LdN 350 - Bürgergeld und Arbeitsanreize aus der Perspektive von Betroffenen beleuchten

Hallo Philip, hallo Ulf,

vielen Dank für diese aufschlussreiche Folge und auch die Auseinandersetzung mit dem Bürger*innengeld sowie die Debatte um Arbeitsanreize.

Dass ihr Kerstin Bruckmeier vom IAB als Expertin dazu eingeladen habt, finde ich in erster Linie gut, allerdings fehlte mir die Perspektive von Betroffenen. Damit meine ich nicht, dass ihr euch eine Person hättet raussuchen sollen, der oder die Bürger*innengeld bekommt. Vielmehr meine ich damit Menschen wie Helena Steinhaus vom Verein Sanktionsfrei e.V.

In ihrem kürzlich erschienenen Buch „Es braucht nicht viel“ setzt sie sich gemeinsam mit Claudia Cornelsen in der Tiefe mit den Mythen und Fragen rund um das Bürgerinnengeld, die Arbeitsanreize durch Sanktionen, Regelsätze oder die Debatte um den Niedriglohnsektor vs. Bürgerinnenhartz auseinander. Unter anderem wird auch Arbeit des IAB kritisch beleuchtet. Es geht zum Beispiel darum, dass das IAB in ihrem Forschungsbericht vom 24. Oktober 2022 Befunde vergangener Studien mit Fokus auf Sanktionswirkungen und Sanktionswahrscheinlichkeit sammelten, jedoch die von Sanktionsfrei initiierte, zivilgesellschaftlich organisierte und finanzierte HartzPlus Studie nicht einmal erwähnten - obwohl sie enorme Medienresonanz fand.

Ich fand es gut und wichtig in einer zukünftigen Folge eure Plattform auch zivilgesellschaftlich organisierten Initiativen und Sozialaktivist*innen anzubieten.

Hier der Link zu Sanktionsfrei: Sanktionsfrei | Über uns
Hier der Link zu der wissenschaftlichen Langzeitstudie: Sanktionsfrei | Studie
Hier der Link zum Buch: Es braucht nicht viel - Helena Steinhaus, Claudia Cornelsen | S. Fischer Verlage

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das kann ich nur unterschreiben
Das Interview war für mich ein sehr erhellender Einblick auf das Selbstbild der Agentur für Arbeit / Jobcenter und wie diese ihre Arbeit wahrnimmt.
Ich Arbeite seit vielen Jahren mit wohnungslosen zusammen. Prozentual sicherlich ein sehr kleiner verschwindend geringer Teil derer, die insgesamt Bürgergeld beziehen. Unter meinen Klienten, gibt es allerdings recht viele die gern arbeiten würden. Und wie die Dame richtig sagt, je länger jmd. ohne Job ist, desto schwerer wird es reinzukommen. Nun wurden diesen Personen durch die Kürzungen viele sehr wichtige Bausteine der Wiedereingliederung gestrichen (16i Maßnahmen). Viele Personen die nicht direkt Chancen auf den ersten Arbeitsmarkt haben, bekamen hierdurch die Möglichkeit sich über Monate hinweg aus dem eigenen persönlichen Sumpf (oft verbunden mit schweren Psychischen Begleiterscheinungen) herauszuarbeiten und wieder mit beiden Beinen fest im Leben zu stehen.

Erschwerend kommt auch die Arbeitsweise der Ämter hinzu. Ich begleite derzeit einen Fall, dem seit über 6 Monaten keine Leistungen bewilligt wurden, weil er über Kleinstbeträge die auf seinem Konto nach der Antragstellung eingingen keine Angaben machte - rechtlich soweit okay. Nur würden die Kleinstbeträge (Zuwendungen von Freunden, damit er sich Lebensmittel kaufen kann) nicht benötigt werden, würde er mal Bürgergeld bekommen.
Und nun kommen statt einer Vorläufigen Bewilligung von Leistungen permanent neue „Aufforderungen zur Mitwirkung“ die nicht kommen würden, hätte Ihm einfach mal das Ihm zustehende Bürgergeld bewilligt.
Auch mit Anrufen, einschalten von Obundsstellen war da nichts zu machen, so das wir mal wieder Rechtsanwälte aktivieren müssen, Eilanträge stellen, etc.

Diese Arbeitsweise der Jobcenter, steht m.e. nicht auf Seiten der prekär lebenden Bürger und deren Not. Sie verbrennt damit eine Menge Steuergeld. Es beschäftigt viele an Sozialarbeitende, Rechtspfleger und -anwälte, zudem Sozialgerichte, sowie Rechtsstellen der Jobcenter.

Meine Frage an der Stelle wäre folgende: würde sich nicht beim Prüfen der Anspruchsvoraussetzungen eher eine weniger strenge Prüfung Volkswirtschaftlich Rechnen?

