LdN 368 - Braucht die EU eigene Atomwaffen?

Eines vorweg: eine sehr schöne Lage und ich freue mich, dass ihr auch solche schwierigen Themen zur Sprache bringt.

Aber Huiuiui, ihr krazt hier ganz schön nonchalant am Vertrag zur Nichtverbreitung von Atomwaffen („Atomwaffensperrvertrag“). Wenn Frankreich nicht seinen Status als Nuklearmacht quasi an die EU überträgt, kann ich mir nicht vorstellen wie der Vertrag weiter eingehalten werden soll. Ob eine solche Übertragung überhapt möglich ist und ob Frankreich mitmachen würde sind andere Fragen. Es sollte Grundsatz sein, dass nicht noch mehr Länder oder Organisationen Atomwaffen bekommen, weil damit die Gefahr eines absichtlichen oder unabsichtlichen Einsatzes derselben steigt.

Eine andere Frage wäre die Kontrolle. Es muss eine Person die Berechtigung haben einen Zweitschlag auszulösen, ansonsten wirkt die Abschreckung nicht. Soll heißen: Wenn festgestellt wird, dass sich Nuklearwaffen im Anflug auf die EU befinden muss der Befehl zum Zurückschlagen innerhalb von Minuten ergehen, ansonsten sind alle tot, die diesen Befehl geben könnten. Das ist ja das, was den Kalten Krieg so gefährlich gemacht hat, die Angst vor einem Enthauptungsschlag. Es muss also der Befehlshaber der theoretischen EU-Abschreckungsmacht den Code-Koffer haben und wer ist das dann? Von der Leyen? Charles Michel? Ein Gremium kann es auf alle Fälle nicht sein.

Die aktuelle Haltung der NATO ist eine der Ambiguität des Atomwaffeneinsatzes, es wird also nicht klar gesagt, welche Aggression mit Atomwaffen bekämpft werden würde. Es wäre also ein taktischer Einsatz gegen Angriffstruppen im Baltikum möglich. Ich halte die Schwelle jedoch für so hoch, dass eigentlich nur eine existenzielle Bedrohung nuklear beantwortet werden würde, für den Rest muss die konventionelle Abschreckung ausreichen. Zudem sehen die meisten Experten den taktischen Einsatz (also auf dem Schlachtfeld gegen Truppen) von Atomwaffen als wenig sinnvoll (es gibt bessere Mittel) mit hohem Eskalationspotential an. Wenn ich Dr. Sauer im letzten Politikteil-Podcast richtig verstanden habe, dann sind die Bomben der nuklearen Teilhabe vor allem als Antwort auf einen russischen Einsatz von taktischen Nuklearwaffen gedacht.

Übrigens: Gegen Interkontinentalraketen kann man sich kaum verteidigen, auch wenn die USA sehr viel Geld investieren, um das zu ermöglichen. Das führt am Schluss nur zu Aufrüstung. Letzten Endes gab es Stabilität im Kalten Krieg nur durch die eigene Verwundbarkeit: Ich werde keinen Großangriff ausführen, weil ich weiß, dass mein Gegner mein Land trotz allem in eine strahlende Wüste verwandeln kann.

Am Schluss bleibt mir zum Thema zu sagen: Ich denke eine strategische Kooperation mit Frankreich ist am zielführendsten. Frankreich muss nur irgendwie glaubhaft versichern, dass ein russischer nuklearangriff auf die EU einen französischen Nuklearangriff auf Russland zur Folge hat. Frankreich hat übrigens nukleare Marschflugkörper, die man taktisch einsetzen könnte (ist z.Zt. nur nicht Doktrin)

Das ist so nicht ganz richtig. Einzelne Interkontinentalrakteten könnte man vermutlich mit moderner Technik und unter den richtigen Umständen abfangen. Ich würde zum Beispiel davon ausgehen, dass die USA in der Lage wären einen nordkoreanischen oder iranischen Angriff mit ballistischen Raketen auf die USA, Europa oder Israel abzufangen. Hinweise darauf liefert zum Beispiel das erfolgreiche Abfangen einer ballistischen Mittelstreckenrakete durch Israel.

Insofern gibt es durchaus ein gutes Argument für den Aufbau eines Raketenabwehsystems: Man kann vielleicht keinen „Vernichtungsangriff“ einer großen Atommacht (Russland oder China) abwehren, aber das Risiko eines erfolgreichen Angriffs eines „Rogue State“ oder eines nichtstaatlichen Akteurs stark reduzieren.

Naja, selbst wenn ein Vergeltungsschlag ausgeblieben wäre, würden die Folgen des Erstschlags die Erde für Jahrzehnte in weiten Teilen unbewohnbar machen und zu einem Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation führen. Insofern gab es für einen nuklearen „Großangriff“ nie eine strategische Rechtfertigung.

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Du hast Recht, ich hatte das nur im Sinne des Argumentes verkürzt und zugespitzt. Ich wollte damit nur deutlich machen, dass (meines Wissens) durch die amerikanische Entwicklung von Missile-Defences die Sowjetunion ihre Zweitschlagsfähigkeit gefährdet sah und darum noch mehr Waffen gebaut und entwickelt hat, der klassische Rüstungswettlauf also. Eine ähnliche Situation gab es ja mit Russland und den Abwehrraketen in Polen.

