LdN 327 Grundmandatsklausel für Generationen

Liebes Lage-Team,
Liebe Community,

über die Streichung der Grundmandatsklausel wird bereits fleißig diskutiert. Dieser Thread soll daher keine weitere Diskussion über die Rechtmäßigkeit oder Sinnhaftigkeit der Abschaffung sein.

Beim Hören der Lage kam mir jedoch ein Gedanke in den Kopf, den ich hier gerne einmal zur Diskussion stellen möchte: Grundmandate für Generationen.

Der Bundestag soll unsere Gesellschaft repräsentieren. Die Grundmandatsklausel ermöglichte es bisher, dass auch Parteien Einzug in den Bundestag erhalten können, denen regional eine besondere Bedeutung zukommt. Ich persönlich halte dies auch für sinnvoll – nicht mit Blick auf Bayern, sondern mit Blick auf die ehemaligen Ost-Bundesländer. Ich bin als „Wessi“ 2012 nach Dresden gezogen und habe dort das Aufkeimen von Pegida hautnah miterlebt. Wenn nun eine Partei, die überdurchschnittlich viele Stimmen in den Neuen Bundesländern erhält, durch einen „Trick der Großen“ aus dem Bundestag fliegt, nagt das massiv am Vertrauen in unsere Demokratie. Die Grundmandate haben in meinen Augen daher durchaus ihre Daseinsberechtigung (in welchem Umfang ist eine andere Frage).

Gleichzeitig stört mich, dass es bei den Grundmandaten einzig auf regionale Belange ankam. Seit Jahren lässt sich beobachten, dass die Belange der jüngeren Generationen hinten runterfallen, da Parteien mit deren Stimmen keine Wahlen gewinnen können. In meinen Augen wäre es unmöglich, mit einer Partei in den Bundestag einzuziehen, die sich z. B. primär für die Belange von Menschen unter 35 Jahren einsetzt. Gleichzeitig ermöglichte die Grundmandatsklausel es jedoch bisher, dass eine Partei, die sich bspw. ausschließlich für die Belange des Saarlands einsetzt, in den Bundestag hätte einziehen können.

Vielleicht wäre es an der Zeit, das Wahlrecht mal ganz grundsätzlich zu reformieren. Warum ausschließlich die geografische Organisation in Form von Wahlkreisen, wo doch die Gesellschaft seit Einführung unseres Wahlrechts viel mobiler und vernetzter geworden ist und Regionalität schon lange an Bedeutung verliert? Ist nicht insbesondere die Generationengerechtigkeit ein brennender Konflikt unserer Gesellschaft, wenn wir an Rente, Chancengleichheit, Infrastruktur und Klimaschutz denke?

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Gute Idee.
Die junge Generation wird aktuell massiv benachteiligt

Der Grund, weshalb im Schnitt seltener „jüngere“ in den Bundestag einziehen, liegt an ihrer relativ seltenen Aufstellung als Kandidaten und ihrer schlechten Platzierung auf den Landeslisten.

Hat aber auch Gründe, eine Kandidatur fliegt einem selten einfach zu. Häufig ist ein jahrelanges ehrenamtliches Engagement nötig, um am jeweiligen Unterbezirksparteitag gewählt und damit aufgestellt zu werden.

Wen man nicht kennt, der wird von den Delegierten nicht gewählt. Ehrenamtlicher Einsatz über die Jahre hinweg, für die jeweilige Partei wird wertgeschätzt und das - wie in jedem anderen Verein auch - mit Recht.

Insofern kann ich den Ansatz gut verstehen und würde mir eigentlich auch mehr Abgeordnete unter 35 wünschen. Dies hat aber eher selten etwas mit Altersdiskriminierung als häufiger mit den von mir beschriebenen Punkten zu tun.

Aus meiner Sicht verwendest Du den Begriff der Grundmandate / Grundmandatsklausel hier falsch. Diese bedeutete bislang ja, dass man 3 direkt gewählte Kandidaten der „U35-Partei“ benötigte.

Was Du aber doch meinst ist, dass eine bestimmte Anzahl an Volksvertretern speziell für einzelne Altersgruppen gewählt werden, um gezielt deren Interessen zu vertreten.

Warum? Laut Statistischem Bundesamt war in 2021 der Anteil der Bevölkerung zwischen 18-40 Jahre 26,2%. Davon hätte also nur jeder 5. die U35-Partei wählen müssen, dann wäre sie schon über die Zweitstimmen in den Bundestag gekommen. Finde ich nicht unrealistisch.

