Landtagswahlen: ist die 5% Hürde undemokratisch?

Ich verstehe sehr gut was du meinst. An dem Punkt müssten wir auch darüber sprechen, ob Nicht-Wähler eine tatsächliche Gruppe sind im Wahlergebnis…denn dann müsste man festlegen, wie hoch die Beteiligung sein muss, damit eine Wahl als legitimiert gilt. Hätte natürlich auch den Vorteil, dass Protestler ehr mal nicht wählen, als die rechtsradikale AfD zu wählen.

Und dann wird so lange gewählt bis das erforderliche Quorum erreicht ist? Das halte ich für völlig unpraktikabel. Die einfachere Lösung wäre dann eher eine Wahlpflicht einzuführen.

Man könnte auch sagen: Seit 2008 steigt die durchschnittliche Wahlbeteiligung in Niedersachsen moderat an.

Die Antwort darauf hängt von der Demokratiedefinition ab. In einem reinen Verhältniswahlrecht lautet die Antwort eher: „Nein“, in einem reinen Mehrheitswahlrecht lautet die Antwort ganz klar „Ja“.

Mal als Beispiel:
Die Wahlbeteiligung in den USA 2016 betrug 60,2% (noch deutlich niedriger, wenn man auch aus fragwürdigen Gründen nicht wahlberechtigte als Wahlvolk definiert), Trump gewählt haben davon 46,1%, bedeutet: die Legitimation des Präsidenten basiert nur auf 27,75% der wahlberechtigten Bevölkerung. In einem Mehrheitswahlrechtssystem ist das generell die Norm, da eben alle Stimmen für die unterlegenen Kandidaten entwertet werden, also keinerlei Einfluss auf die politische Vertretung haben.

Das Gute in Deutschland ist, dass wir eigentlich ganz klar ein Verhältniswahlrecht haben - durch die Erststimme zwar ein personalisiertes Verhältniswahlrecht, aber eben im Kern doch ein Verhältniswahlrecht. Leider gibt es aber auch in Deutschland gewichtige Stimmen, die das Wahlrecht weiter in Richtung eines Mehrheitswahlrechts verschieben wollen, gerade im Hinblick auf die Diskussionen über die Verkleinerung des Bundestages. Und hier sehe ich die wirklich großen Gefahren für unser demokratisches System, denn ich stimme dir zu:

Die Qualität einer Demokratie messe ich daran, wie gut das System im Stande ist, den Wählerwillen abzubilden, daher: Wie gut wird das Ergebnis der Wahl auf die Zusammensetzung der demokratischen Institutionen übertragen? Und das geht einfach nur in einem strikten Verhältniswahlrecht, niemals in einem Mehrheitswahlrecht. Mehrheitswahlrecht heißt immer „Winner takes it all“ und ist damit quasi keine 5%-Hürde, sondern eine 40+%-Hürde.

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Lustigerweise ergibt sich aus dem saarländischen Wahlergebnis eine ähnliche Zustimmungsrate für die nun amtierende Regierung :smile:

Wer bewusst sich entscheidet nicht zu wählen wird dadurch repräsentiert dass er nicht repräsentiert wird.
Anders ist es, wenn man zum wählen geht und dann die Stimme an der 5%-Hürde scheitert.

Als Beispiel dafür, wie schwer 3 Direktmandate sein können: die Grünen sind seit 1983 im Bundestag vertreten, 2002 also fast 20 Jahre später haben sie es das erste Mal geschafft ein Direktmandat zu holen und 2021 fast 40 Jahre später haben sie es erstmalig geschafft mehr als 3 Direktmandate zu holen. Eigentlich schützt diese 3 Direktmandate Regel nur die CSU davor in die Bedeutungslosigkeit zu fallen.

Ich sehe solche Aussagen eher kritisch, weil das zu pauschalisierend ist. Wir wissen nicht genau, warum die Leute nicht gewählt haben und wir wissen auch nicht, wie die Leute gewählt hätten, wenn sie zur Urne gegangen wären. Es hätte auch sein können, dass bei 100% Wahlbeteiligung wir genau das gleiche Ergebniss erhalten hätten. Bei Umfragen, fragt man auch nur ein paar 1000 Leute und nicht alle. Und ich würde auch @der_Matti zustimmen:

Das man die Option hat nicht zu wählen, halte ich nicht für undemokratisch. Nichtwähler wären vor allem dann ein systemisches Problem, wenn wie in den USA es bestimmten Wählergruppen gezielt erschwert wird, zu wählen. Soweit ich weiß, gibt es solche Probleme zumindest nicht in größerem Ausmaß. Ich halte Nichtwähler von daher eher für ein Symptom tiefergehender Probleme.

