gab es in der Statistik für 2023 allerdings einen Ausreißer, den wir vor einigen Wochen bereits mit dem Kriminologen Dr. Martin Thüne besprochen haben. Vermutlich führen ökonomische Sorgen infolge von Inflation dazu, dass es kurzfristig einen Peak gab - so jedenfalls die Interpretation des BKA-Präsidenten, der aber auch warnte, dass man es noch nicht genau wisse.

@Noergel ich teile die Einschätzung, dass man die absurd übersteigerte Bedeutung des Themas Kriminalität für die Wahlentscheidung vor allem dadurch kontern kann, dass man andere Themen in den Vordergrund rückt.

Und wenn man denn über Kriminalität redet, dann bitte kriminologisch sauber, also indem man nach den tatsächlichen Ursachen fragt: Armut, Arbeitslosigkeit, schlechte Bildung. Mal wieder spielen also Rassismus und Ressourcenmangel beim Staat und die Austeritätspolitik von Schäuble / Scholz / Lindner die zentrale Rolle.

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Hallo und zuerst einmal auch von mir ein großes Dankeschön an das gesamte Lage-Team für die schnelle Veröffentlichung der Folge zur Europawahl!

Auch ich habe beim Hören der Folge im Abschnitt zur Kriminalitätsentwicklung etwas gestutzt, denn ich fand den Punkt etwas schnell abgehakt. Die Polizeiliche Kriminalstatistik hat in der Tat große Mängel (die in früheren Lage-Folgen auch schon behandelt wurden), aber es ist halt ein Fakt, dass die Kriminalität in Deutschland nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch im Bezug auf die gestiegene Bevölkerungszahl in vielen Bereichen zugenommen hat. Und wenn Menschen sagen, dass ihre gefühlte Sicherheit abgenommen hat, dann finde ich, dass man diese Sorgen ernst nehmen muss anstatt sie mit einem „naja, das ist halt ein Gefühl, aber die Statistik sagt das Gegenteil“ abzutun.

Das Sicherheitsgefühl einer Bevölkerung speist sich nicht nur aus Straftaten, die jemand beobachtet oder selbst erfährt. Auch die Verwahrlosung des öffentlichen Raumes kann dazu beitragen. Und damit ist nicht nur Müll und Vandalismus gemeint, sondern auch der Abbau von Einrichtungen, die eine gewisse soziale Kontrolle ermöglicht haben: Der Stationsposten auf dem S-Bahnsteig, der eingespart wurde. Der Jugendclub, der dichtmachen musste, weil die Gelder gestrichen wurden. Der Verbauen, Privatisieren und Zusperren von Rückzugsorten für die, die nichts haben, während es gleichzeitig keine Angebote von staatlicher Seite gibt, diesen Menschen zu helfen.

Als Vater und Anwohner eines sogenannten sozialen Brennpunkts einer Großstadt kann ich bestätigen, dass sich mein Sicherheitsgefühl in den letzten Jahren nicht gerade verbessert hat: Gewaltdelikte unter Jugendlichen haben massiv zugenommen, und oft sind inzwischen Messer im Spiel. Crack ist eine absolute Katastrophe (in ganz Deutschland übrigens), über die meiner Meinung nach auch viel zu wenig gesprochen wird. Und der öffentliche Raum macht einen immer abgefuckteren Eindruck (siehe oben), wozu es übrigens tatsächlich Statistiken der Stadtreinigung gibt.

Ich wähle seit ich wählen darf, die Grünen, aber auf lokaler Ebene bringt mich diese Partei zunehmend zur Verzweiflung. Denn sie wischt diese gefühlte Unsicherheit, die von vielen Menschen hier geäußert wird, mit einem coolen Lächeln unter den Teppich. Vielleicht hat mich deshalb dieser nonchalante Duktus, mit dem das Thema „Gefühlte Sicherheit“ in der Lage-Folge abgehandelt wurde, etwas getriggert.

Die Politik muss verstehen, dass das bloße Gefühl einer Bedrohung ausschlaggebend für eine Wahlentscheidung sein kann – selbst wenn die Zahlen etwas anderes sagen mögen.

Liebe Grüße und einen schönen Abend euch.

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Herzlichen Dank für diesen Aspekt!