Sicherlich wäre es hilfreich, wenn es so eine Partei gäbe und diese nicht wenige Stimmen bekommt. Dann hätten die etablierten Parteien sicherlich alsbald auch mehr Interesse an jüngeren Wählern.

Aber warum reicht es dafür nicht aus, dass (junge) Menschen sich in einer solchen Partei zusammenschließen und auf Jagd nach Wählerstimmen gehen. Warum soll Deiner Meinung nach eine rechtliche Bevorzugung für einzelne Altersgruppen / Generationen gemacht werden, wenn diese sich doch einfach nur der demokratischen Mittel bedienen und selber aktiv werden müssten. Bei Wikipedia gibt es eine kleine Übersicht zu „Seniorenparteien:slight_smile: Aber auch zu Jugendparteien :slight_smile: Die Partei „Future!“ hat es z.B. 2019 mit 2 Sitzen in den Madgeburger Stadtrat geschafft. Die Demokratie hat schon ausreichend Mittel, sie müssen nur genutzt werden.

Es ist tatsächlich auch eine der Aufgaben einer Partei, genau das zu tun - Personal für politische Ämter auszuwählen und auszubilden. Es funktioniert halt in der Praxis nicht immer so gut wie es sich in der Theorie anhört, aber dennoch ist das ein wichtiger Aspekt einer „Parteiendemokratie“: Die Wahrscheinlichkeit ist geringer (aber nicht ausgeschlossen), dass ein Populist kurzfristige Stimmungen ausnutzen und sich an die Macht manipulieren kann.

Deine Idee wäre also z.B., dass statt der jetzigen ausschließlich geographisch definierten Wahlkreise auch Kohorten-Wahlkreis existieren sollten (oder sogar nur solche). Ein Beispiel wäre demnach, dass anhand statistischer Daten ermittelt wird, wie groß der Bevölkerungsanteil der einzelnen Alterskohorten ist und dann Wahlkreise - ähnlich wie Briefwahlkreise - erstellt würden.

Beispiel:
Alterskohorte 18-25 entspricht 3% der Bevölkerung, er wird in 2 Wahlkreise aufgeteilt (z.B. Nachnamen A-K; Nachnamen L-Z)
Alterskohorte 60-67 entspricht 6% der Bevölkerung, er wird in 3 Wahlkreise aufgeteilt (z.B. Nachnamen A-F; Nachnamen G-N; Nachnamen O-Z)

Auf diese Weise soll demnach sichergestellt werden, dass auch die 18-25-jährigen einen eigenen Kandidaten im Bundestag hätten.

Problem dabei ist, dass das Kriterium „Alter“ natürlich nur eines von vielen Kriterien ist und nicht ersichtlich ist, warum gerade dieses Kriterium eine Sonderbehandlung bekommen sollte. Warum nicht auch Wahlkreise nach Geschlecht. Oder Gehaltsgruppe, oder Beschäftigtengruppe (Beamte, Angestellte, Arbeiter, Arbeitslose), sexueller Orientierung?

Das sind alles Gruppen, deren Interessen aktuell - mal mehr, mal weniger - beachtet werden. Also ich hätte gerne ein paar Vertreter von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern im Bundestag, das würde auch viele neue Perspektiven einbringen.

Grundsätzlich ist jeder Abgeordnete nach unserem Grundgesetz Vertreter der gesamten Bevölkerung - daher: Wir haben zwar eine repräsentative Demokratie (dh. die Abgeordneten repräsentieren das Volk), aber keine strikt repräsentative Demokratie (dh. das Ziel, dass der Bundestag ein möglichst exaktes Abbild der Gesellschaft darstellt).

Eine zu strikt repräsentative Demokratie wäre letztlich eine sehr unflexible Demokratie - es würde kaum eine Wahl geben, da die Interessengruppen, die einen Sitz im Parlament bekommen, bereits vor der Wahl feststehen würden. Abgesehen davon würde es zu ganz neuen Formen von Gerrymandering kommen, da die Walhkreiszuordnungen weitestgehend von Statistiken abhängen würden, die zumindest beeinflusst werden könnten.

Tatsächlich ist selbst das aktuelle, geographisch definierte Wahlkreissystem, schon ein Fremdkörper in unserem System der Gesamtrepräsentation. Der ist halt historisch gewachsen und wird deshalb akzeptiert. Ich denke nicht, dass wir diese Logik wirklich noch in andere Richtungen entwickeln sollten.

