LdN 301 Weitere Erkenntnisse über stockende Digitalisierung + mögliche Ansätze

Weitere Gründe

Hier noch weitere Gründe für die stockende Digitalisierung, die mir gerade einfallen:

  • fehlende akute Notwendigkeit: z.B. liegt Fokus liegt darauf harte Deadlines zu erfüllen, sodass Ressourcen für „experimentelle“ Umstellungen fehlen. Wenn ein neues Gesetz verabschiedet wird, ist es die oberste Priorität die Software dafür fertig zu stellen, anstatt alte Fachverfahren zu optimieren.
  • logistische Umständlichkeiten: Es wird auch so lang an alten Technologien festgehalten, weil dann weniger Leute eingestellt werden müssen, bzw. der:die einzelne, welche:r die Systeme pflegt mit weniger Technologiediversität zu kämpfen hat.
  • Kompetenz-Gap zu groß: Die Software Entwicklung wird immer weniger selbst in die Hand genommen, sondern immer mehr eingekauft. Die Externen, an die ausgelagert wird, handeln aber nach ihrem kapitalistischen Interesse.
  • Leute, die können, dürfen nicht.
    • Die Kompetenz (technisch) nachhaltige Entscheidungen zu treffen liegt nicht unbedingt bei denen, die die Entscheidung über das Ob, Was und Wie treffen. "Wir sind ja nur Dienstleistende und machen, das der:die Kund:in will. Auch wenn es nicht im Sinne des:der User:in ist - es ist vertraglich so geregelt und wir müssen uns daran halten.
    • Es heißt immer „Fachkräftemangel“, bzw. es fehle Kompetenzen in den Behörden/Verwaltungen, doch gleichzeitig sind die Bewerbungsprozesse teils so gestaltet, dass die Menschen mit den benötigten Kompetenzen benachteiligt werden. Es wird viel zu sehr auf Hard Facts geachtet, als auf tatsächliche Kompetenz - vergleichbar suboptimalwie beim Schulnotensystem.
    • Bei den Wettbewerben in den öffentlichen Ausschreibungen zu sehr auf die Marke geschaut. Namenhafte Dienstleistende mit namenhaften Kund:innen (Nesté, Coca Cola, BMW & co.) und hohen Zahlen und „mehr Berufserfahrung“ gewinnen halt eher als jene, die viel eher im Sinne der Gemeinwohls Software entwickeln würden.
  • Leute die könnten, wollen nicht.
    • Der Großteil jener, die im öffentlichen Dienst arbeiten, sind aufgrund des sicheren Arbeitsplatztes dort. Und damit sind das tendentiell eher Menschen die nicht anecken oder Veränderung wollen, weil dann würden sich ja ggf. unbeliebt machen und ihren Job riskieren.
    • Aktuell herrschen klare Hierarchien, und klare Verantwortungsdefinitionen. „Ich bin hier nur für XV zuständig. Das müssen die daneben/ die daoben entscheiden. Das liegt nicht in meiner Macht.“ (was gar nicht unbedingt stimmt) Dabei müssen wir diese gesellschaftlichen Probleme ganzheitlich und intersektional angehen. Dafür sind die organisatorischen Strukturen aber nicht gemacht.
  • Netzwerkeffekte: „Alle benutzen Microsoft Word, dann bringt es nichts oder gar Nachteile, wenn wir das umstellen“
  • Angst vor weiteren Medienbrüchen: Um bspw. vorausschauend andere Technologien zu nutzen, die beispielsweise offene anstatt proprietäre Formate nutzen, wozu man später leichter Schnittstellen programmieren könnte, müsste man ja vorübergehend nochmal neue Techlogien einführen. Da hält sich die Motivation schon in Grenzen, weils bereits für jeden Aufgabe gefühlt ein eigenes Tool genutzt wird (Fachverfahren).