Die 5% Hürde hingegen ist direkt undemokratisch und ich halte es auch für ein Ablenkungsmanöver immer auf die Nichtwähler zu verweisen. Dann kann man auch sagen, wir brauchen nicht über Nichtwähler diskutieren, da der Klimawandel ein größeres Problem ist. Außerdem, wie bereits erwähnt halte ich die Abschaffung der 5% Hürde für eins der Mittel, um die Wahlbeteiligung wieder zu steigern.

Das stimmt so einfach nicht. So funktioniert unser System nun mal Leider nicht. Außerdem warum müssen Rollstullfahrer auf die Stimmen von Nicht-Rollstuhlfahrern hoffen, um repräsentiert werden zu dürfen?

Das Problem ist, dieses Potential aufzubauen, ohne im Bundestag vertreten zu sein, ist verdammt schwer, und solange deine Partei nicht im Bundestag vertreten ist, gilt eine Stimme an sie immer als verschenkte Stimme.

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Naja, das ist letztlich wieder eine Frage, die an die Grundpfeiler des Demokratieverständnisses gehen.

In der politischen Soziologie wird die Legitimation einer Wahl traditionell anhand der Wahlbeteiligung gemessen. Die Theorie dahinter ist: Wenn die Wahlbeteiligung sehr stark sinkt, deutet das an, dass etwas im System nicht funktioniert, daher das Wahlvolk z.B. die Hoffnung verloren hat, durch eine Wahl eine Veränderung zu bewirken. Die Gründe für eine niedrige Wahlbeteiligung können natürlich vielfältig sein, aber eigentlich herrscht Einigkeit, dass eine kritisch-niedrige Wahlbeteiligung ein Krankheitssymptom des politischen Systems ist, welches einer Behandlung bedarf.

Die Kombination von niedriger Wahlbeteiligung (z.B. 60%) und einem knappen Sieg (z.B. mit 42% der Stimmen, die nur durch den Wegfall der an der 5%-Hürde gescheiterten Stimmen auf 50% der Abgeordneten kommt) ist vor diesem Hintergrund in jedem Fall ein Problem der demokratischen Legitimation.

Natürlich ist Nichtwählen ein legitimer Ausdruck der Unzufriedenheit bzw. Resignation mit dem politischen System - aber gerade dadurch wird es ja zum Legitimationsproblem. Es kann daher gut sein, dass das Ergebnis das Gleiche wäre, wenn man die 40% Nichtwähler zwingen würde, zu wählen („Wahlpflicht“ wie u.a. in Ägypten, Australien, Liechtenstein, Peru, Türkei…), aber daraus würde ich dann keine stärkere Legitimation der Wahl ableiten, weil damit die Unzufriedenheit der 40%, die eigentlich nicht wählen wollen, nur durch Strafdrohung überdeckt wird.

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Alle gegenwärtig 45 MdB der CSU sind direkt gewählt.

Warum brauchen Rollstuhlfahrer eine Rollstuhlfahrer-Partei, um repräsentiert zu werden? Repräsentative Demokratie funktioniert erst recht nicht so, dass jede Gruppe eine eigene Partei benötigt um ihre Interessen einbringen zu können. Parteien sind Sammlungsorganisationen, keine Partikularanwälte.

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Sage ich auch immer, weshalb ich weiterhin dafür bin, die Sonderlösung der CDU/CSU endlich zu verbieten, damit bayrische Partikularinteressen nicht ständig übermäßig in der Bundespolitik repräsentiert werden… Aber das ist natürlich ein ganz anderes Thema :wink:

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Das war genau das was ich meinte, selbst wenn die CSU unter die 5% Hürde fällt, würden ihre Direktmandate sie immer retten.

Stimmt, warum sollten Rollstuhlfahrer überhaupt repräsentiert werden? Warum machen wir es uns nicht gleicht einfacher und machen ein 2 Parteien System? Dann ist es einfacher eine Entscheidung zu treffen. Oder gleich ein 1 Parteiensystem, das ist effizienter und die Parteimitglieder können ja immer noch wählen, also ist doch auch demokratisch.

Und damit wären wir in der nächsten Generaldebatte zum Thema Demokratie:

Wie viele Parteien braucht eine gesunde Demokratie?

Vertreter der Rätedemokratie (aka „Sowjets“) waren ja der Meinung, man bräuchte nur eine Partei, wenn innerhalb dieser Partei alle Interessen der Bevölkerung abgebildet werden, ein konstruktiver Umgang gepflegt wird und sich somit jeder Bürger für seine Interessen in „der Partei“ engagieren kann.