Wahlkreise sind in einem Staat der weiterhin primär dem Papier vertraut notwendig zur Organisation der Wahl an sich. Wenn es eine Organisation der Wahl nach Merkmalen (z.B. dem Alter) gäbe, dann fände ich das höchst problematisch. Das Ziel kann ja keine „gesteuerte“ Wahl nach Interessen sein. Wer sich nicht repräsentiert fühlt, muss halt überlegen, ob es nicht auch eine Partei mit größerer Schnittmenge gibt. Und wenn diese Partei dann keine ausreichenden Stimmen für den Einzug in den Bundestag hat, dann interessiert das Thema schlicht nicht genug Menschen. Der Einzug in den Bundestag sollte mit einem guten Programm auch möglich sein. Bei 61 Millionen Wahlberechtigten und einer Wahlbeteiligung von ca. 76% (2021) liegt die 5 % Hürde bei ca. 2,5 Millionen Stimmen. Das ist nicht unüberwindbar.

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Bei Argumentationen wie dieser muss man allerdings höllisch aufpassen, nicht irgendwann in der befürchteten „Diktatur der Mehrheit“ zu landen. Es ist schon ein ziemlich großes Problem in der Demokratie, wenn die Interessen von Nischen-Interessengruppen nahezu keine Repräsentation haben. Ein Resultat ist z.B. dass im Rahmen der Sportförderung sämtliches Geld in den populären Sportarten landet, während Nischensportarten völlig leer ausgehen und für viele unbezahlbar werden. Dadurch kostet der Fußballverein dann oft nur 6-7 Euro im Monat, obwohl er einen teuren Sportplatz unterhält, während der Judoverein, der nur in einer Turnhalle trainiert, 25 Euro im Monat kostet. Solche Resultate kann man natürlich damit rechtfertigen, dass es viel mehr Fußball- als Judo-Praktizierende gibt, aber fair ist das nicht, gerade für Geringverdiener.

Minderheitenschutz und auch eine faire Behandlung von Nischen-Interessen ist der Kern einer funktionierenden Demokratie, in dem Moment, in dem eine Partei regiert, die ihre Interessen knallhart gegen alle anderen Interessen durchsetzt, ist eine Demokratie verwundbar. Deshalb sind Parteien wie die AfD oder Zustände wie in den USA unter Trump auch so gefährlich, weil die AfD oder die Trump-Republikaner eben gezielt nicht das ganze Volk vertreten, sondern die Demokratie als Waffe einsetzen wollen, um ihre Gegner (idealerweise dauerhaft) von der Macht fernzuhalten.

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Einer meiner Lehrer hat in den 90ern folgende These zur Diskussion gestellt (ist also ein alter Hut):

Wie wäre es eigentlich, wenn man die Stimmen der Minderjährigen den Müttern zuordnet?

Jede Mutter hätte somit bei jeder Wahl ihre eigen Stimmzettel plus die Stimmzettel ihrer minderjährigen Kinder.

Könnten wir unser Grundgesetz dahingehend ändern, dass so etwas möglich wäre? Würde die UNO so eine Änderung tolerieren?

Die Diskussion hatten wir schon viele Male hier im Forum, zuletzt in diesem Thread ab Beitrag 11:

Eine Stellvertreterwahl (dh. Eltern wählen für ihre minderjährigen Kinder) würde meiner Meinung nach gegen die Grundsätze der Gleichheit und Allgemeinheit der Wahl verstoßen, wäre jedenfalls ohne Verfassungsänderung definitiv gar nicht möglich (siehe Art. 38 Abs. 2 S. 1 GG: „Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat“). Und selbst wenn eine Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Verfassungsänderung bestehen würde, wäre es aber durchaus umstritten, ob das überhaupt möglich ist, weil die Kernelemente der demokratischen Wahl (allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim) unter die Ewigkeitsgarantie fallen (als Aspekt der Demokratie nach Art. 20 Abs. 1 GG, der unter die Ewigkeitsgarantie fällt) und das Famlienwahlrecht als Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit (weil Eltern mehr Stimmen haben) und Allgemeinheit gesehen wird, während die Gegenseite sagt, dass Gleichheit und Allgemeinheit dadurch gerade erst erreicht würde (diese exakte Diskussion hatten wir dann auch in besagtem Thread). Daher: Es ist sehr umstritten, ob es verfassungsrechtlich möglich wäre oder ob eine diesbezügliche Änderung vom BVerfG zu „verfassungswidrigem Verfassungsrecht“ erklärt würde…

Wenn wir nun realpolitisch argumentieren ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat für die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre schon extrem schwer zu erreichen, weil vor allem die Union strikt dagegen ist. Eine Mehrheit für ein Familienwahlrecht sehe ich auf absehbare Zeit als nahezu ausgeschlossen an, weil dafür selbst innerhalb der Parteien, die der Idee eher zugeneigt sind, keine Mehrheiten bestehen.

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