Eine Person, die hier sehr Aktiv ist, wäre Harald Thomé vom Tacheles e.V. - dieser Verein verfasste bei der Streichung der 100% Sanktionen Stellungnahmen für das BVerfG.

Weitere Stellen wäre

  • AG Tu Was (der Frankfurt UAS - Fachbereich Soziale Arbeit)
  • Die Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen
  • Wohnungslosenstiftung

Ein Deep Dive in diesen Sumpf würde sich sehr lohnen. Denn nach meiner Erfahrung führt dieses System dazu Menschen in ihrer Armut zu belassen und dort mit „Mitwirkungspflichten“ zu gängeln. Von Reform und Bürgernähe auch nach einem jähr keine Spur, Statt dessen geplante Wiedereinführung der Rechtswidrigen 100% Sanktion die Nachweislich zu nichts führt und anstatt zu Sparen an anderer Stelle viele Steuergelder verbrennt - soweit meine persönliche These.

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Differenzierte Einordnung der geplanten zweimonatigen 100% Sanktionen durch Interview mit Andrea Kießling, Professorin für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht sowie Migrationsrecht an der Goethe Universität in Frankfurt am Main:
Podcast Grundgesetzlich von der Gesellschaft für Freiheitsrechte

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In der letzten Ausgabe der „Zeit“ ( Ausgabe 5/24 ) erschien ein sehr guter, ganzseitiger Artikel mit dem Titel „Was machen die eigentlich?“. In diesem wird aufgezeigt, wie es sich mit dem Thema Bürgergeld verhält. Denn es gibt wohl kein Thema, welches im Moment teils so faktenfrei diskutiert wird. Dafür sind die Emotionen umso größer.
Bei all diesen Diskussionen und Forderungen fällt auf, dass offensichtlich die allerwenigsten der Diskutanten tatsächlich einmal in dem System der Arbeitsvermittlung gesteckt haben. Sonst wäre ihnen vielleicht einmal aufgefallen, dass der Spruch „wir müssen wieder mehr fordern als fördern“ geradezu die Tatsachen verdreht. Denn tatsächlich ist es zumeist eher umgekehrt.
Die Gründe sind vielschichtig. Wer mit Menschen spricht, die auf Jobsuche sind, muss feststellen, dass sie einem System der Existenzangst und der Repression auf der einen Seite, und der Hilflosigkeit, der schlechten Ausbildung und der mangelnden finanziellen Ausstattung der Ämter auf der anderen Seite ausgesetzt sind.
Mitunter stellt sich tatsächlich die Frage, ob die Politik als Rahmengeber für die Arbeitsmarktpolitik tatsächlich gewillt ist, Arbeitslosigkeit ernsthaft zu bekämpfen. Denn das würde voraussetzen, dass sie Arbeitsämter und deren Angestellte vernünftig ausbildet, genug Mitarbeiter einstellt und ein vernünftiges System anwendet, um Menschen in Arbeit zu bringen. Dazu müssten Arbeitssuchende bei Bedarf entweder ausgebildet, weitergebildet oder umgeschult werden. Und man müsste schauen, ob die Menschen dazu dann auch wirklich in der Lage sind. Jemanden nur schnell aus der Statistik herauszubekommen ist sinnfrei.
Forderungen, dass man die Menschen nur so schnell wie möglich in irgendeine Arbeit bringen muss, klingen vielleicht am Stammtisch oder in einer Talkshow gut, so helfen aber weder den Betroffenen noch den Arbeitsgebern.
Man möchte jeden Politiker den Artikel aus der „Zeit“ auswendig lernen lassen und anschließend müssten sie einmal über längere Zeit zwangsweise Menschen begleiten, die Arbeit suchen.
Abschließend noch eine Bitte. Wenn über das Bürgergeld und dessen Höhe gesprochen wird, dann möge man doch bedenken, dass es nicht nur um Arbeitssuchende geht, die tatsächlich arbeiten könnten. Bürgergeld bekommen Menschen, die aufstocken, also arbeiten. Bürgergeld bekommen Menschen, die krank sind. Bürgergeld bekommen Menschen, die Angehörige pflegen, Menschen, die keine Betreuung für ihre Kinder finden etc etc. Und was für die Höhe des Bürgergeldes gilt, gilt immer auch für die Grundsicherung, die Grundsicherung im Alter ( gilt für viele Rentner zb ), Leute, die Erwerbsminderungsrente + Grundsicherung bekommen und die Sozialhilfe. All diese Menschen werden in diese unsäglichen Diskussionen mit einbezogen, obwohl sie eigentlich nicht Adressat sind für die Forderungen. Aber es betrifft sie ebenfalls. Finanziell wie auch moralisch, denn sie werden oft mit verunglimpft.

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