Die Realität hat gezeigt, dass das nicht so ganz funktioniert, weil Parteien wie alle Systeme dazu neigen, feste Strukturen auszubilden, die ganz schnell dazu führen, dass sich eine Meinung als dominant manifestiert und andere Meinungen bestenfalls ignoriert, schlimmstenfalls unterdrückt werden. Da müssen wir jetzt nicht in die Tiefe der Systemtheorie (Luhmann und co lassen grüßen) gehen, da die Resultate schon sehr oberflächlich zu beobachten sind.

Die Amerikaner sind weiterhin der Meinung, dass zwei Parteien genügen würden - denn ein reines Mehrheitswahlrecht wird zwangsläufig immer zu einem Zwei-Parteien-System führen, da jede Zersplitterung einer der Parteien bedeutet, dass die andere Partei dauerhaft an der Macht sein wird. Auch hier ist das Argument, dass ja alles „links der Mitte“ sich bei den Demokraten intern engagieren und somit politisch durchsetzen könnte, während alles „rechts der Mitte“ das gleiche bei den Republikanern könne.

Was lehrt uns die Beobachtung hier? Vor allem, dass „rechts der Mitte“ deutlich besser darin ist, eine Partei zu infiltrieren und parteiinterne Kritiker tot zu stellen, wie es die letzten Jahren mit allen Anti-Trump-Vertretern bei den Reps passiert ist. Bei den Demokraten hingegen konnten sich linke Strömungen nie durchsetzen, Sanders wurde bei den letzten beiden Vorwahlen aktiv von den höheren Parteifunktionären verhindert.

So wirklich gut funktioniert dieses System also auch nicht, aber immerhin besser als die historischen Ein-Parteien-Systeme. Aber auch bei Zwei-Parteien-Systemen zeigt sich eben, dass ein „Establishment“ innerhalb der Parteien besteht, welches seine Machtstrukturen i.d.R. gut festigen kann und nahezu unangreifbar wird.

Genau deshalb ist es wichtig, dass es viele Parteien gibt und dass die Hürden für neue Parteien möglichst niedrig gesetzt werden, eben damit der Bürgerwille sich über die Wahl neuer Parteien auch entgegen einem gefestigten Establishment in bestehenden Parteien durchsetzen kann.

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Zwei Fragen an diejenigen hier die gerne die 5% Hürde abschaffen wollen:

Wie soll die Größe des Parlaments beschränkt werden?

Welche Hürde ergibt sich aus der Beschränkung?

Also wenn man z.B. das Parlament bei den aktuellen 598 Sitzen belassen würde, würde sich daraus eine Hürde von ca. 0,17% pro Sitz ergeben.

Edit: Man sollte vielleicht noch dazu erwähnen, dass die 0,17% keine fixe Hürde wie die 5% Hürde wären, sondern vom Wahlausgang abhängen würden. Die Zahl sagt lediglich aus, dass eine Partei, die mindestens 0,17% erreicht definitiv im Parlament vertreten ist.

Das Problem der Größe des Parlaments kommt durch den Mehrheitswahlrechtsteil unseres personalisierten Verhältniswahlrechts, daher: Sie kommt daher, dass die Direktmandate nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt werden.

Die „Personalisierung“ des Mehrheitswahlrechts würde ich gerne in die Parteien verschieben, indem der Prozess der Bildung der Landeslisten deutlich öffentlicher und transparenter sein sollte.

Die Frage, die bleibt, ist, ob jeder Wahlkreis zwangsläufig einen Bundestagsabgeordneten entsenden muss - denn dieses System ist einfach nur sehr schwer mit einem Verhältniswahlrecht zu verbinden, ohne dass hinterher ein aufgeblähter Bundestag oder ein unheimlich komplexes Verrechnungssystem dabei herauskommt.

Meiner Ansicht nach wäre es wichtiger, dass alle Parteien vor Ort Ansprechpartner für die Bürger haben, welche die Anlegen der Bürger an die Parlamentarier weiterleiten. Denn ganz im Ernst: Egal, wie sehr mein Anliegen brennen würde, würde ich als jemand, der deutlich gegen die CDU ist, nie zu „meinem“ CDU Bundestagsabgeordneten gehen, wenn mein Wahlkreisabgeordneter halt ein CDUler wäre… und wenn der „ortseigene Abgeordnete“ nur in der Opposition ist, hat er ohnehin keinen wirklichen Einfluss im Bundestag, was auch gegen dieses Prinzip spricht.