Mögliche Ansätze

Die sind nicht priorisiert, aber um diese ggf. besser referenzieren, mache ich eine geordnete Liste draus:

  1. Disintermediation: Behörde beauftragt Behörde beauftragt Dienstleister beauftragt Subunternehmen um eine Software zu entwickeln. Bei den ganzen Regularien kann man sich in etwa vorstellen wie viel Mehraufwand in Kommunikation / Controlling gesteckt werden muss, was nicht direkt in die Lösung des eigentlichen Nutzungsproblems geht. Da kommen schnell Millionenbeträge zusammen, die mehr in das Projektmanagement fließen, als in die Entwicklung selbst. Nach 7 Jahren kommt dann ein MVP raus, den man rein von der technischen Implementierung, überspitzt gesagt, auch fast in einem mehrtätigen Hackathon hätte programmieren können.
  2. Ein gutes, kollaboratives Tabellenkalkulationsprogramm + Ticketing Programm vereinfacht gesagt bereits viiiele der Fälle abdecken. Fast alle Fachverfahren lassen sich mehr oder weniger darauf abbilden / haben die gleichen Basisfunktionen. Also würden vielleicht ein paar reiche Erben einmal in bestehende FOSS wie bspw. NextCloud Hub und ein paar NextCloud Apps investieren, um ein paar doch spezifische Anforderungen zu implementieren, um gesetzeskonform zu sein wäre schon viel gelöst.
  3. Aufbau- und Ablauforganisationen anfassen die Anwendungen sind oftmals kompliziert gebaut und haben eine schlechte UX, weil die Organisation dahinter das erfordert. Das ist aber ein Fass, das freiwillig auf keinen Fall geöffnet würde, sondern sicherlich nur, wenn es es Gesetz dazu gibt, weil es zum einen Machtpositionen dementieren würde, zum anderen Menschen abverlangen würde ganz neue Kompetezen aufzubauen. Agiles Arbeiten funktioniert nämlich besonders gut, wenn man möglichst selbstorganisiert arbeitet und auch selbst Verantwortung übernimmt. Das sind die meisten Angestellten jedoch nicht gewohnt und würde sie womöglich überfordern.
  4. Nudging: Bei jeder Gelegenheit Menschen, die im System stecken, von Alternativen erzählen und sensibilisieren. Das ist ein alltagtauglicher, vorbereitender Weg für den benötigten Kulturwandel. Einfach mal ein paar ShortCuts und LifeHacks streuen, das fördert im Idealfall die intrinsische Motivation was zu ändern, dadurch, dass man durch out-of-the-box Denken und Handeln wirksamer ist.
  5. Mehr das Wie Adressieren: Im öffentlichen Diskurs wird fast ausschließlich über das „Was“ diskutiert und optimiert, dabei ist der eigentliche Flaschenhals das „Wie“. Wie werden Entscheidungen getroffen? Wie wird ein Konsens geschaffen? Wie wird ein Beschluss / Gesetz umgesetzt?

Zur Einordnung, mein Background: Ich war mit einem Interaktions-/UX Design Fokus selbstständig zum Thema transformative, öko-soziale Digitalisierung und habe mich knapp vor einem halben Jahr bei einem IT-Dienstleister vom und für den Bund anstellen lassen. Meine Gründe dafür waren:

  • auto-ethonografisch mein Wissen darüber vertiefen woran es hakt, um noch bessere sozio-technische Systeme zu konzipieren, die intersektionale, gesellschaftliche Probleme ganzheitlich als möglichst wirksamen Hebel adressieren
  • forschen und prototypisch testen wie man (systemische) Veränderungen allgemein einbringen kann
  • bezahlter Aktivismus :smiley:

… ich könnte den ganzen Tag drüber reden / schreiben :smiley:

Meine Persönliche Erfahrung aus der Industrie ist, dass sich mit ein paar wenigen gewillten Menschen, einer offenen Plattform und der Rückendeckung von den Führungskräften, sehr viel mehr bewegen lässt, als mit Geld.

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