Das ist halt der Punkt:
Politisch und moralisch können wir so diskutieren. Politisch und moralisch können wir argumentieren, dass unsere Position die „richtigere“ ist und deshalb, auch wenn die Gegenseite von sich das gleiche behauptet, unsere Position „besser“ ist. Das ist gar kein Problem. Uns muss aber eben klar sein, dass China und Russland ihre Systeme mit den exakt gleichen Argumenten auch für „besser“ und „richtigerer“ halten. Das ist eben, wie schon gesagt, eine subjektive Frage.
Objektiv betrachtet, wenn wir über Recht wie das Völkerrecht reden, darf man sich aber eben gerade nicht von diesen subjektiven, politischen und moralischen Entscheidungen leiten lassen. Wenn wir mit Völkerrecht argumentieren wollen, müssen wir bereit sein, das abstrakte Völkerrecht immer einheitlich auf alle konkreten Fälle - ungeachtet unserer Sympathie zu den Konfliktparteien - anzuwenden. Wenn wir uns argumentativ auf bestimmte abstrakte Konzepte des (Völker)Rechts stützen wollen, müssen wir akzeptieren, dass auch andere Staaten sich auf die gleichen abstrakten Konzepte stützen werden - und das dann zu verneinen, weil uns das Resultat nicht passt, wäre eben ein Missbrauch des Rechts und eine Doppelmoral sondergleichen, es würde alles konterkarieren, was wir uns im Hinblick auf „Rechtstaatlichkeit“ auf die Fahne schreiben.
Denn Rechtstaatlichkeit bedeutet eben auch, dass z.B. Menschen, deren Lebensentwurf aus Sicht der Gesellschaft eine Katastrophe ist, trotzdem vor Gericht die gleichen Rechte haben wie jeder andere auch. Das gleiche gilt auch für Staaten.
Das ist auch mit ein Grund, weshalb die NATO bereit war, die “kleine Invasion“ zu kritisieren, aber zu schlucken.
Keiner der demokratischen Staaten wäre damit einverstanden gewesen, die Ukraine am wenigsten, aber es war klar, dass man Putins Sichtweise da berücksichtigen muss.
Dennoch möchte ich aber noch festhalten, dass es einen Konsens über freie Abstimmungen gibt, bevor eine Region abgekoppelt wird.
Die Wahl, die Russland dort durchgeführt hat, wird den Erwartungen der OSZE nicht gerecht.
Wer das nicht kritisiert, tritt nun mal unsere demokratischen Werte mit Füßen.
Absolut - wie das ganze da gelaufen ist war unter aller Sau, gar keine Frage.
Das Problem in solchen Situationen ist halt immer, dass es keinen Kompromiss gibt, mit dem sich beide Seiten einverstanden erklären.
Wenn die Ausgangslage z.B. ist, dass sich der mehrheitlich russisch geprägte Osten des Landes nicht damit abfinden kann, dass sich die Ukraine im Rahmen des Euromaidan an den Westen annähert und den von Russland unterstützten Präsidenten aus dem Amt treibt, ist das erst einmal durchaus nachvollziehbar - keine gute Entscheidung, aber nachvollziehbar. Problem ist aber natürlich: Die Ukraine würde niemals eine Abstimmung darüber zulassen, ob dieses Gebiet sich unabhängig erklären darf. Kein Staat würde eine solche Abstimmung zulassen (siehe das Theater in Spanien, wenn es um die Unabhängigkeitsbestrebungen der Katalanen geht - da setzt Spanien auch lieber immer wieder die gewählte Regionalregierung ab, wenn diese ein Referendum ansetzt…).
Dadurch kann es zu keiner fairen Abstimmung kommen, weil die Ukraine gar keine Abstimmung will (wie gesagt, das ist absolut verständlich…) und Russland eine Abstimmung nur zulässt, wenn es sicher ist, dass die Abstimmung im russischen Interesse ausgeht (dh. nachdem die pro-ukrainischen Kräfte teilweise das Land verlassen haben bzw. eingeschüchtert werden - oder die Wahl einfach direkt manipuliert wird). Und selbst wenn Russland die Wahl nicht manipulieren oder beeinflussen würde und die Wahl international beobachtet würde, würde die Ukraine das Ergebnis niemals anerkennen, der Rest des Westens vermutlich auch nicht. Eben weil man befürchten würde, damit die Büchse der Pandora im Hinblick auf Katalonien, Südtirol, Kalifornien, Bayern und viele andere Gebiete in westlichen Staaten, die schonmal mit dem Gedanken der Unabhängigkeit gespielt haben, öffnen würde…
Das ist wieder ein typisches Dilemma, das man nicht aufbrechen kann. Ich würde mir in solchen Fällen wünschen, dass es völkerrechtliche Wege gäbe, nach denen eine Region ihre Unabhängigkeit durchsetzen kann - mit massiver Wahlbeobachtung durch die OSZE / UN und klaren Regelungen für etwaige Entschädigungen, die an den Staat gezahlt werden müssen, von dem sich eine Region lossagen will.
Das alles ist aber kaum umsetzbar und würde vermutlich auch ständig zu Konflikten führen. Deshalb ist es leichter, den aktuellen Status Quo der Unveränderlichkeit von Staatsgrenzen zu erhalten und Gebieten, die sich unabhängig erklären wollen, maximal im Rahmen spezieller Autonomie-Regelungen entgegenzukommen, daher den Regionen etwas mehr Selbstverwaltung zuzugestehen (wie im Baskenland, Katalonien usw geschehen und wie es auch für die Ostukraine angedacht war, was aber nach Putins Angriffskrieg vom Tisch sein dürfte…).
Das Thema ist insgesamt zu schwierig für einfache Antworten. Und Putins Angriffskrieg hat jede Verhandlung darüber auch im Keim erstickt, denn jetzt muss Russland einfach in seine Schranken gewiesen werden, auch wenn das für alle Beteiligten sehr negative Konsequenzen hat. Aber Russland kann, darf und wird mit dieser Aktion nicht durchkommen…
Ist das so? Wie konnte dann Nixon 1973 plötzlich die abtrünnige Volksrepublik anerkennen und Taiwan die Anerkennung entziehen? Mir fallen extrem viele Beispiele ein von Annektionen, Vertreibungen, Abspaltungen, mit denen sich die Völkergemeinschaft einfach nach ein paar Jahrzehnten oder Jahrhunderten abgefunden hat.
Um meinen Post zu präzisieren:
Ich sehe keinen Grund, aus der Situation des Donbass auf die Situation Taiwans zu schließen.
Denn ich sehe einen großen Unterschied, ob dieses unabhängig gewordene Land über eine funktionierende Demokratie verfügt oder nicht.
Für die Gebiete, die Russland besetzt/befreit (je nach Sichtweise) sehe ich keine Hoffnung auf eine funktionierende demokratische Regierung. Damit sehe ich auch keine Legitimation durch die Bürger, die dort wohnen.
Die Situation Taiwans stellt sich auch tatsächlich so dar:
Tatsächlich haben 40 Länder in Taiwan Botschaften eröffnet, auch wenn sie diese anders nennen.
Bei Olympia tritt Taiwan an, auch Fußballländerspiele werden ausgetragen. Insofern ist Taiwan in vielerlei Hinsicht international anerkannt.
Sein einziges Problem ist, dass keiner sich wirtschaftliche Sanktionen aus China einfangen will.
Nun darf man mir gerne vorwerfen, dass ich hier aus meiner demokratischen Sichtweise aus das falsch einschätze. Und das möchte ich nicht verneinen.
Ich verstehe nicht, wie die Russen ihre Regierung toll finden können, scheint aber zumindest teilweise so zu sein. Ich muss also akzeptieren, dass Diktaturen möglicherweise Vorteile haben, die sich mir nicht erschließen. Womit ich bei meinem letzten Post bin.
Ich kann durchaus nachvollziehen und - rational betrachtet - verstehen, warum Menschen Diktaturen unterstützen. Der konservative Russe auf dem Land hat von einer anti-LGBTQI, anti-liberalen, anti-bürgerrechtlichen Regierung nichts zu befürchten. Im Gegenteil, für den erzkonservativen Christen vom Land sind diese Aspekte sogar gewünscht (analog zu „deutschen Werten“ in konservativen deutschen Kreisen). Auch der „einfache“ Chinese hat einfach keinen Grund, seine Regierung zu hinterfragen - so lange er kein Uigure ist oder sich für Demokratie und Rechtstaat engagiert. Die meisten Menschen in der Landbevölkerung dieser Länder haben halt andere Sorgen - die machen jeden Tag ihre Arbeit und sind ansonsten „unpolitisch“ - und dadurch geraten sie auch nicht in Konflikt mit der Regierung (so lange sie nicht für einen Staudamm oder ein anderes Großprojekt umgesiedelt werden sollen…). So lange man keinen Konflikt mit seinem System hat und andere existenzielle Fragen im Vordergrund stehen gibt es für diese Menschen halt keinen Grund, für Demokratie und Rechtstaat zu kämpfen. Sie haben sich mit ihren Systemen arrangiert.
Gleiches gilt halt für die konservative Landbevölkerung in der Türkei. Selbst in Deutschland sehen wir recht deutlich, dass die SPD die meisten Großstädte gewinnt (sogar in Bayern…), während die CDU die Landkreise gewinnt.
Dazu kommt, dass konservative Menschen „Alphatiere“ wählen, sie wählen den „starken Mann“, so lange dieser konservative Positionen vertritt. Was dieser „starke Mann“ dann macht - warum sollte der „einfache Bauer“ das hinterfragen?
In Russland, der Türkei, Ungarn und begrenzt auch in den USA kommt halt noch das Thema „Propaganda“ dazu. Klar, in den USA gibt es theoretisch eine Vielzahl an Medien, aber die Medien sind so gespalten, dass es hier keine „Social Media“ braucht, um eine Blasenbildung zu haben. Daher: Der Redneck schaut halt nur Fox News oder Schlimmeres. In Russland, der Türkei und Ungarn ist das ganze natürlich noch deutlich schlimmer - dort gibt es einfach kaum noch freie Medien. Und während die Jugend dank Social Media und Internet die Chance hat, über den Tellerrand der eigenen Regierungspropaganda zu schauen, hat die Landbevölkerung diese Möglichkeit nicht - und will sie auch gar nicht.
So wundert es nicht, dass der Ukraine-Krieg bei der russischen Landbevölkerung recht populär ist, während er bei der russischen Stadtbevölkerung sehr kritisch betrachtet wird.
Oder, um es ganz kurz mit Brecht zu sagen:
„Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Rechtstaat, Demokratie und Menschenrechte sind Dinge, für die Menschen kämpfen, wenn sie keine existenziellen Probleme haben… oder wenn sie durch das Fehlen dieser Dinge direkt negativ betroffen sind.
Wo Taiwan international auftritt, tut es dies meist unter dem Namen „Chinesisch Taipeh“. Wo andere Staaten bei internationalen Veranstaltungen ihre Nationalhymne anstimmen, spielen die Taiwaner ihr Flaggenlied (d.h. statt der „Drei Prinzipien des Volkes“ werden die „Nachkommen der Kaiser Yan und Huang“ beschworen). Internationale Anerkennung sieht anders aus, aber vielleicht ist das ein Modell für die vielen anderen de-facto-Regierung, die es inzwischen gibt.
Kommt Russland seit der letzten Olympiade bekannt vor…
Hat Putin nicht daran gehindert, hinzufahren und den neutralen Sportlern zuzujubeln und die russischen Medien nicht daran gehindert, neutrale Medaillensiege zu feiern.
Dabei sein ist eben doch alles - und das gilt eben auch für Taiwan.
Mir reichte schon, wenn die Leute hier im Forum das hinterfragen würden, statt zu relativieren.
Das lässt sich leicht mit Schottland oder gar den Faröer vergleichen, die treten auch mit eigenen Mannschaften bei Sportwettbewerben an, obwohl beide keine Anerkennung als Staat im Sinne der UN bekommen. Auch für diverse Politikfelder, speziell Außen- und Verteidigungspolitik, sind die jeweiligen Staaten zuständig, Großbritannien bzw. Dänemark.
Das ist im Falle Taiwans doch anders.