Daher würde ich bezweifeln, ob dieses „Jeder Wahlkreis braucht einen Abgeordneten“ wirklich noch zeitgemäß ist. Wenn wir wollen, dass der Kontakt zwischen Bürgern und Abgeordneten direkter wird, gibt es dafür heute wesentlich bessere Lösungen…

Die Antwort auf deine Frage ist daher:

Ich würde den Zwang, dass jeder Wahlkreis im Bundestag repräsentiert ist, zumindest drastisch reduzieren und die Erststimme generell abschaffen, dafür die Wahl der Landeslisten innerhalb der Parteien verpflichtend öffentlich transparent und demokratisch ausgestalten (daher: Alle Parteimitglieder haben das Recht, hier mit zu wählen und der Wahlkampf sollte ähnlich wie der Vorwahlkampf der USA öffentlich sein).

Durch den Wegfall der Erststimme würde die Wahl nebenbei auch einfacher werden (ich will gar nicht wissen, wie viel Prozent aller Wähler bis heute nicht versteht, dass die Zweitstimme die wichtigere Stimme ist…).

Wir können halt nicht alles haben:

  1. Einen kleinen Bundestag
  2. Eine lebendige Parteienlandschaft
  3. Direktwahl von Bundestagsabgeordneten in jedem Wahlkreis
  4. Ein maßgeblich den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts folgendes Wahlsystem

Maximal sind drei dieser vier Dinge realisierbar, niemals jedoch alle. Und bei meiner Prioritätensetzung würde halt Punkt 3 rausfallen.

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Damit stellt sich dann die Frage, wie viele solcher Kleinstparteien das Parlament aushält ohne arbeitsunfähig zu werden, denn ein einzelner Abgeordneter kann unmöglich bei allen Ausschusssitzungen dabei sein.

Ich weiß nicht. Wie lösen andere Parlamente das denn? Die 200 Sitze des Schweizer Nationalrats teilen sich z.B. 11 Parteien, und der funktioniert doch auch irgendwie. Bei der letzten Volksammerwahl waren es 12 Parteien auf 400 Sitze, und die mussten immerhin die Wiedervereinigung regeln. Das EU-Parlament besteht eigentlich nur aus Kleinstparteien und ist trotzdem arbeitsfähig. Ich bin mir sicher, dass sich das Problem lösen lässt. Einfach mal mehr Demokratie wagen.

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Warum muss er das denn überhaupt? Und wie sind denn eigentlich aktuell die Regelungen, wenn ein Parteiloser ein Direktmandat gewinnt oder (etwas realistischeres Szenario) ein Bundestagsabgeordneter fraktionslos wird?

Die gesammelten Vertreter:innen der ‚Normalisierungsthese‘ mal eben im Handstreich aus der Tradition der politischen Soziologie auszuschließen finde ich ehrlich gesagt ein bisschen harsch ;).

In der Diskussion wird allerdings gerne so getan als sei Nichtwählen per se „Ausdruck von Unzufriedenheit“. [1] Die Konzeption des Legitimationsproblems hätte allerdings zu berücksichtigen, dass „Resignation mit dem politischen System“ stets nur bei einem Bruchteil aller Nichtwähler:innen den Grund für die Nichtwahl darstellt.

[1] Z.B. hier:

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Das ist doch letztlich eine Frage der Definition von Unzufriedenheit.
Fakt ist, dass sich bei einer Wahl mit 60% Wahlbeteiligung 40% der Bevölkerung entschieden haben, nicht zu wählen. Entweder aus aktiver Ablehnung / Resignation, oder eben aus passiver Ablehnung alá „Dafür gehe ich Sonntags nicht vor die Tür“ oder „Politik interessiert mich nicht“.

In allen Fällen, in denen Menschen nicht wählen, hat dies mit der Prioritätensetzung des Wahlvorgangs zu tun, daher: Die Menschen entscheiden entweder, dass das Wählen ihre Zeit nicht wert ist oder sie wollen aktiv nicht wählen. Beides ist eine Form der Ablehnung des politischen Systems, nur eben aktiv oder passiv.

Ich denke, die Normalisierungsthese macht den Fehler, eine (schlechte) Ausrede zur Erklärung zu verklären. „Meine Stimme wird nicht gebraucht, weil auch so alles prima läuft“ halte ich für eine relativ realitätsferne Ansicht, die kaum überzeugen kann. Politisch interessierte Menschen denken so nicht (vor allem nicht in Zeiten steigender AfD-Wahlerfolge), politisch desinteressierte Menschen sagen sowas, weil sie nicht zugeben wollen, sich nicht mit Politik beschäftigen zu wollen.

„Alles ist prima, deshalb brauche ich nicht zu wählen“ ist eigentlich auch eine Ansicht, zu der man nur kommen kann, wenn man sich nicht mit Politik beschäftigt, ansonsten würde man immer Gründe finden, warum man wählen sollte. Tatsächlich glaube ich auch nicht, dass die Normalisierungsthese aktuell noch viele Vertreter hat - ich würde schon sagen, dass die Krisenthese sehr dominant ist.