LdN 233 - Nachteile bei der Inanspruchnahme von Psychotherapie

Liebes Lage-Team,

das Thema „Zugang zu Psychotherapie“ finde ich ungemein wichtig. Doch meines Erachtens löst die schlichte Verfügbarkeit nur ein Teil des Problems. Die andere Seite sind Hemmnisse, diese Angebote tatsächlich in Anspruch zu nehmen, da dies vielfach noch immer mit Nachteilen verbunden ist. Ich selbst bin „psychisch stabil“, habe mir jedoch vor einigen Jahren aufgrund einer akuten persönlichen Situation psychologische Hilfe geholt. Obwohl ich nicht einmal alle genehmigten Sitzungen absolviert habe und mir meine Psychologin bescheinigte, die Problematik gelöst zu haben, wurde ich aufgrund dessen bei Berufsunfähigkeits- und privaten Krankenzusatzversicherungen abgelehnt. Wie kann es sein, dass Raucher mit einem objektiv erhöhten Krebsrisiko und Menschen mit diversen körperlichen Erkrankungen gänzlich akzeptiert sind - im übrigen völlig zurecht -, Menschen mit Einschränkungen der psychischen Gesundheit aber stigmatisiert sind. Ich werde aus Sorge vor Nachteilen dieser Art keine Therapie mehr in Anspruch nehmen- was ein Armutszeugnis dieses Systems…

Es war mir wichtig, diesen Aspekt in der Diskussion zu ergänzen und sende

beste Grüße!

Julia

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Das ist ein wichtiger Aspekt! Ich habe früher einmal Lehramt studiert (in Bayern). Damals gab es im Studium und Referendariat mehrere Leute, die eine notwendige Psychotherapie verschleppt haben, weil sie sonst nicht mehr verbeamtet worden wären. Davon abgesehen, dass die Verbeamtung von Lehrer:innen sowieso sehr fragwürdig ist, halte ich das für ein absolutes Unding. Auf diese Weise sorgt man dafür, dass Probleme bestehen bleiben und sich womöglich chronifizieren, weil eine Behandlung zu große Nachteile bringt.

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Hallo Julia, Birgit und Lage-Team,

In meinem Umfeld hat auch eine Person mit juristischer Ausbildung während dieser auf eine Therapie verzichtet, um später die Möglichkeit zu haben, in den Staatsdienst zu gehen. Wäre es nicht sinnvoll, dass die Beamten emotional stabil und gesund sind, indem sie sich mit einer Therapie heilen lassen, anstelle diese zu verschleppen? Warum sollte eine Depression oder Esstöhrung anders behandelt werden als eine Grippe? - in beiden Fällen ist ein verschleppen desaströs!

Besonders schwierig finde ich auch, dass dir die Krankenkasse für jeden Facharzt einen Termin innerhalb von 6 Wochen besorgt, außer einen psychologischen Psychotherapeuten oder Psychiater, für diese bekommt man eine Liste und darf selbst anrufen. Und sowohl bei anrufen als auch Briefen bekommt man oft genug gar keine Rückmeldung - das ist super wenn man sich selbst ohnehin in Zweifel zieht. Teilweise kann man inzwischen über die kassenärztliche Vereinigung gehen, doch die agieren auch in jedem Bundesland anders. In manchen Ländern vermitteln sie Erstgespräche - von da aus ist es noch weit zu einer Therapie.

Positiv möchte ich erwähnen, dass in einigen Universitätsstädten, die Psychologie unterrichteen, Hotlines geschaltet wurden, die in corona Zeiten anonym und kurzfristig Hilfe bieten können. Dabei handelt es sich um Psychologiestudenten höherer Semester, die unter direkter Betreuung eines Professors stehen. So eine Hotline existiert zb in Kassel.

Hallo Birgit, hallo Rubilucious,

es ist wirklich erschreckend, wieviel aus Sorge von Nachteilen keine psychologische Hilfe in Anspruch nehmen - das ist ein riesiges strukturelles Problem! Noch ein Beispiel aus meinem eigenen Leben:

Mein Mann und ich wünschen uns seit fast 3 Jahren vergeblich ein Kind und sind deshalb in Kinderwunschbehandlung. Diese Zeit und die vielen Behandlungen sind extrem belastend - fast jeder würde in so einer Situation psychologische Hilfe benötigen. Doch ich nehme sie nicht in Anspruch- wer weiß, ob ich jemals schwanger werde oder ob wir den Weg der Adoption gehen müssen. Die Sorge, dort als „psychisch kranke“ Bewerber abgelehnt zu werden und so jede Chance auf ein Kind zu verlieren ist jedoch riesig und so schlagen wir uns alleine durch. Und ich weiß durch persönliche Kontakte, dass ich mit dieser Sorge ebenfalls nicht alleine bin.

Diese Stigmatisierung - nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in anderen Strukturen - muss ein Ende haben! Wenn öffentliche Institutionen die psychische Gesundheit endlich nicht mehr brandmarken würden, hätte dies sicher auch auf das gesellschaftliche Bild einen immensen Einfluss.

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