Das ist in der Tat ein Punkt, den wir noch hätten erwähnen sollen. In der Sache ist das für Menschen, die regelmäßig die Lage hören, sicher nichts Neues, denn wir weisen ja schon seit einiger Zeit auf die dramatischen Folgen hin, die es für das Vertrauen in die Demokratie hat, wenn die öffentliche Infrastruktur kaputtgespart wird. Aber ja, wenn gefühlt alles kaputt geht und die Straßen verlottern, dann hat das sicher auch Folgen für das Sicherheitsgefühl der Menschen.

Möglicherweise erklärt der Zusammenhang, den du andeutest, auch den interessanten Effekt, dass EU-Förderung für Infrastruktur den Stimmenanteil von Rechtspopulisten senkt, vgl LdN 384, IIRC.

Schließlich kann man das subjektive Gefühl von Sicherheit auch nicht nur im Kontext Kriminalität betrachten, denn wenn Menschen generell ängstlicher sind, vor allem auch was ihre wirtschaftliche Situation angeht, dann erstreckt sich diese Angst sicher auch schnell auf die Angst vor Kriminalität.

Kennt jemand zu diesen Thesen zufällig Studien?

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Ein schlechter Vergleich. 2021 war jetzt nicht das perfekte Jahr um auf offener Straße Leute zu bedrohen, in Häuser einzubrechen oder in der Eckkneipe einen Streit anzuzetteln.
Auch die Flüchtlingszahlen gingen stark zurück und damit auch die Zahl der unerlaubten Grenzübertritte.

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Es ist zwar eine persönliche These: vielleicht ist das auch ein Erbe von Corona. So wie damals die Zeit als Kontrollverlust wahrgenommen wurde, wird jetzt natürlich sehr sensible auf jede Nachricht über Betrug bis Mord reagiert. Leider kann sowas nur schwer überwunden werden, weil ja jeden Tag ein neuer „Kick“ dazu kommt.

Das ist mein erster Post, also möchte ich erstmal LdN für die sehr gute Arbeit danken. Ich kenne keinen Podcast mit höherer journalistischen Qualität.

Nun möchte ich aber noch einmal die besorgten 3/4 der Bevölkerung verteidigen:
Weil niemand wissen kann ob der Anstieg 2023 tatsächlich eine Anomalie ist, oder der erste sichtbare Marker eines Trends, ist es nicht irrational wenn man Angst vor einem weiteren Anstieg hat.
(Klimaleugner nutzen auch das Anomalieargument)

Es ist aber natürlich sehr schade, dass Fremdenhass hier für viele die erste Schlussfolgerung ist.

Und wenn man denn über Kriminalität redet, dann bitte kriminologisch sauber, also indem man nach den tatsächlichen Ursachen fragt: Armut, Arbeitslosigkeit, schlechte Bildung. Mal wieder spielen also Rassismus und Ressourcenmangel beim Staat und die Austeritätspolitik von Schäuble / Scholz / Lindner die zentrale Rolle.
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Aber da gehört doch auch zur Wahrheit, was meines Erachtens oft nicht berücksichtigt, dass gerade die Menschen kommen, die die klassischen Treiber für Kriminalität vorweisen: männlich, zwischen 16 und 26, arm, schlecht gebildet, schlechtes soziales Umfeld, schlechte Zukunftschancen. Und durch Vergrößerung dieser Gruppe, steigt bzw. wir dann mE die Kriminalität messbar steigen.

Deswegen sind auch Flüchtlinge nicht überrepräsentiert, wenn man die sozioökonomischen Umstände und das Alter berücksichtigt - anders übrigens bei Sexualdelikten.

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Nicht direkt dazu, aber die „subjektive Kriminalitätswahrnehmung“ scheint ein wissenschaftlich recht stark beackertes Feld zu sein. Common ground ist wohl die Annahme, dass diese Wahrnehmung von sehr vielen Faktoren beeinflusst wird, aber nur in geringem Maße vom tatsächlichen Kriminalitätsgeschehen. Hier nur ein paar eher zufällige Funde:

Studie aus Berlin: (Un-)Sicherheitsgefühle und subjektive Sicherheit im urbanen Raum

Anders hier: