Lieber Ulf, lieber Philipp, lieber Mitleser*innen,
ich würde gerne hier eine juristisch-dogmatische Diskussion über das Klimaschutzgesetz-Urteil des BVerfG anstoßen. Wie Ulf und Philipp in der LdN 239 in ihrer beeindruckenden ad-hoc-Analyse bereits feststellen, wirft das Urteil auch einige Fragen um die neuen Konstruktionen auf.
Meines Erachtens ist das Urteil in seinen politischen Aussagen tatsächlich revolutionär, aber rechtlich deutlich zaghafter, als es auf den ersten Blick scheint. Ich würde diese Gedanken gerne kurz teilen. Kurzer Disclaimer zu meinem Hintergrund: Ich bin wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem öffentlich-rechtlichen Lehrstuhl mit Fokus auf Grund- und Menschenrechte, aber absolut kein Experte für die hier aufgeworfenen Fragen. Ich würde mich v.a. freuen, von eurer Expertise zu lernen.
Die Begründetheit des Urteils zerfällt ja in zwei Teile. Anders als es in der Lage-Folge anklang, wird aber der Lösung über grundrechtliche Schutzpflichten eine klare Absage erteilt (Rn. 143 ff.). Das BVerfG stellt gerade nicht fest, dass das Emissionslimit bis 2030 zu lasch ist, sondern billigt die Regelung explizit als vom gesetzgeberischen Spielraum umfasst (z.B. Rn. 163).
Anschließend kommt ein zweiter neuer Argumentationsstrang, in dem das Generationengerechtigkeitsargument eingeführt wird und die weitreichenden Ausführungen zu Art. 20a GG zu finden sind. Beides scheint mir inhaltlich tatsächlich revolutionär. Ich sehe allerdings die dogmatische Verarbeitung dieses Arguments methodisch kritisch. Denn wenn man das Argument, dass nicht ausreichende Klimaschutzmaßnahmen heute zu unverhältnismäßigen Freiheitseinschränkungen später (ab 2031) führt, konsequent zu Ende denkt, müsste man m.E. zu dem Ergebnis kommen, dass bereits die jetzt geltende Regelung bis 2030 grundrechtliche Schutzpflichten verletzt. So klang auch Ulfs Interpretation des Urteils in der Lage-Folge. Genau zu diesem Ergebnis ringt sich das BVerfG aber ja nicht durch (s.o.).
Stattdessen wählt es eine Hilfskonstruktion, indem es die zukünftigen Freiheitseinschränkungen wie ein Abwehrrecht prüft, wobei der jetzt geltende Regelung bereits „eingriffsgleiche Vorwirkung“ zu kommt. Diese Konstruktion halte ich für relativ wackelig. Denn wenn die Frage ist, ob die heute geltende Norm strenger sein sollte, als sie ist, dann wäre der richtige dogmatische Anknüpfungspunkt die Schutzpflichtendogmatik. Wenn die Beschwerdeführenden (shoutout übrigens dafür, dass dieser Begriff im Urteil gegendert wurde, super!) eine schärfere Regelung wollen, dann ist das gerade keine Frage der Abwehrkonstellation. Entsprechend zerfahren liest sich daher m.E. auch die Verhältnismäßigkeitsprüfung, die – obwohl das BVerfG eine Freiheitsbeschränkung prüft – gerade nicht als Übermaßverbot, sondern als Untermaßverbot fungiert, also fragt, ob die Norm bis 2030 streng genug ist, Rn. 244 ff. Diese Frage wurde aber eigentlich bereits bei den Schutzpflichten geprüft (wo sie m.E. hingehört) und bejaht. Dementsprechend kommt das BVerfG hier dann ja auch „nur“ zu dem Ergebnis, dass das Fehlen eines Reduktionsweges für nach 2031 die Norm verfassungswidrig macht (Rn. 266).
Mein Fazit: Ich erkenne die politische Reichweite dieses Urteils absolut an und gönne es FFF etc. von Herzen, das als großen Erfolg zu feiern. Ich bin aber der Ansicht, dass eine weniger „kreative“ Lösung im Endeffekt juristisch revolutionärer gewesen wäre. Insbesondere hätte sie dazu beitragen können, die Schutzpflichtendimension der Grundrechte deutlich aufzuwerten, was m.E. dringend nötig wäre – bei aller in diesem Kontext natürlich gebotenen Zurückhaltung der Justiz aus Gewaltenteilungsgesichtspunkten. Die stattdessen reichlich forcierte Lösung über Abwehrrechte finde ich wenig überzeugend und habe große Zweifel, wie allgemeinerungsfähig diese ist.
Was denken andere dazu?
Liebe Grüße
JoKie