Welcher Meinung bist du überhaupt in der grundsätzlichen Frage, ob die EU eine Atommacht werden sollte?

Wenn man so darüber nachdenkt, ist dieses ganze Nuklearzeug völlig absurd, aber nur weil etwas absurd ist, wird es noch lange nicht abgeschafft (siehe Autobahnen ohne Tempolimit) :grin:.

PS: Meine Infos habe ich größtenteils aus folgenden Quellen:

*Podcast und Blog Arms-Control-Wonk
*Podcast Sicherheitshalber
*Podcast Streitkräfte und Strategien
*Youtube-Kanal Perun

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Ich glaube ist es weder realistisch noch sinnvoll.

Es ist nicht realistisch, weil die EU kein Nationalstaat mit einer eigenen Außen- und Sicherheitspolitik, eigenen Streitkräften oder einem vereinigten Staatsgebiet ist. Flugzeuge, U-Boote und Raketen sind nicht das Problem, die für so ein Waffensystem notwendigen politischen und gesellschaftlichen Institutionen existieren nicht und werden das auch nicht in den nächsten Jahren.

Es ist nicht sinnvoll, weil ich persönlich eine nukleare Abschreckung gegen Russland für entbehrlich halte und eine Schwächung des Prinzips der Nonproliferation für die EU gefährlicher ist.

Aus europäischer Sicht bieten Atomwaffen keinerlei nutzbares Abschreckungspotenzial, das nicht auch durch konventionelle Streitkräfte in Kombination mit einer modernen Raketenabwehr erzeugt werden könnte.

Sollte sich Russland für einen überwältigenden Atomaren Erstschlag entscheiden, ist sowieso alles egal. Hunderte von Wasserstoffbomben werden den gesamten Kontinent, einschließlich Russland, unbewohnbar machen. Einen solchen Angriff kann nur ein komplett geisteskranker Mensch befehlen und der wird sich auch nicht von einer europäischen Kapazität für einen atomaren Vergeltungsschlag abhalten lassen.

Gegen eine „taktischen“ Einsatz von Atomwaffen durch Russland hilft in erster Linie der Aufbau der nötigen konventionellen Streitkräfte, damit ein militärischer Erfolg (dem der Atomwaffeneinsatz dienen würde) völlig unwahrscheinlich ist. Schon heute ist die russische Armee den europäischen Streitkräften weit unterlegen. Der einzige Grund, warum die polnischen Streitkräfte St. Petersburg nicht einnehmen könnten, ist weil die Finnen vor ihnen da wären. Allein diese beiden Länder könnten im Kriegsfall bis zu 2,2 Millionen Soldaten mobilisieren, während die Russen sich heute an einer etwa halb so großen und technologisch deutlich schlechter ausgestatteten ukrainischen Armee die Zähne ausbeißen.

Schließt das Provokationen Russlands gegen EU-Staaten aus? Nein, aber Russland provoziert auch regelmäßig amerikanische Streitkräfte und die haben Atomwaffen.

Erheblich gefährlicher als ein feindlicher atomar bewaffneter Staat an den Außengrenzen (Russland) sind für die EU viele Atomwaffenmächte in der direkten Nachbarschaft. Wenn sich die EU atomar bewaffnet, schwächt das den Grundsatz der Nonproliferation. Staaten wie Ägypten, der Iran, Marokko oder auch Länder auf dem Balkan könnten motiviert werden, den Schritt zur Bombe zu gehen. Das irgendwann irgendwo irgendein Irrer die Bombe dann auch einsetzt, trotz der Gefahr eine nuklearen Vergeltung würde dadurch immer wahrscheinlicher.

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Exakt - gerade aus diesem Grund ist mir nicht klar, warum es ein realistisches Ziel sein sollte, dass die EU ihre eigenen Atomwaffen aufbaut, wie in der Lage angedeutet. Das Geld sehe ich da als zweitrangiges Problem. Das viel größere Problem ist doch tatsächlich die Kontrolle. Es ist völlig unrealistisch, dass die EU einer Person(engruppe) eine solche Macht überträgt. Und tut sie es nicht, dann ist die Abschreckungswirkung kaum gegeben.

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Das ist auch der Punkt der mir auch beim Hören der Lage-Folge unklar geblieben ist. Das Thema wurde auch im Politikteil mit Bundeswehrexperte Frank Sauer diskutiert, der das Szenario europäische Atomwaffen auch aus diesem Grund nicht besonders realistisch einschätzt. Vielleicht verstehe ich auch die Aussage im Podcast falsch - dann wäre ggf. nochmal zu spezifizieren, wie genau man sich die gemeinsamen europäischen Atomwaffen vorstellt und vor allem wer die Kontrolle darüber hätte.

Nun ja, würde ein kleines Arsenal europäischer Atombomben die Sicherheitslage wirklich signifikant verbessern?

Bzw wäre das für Putin tatsächlich ein Grund auf jegliche Aggression und Expansion zu verzichten?
Er kann ja immer unter der Schwelle eines Atomkrieges agieren. Drohen reicht ja meist aus.