Was mich verwirrt an diesem Arbeitsmarktdaten sind folgende Punkte:
Die Zahl der offenen Stellen liegt um 600.000, die Zahl der Arbeitslosen bei rund 2,7 Mio. (Beide Zahlen kann man anzweifen, darum nehmen wir diese als Indikator). Wenn dieser Indikator halbwegs stimmt, dann gibt es entweder an riesiges Missmatch zwischen Nachgefragten Berufen und Qualifikation der Arbeitslosen und/ oder ein riesiges Missmatch zwischen Wohnort und Arbeitsstätte.
Frau Nahles sagt, dass „die gemeldete Nachfrage von Unternehmen nach Arbeitskräften bleibt schwach“. Schwach bei 600.000 offenen Stellen? Was ist denn dann stark? 1 000 000 ?!?
Die Zahl der Sozialversicherten Beschäftigten steigt weiter, der Abstand der Steigerung zum Vorjahr fällt nur flacher aus. Damit hätten wir einen neuen sozialversicherten Beschäftigungsrekord, wenn man es positiv dreht. Aber die Zahl der Arbeitslosen im Vergleich zum Vorjahr ist um 23 000 gestiegen.
Wie kann das denn sein? mehr sozialversicherte Beschäftigte, mehr Arbeitslose würde darauf schließen, dass mehr Personen dem Arbeitsmarkt zum Verfügung stehen. Das stimmt aber gar nicht, weil die „Rentenwelle“ langsam los geht und weniger junge Menschen nachrücken. Wo liegt mein Gedankenfehler?
Dazu noch die Lohnforderungen der Gewerkschaften, welche noch verwirrender Kommentiert werden.
Clemens Fuest sagt, dass die Löhne in Deutschland eigentlich zu hoch sind, um Wettbewerbsfähig zu sein, aber er sagt gleichzeitig, seien in spezifischen Bereichen höhere Löhne zwingend, weil dort an Fachkräftemangel herrscht und auch auf dem Arbeitsmarkt Angebot und Nachfrage gilt. (5) ifo-Präsident Prof. Clemens Fuest u.a. zur VDA Studie zur Transformation der Automobilindustrie - YouTube
Ähnliche Aussagen kommen von CDUlerin Connemann und anderen politischen Vertretern.
Wenn das passen würde und der Markt hier regelt, dann müsste sich innerhalb kurzer Zeit eine massive Verschiebung der Qualifikation der Arbeitslosen erfolgen. Was einfach nicht geschieht.
Da würde ich behaupten, dass der Markt nur sehr gehemmt regelt…
Das Statement von Nahles zum Ausbildungsmarkt ist ebenfalls hoch interessant und wirft noch mehr Fragen auf, welche jedoch schon in einem anderen Forum besprochen wurden.
Zu den freien Stellen: da werden in der Regel Fachkräfte gesucht, die Zahl der Un-/oder angelernten Arbeitskräfte nimmt eher ab, laut Agentur für Arbeit. Grund ist die steigende Komplexität der heutigen und kommenden Berufe.
Zu den Arbeitslosen: da sind auch Menschen dabei, die gesundheitlich nur sehr eingeschränkt vermittelbar sind, Alleinerziehende mit fehlender Kinderbetreuung, Pflegende, Menschen ohne Ausbildung oder die länger als 4 Jahre aus dem erlernten Beruf raus sind (laut Afa dann wieder als ungelernt zählen) usw….
600.000 gemeldete freie Stellen bundesweit sind tatsächlich nicht so üppig, zudem bauen Firmen grad auch Personal ab.
Also das einfache Gegenüberstellen von Zahlen funktioniert hier nicht.
Mehr sozvers Beschäftige kann auch heißen, weniger geringfügige Jobs, aber trotzdem mehr Arbeitslose
Auch sind nicht alle Stellen wirklich frei.
Manche sind bereits vergeben, aber dem Arbeitsamt wurde das (noch) nicht mitgeteilt.
Andere wurden ausgeschrieben, weil jemand in der Firma das gefordert hat, es ist im Budget aber gar nicht vorgesehen oder die Leitung ist sich unsicher wie das Unternehmen sich entwickelt, kann das den Angestellten aber noch nicht sagen. Oder man möchte einfach mal sehen, wer sich so bewirbt und einen Pool aufbauen. Weitere „Stellen“ entfallen auf Scheinangebote von Headhuntern und Adresssammlern.
Grundsätzlich zeigen die Zahlen aber, dass das Narrativ Lindners und von Merz, dass jeder der eine Arbeit haben wolle diese bekommen könnte, einfach falsch ist.
Um das mal ins Verhältnis zu setzen: Es gibt gut 10.700 Gemeinden in Deutschland. Bei 600.000 freien Stellen gibt es also durchschnittlich ca. 55 freie Stellen pro Gemeinde. Das ist nicht so wahnsinnig viel, finde ich.
Vermutlich ist diese Zahl nicht so wahnsinnig weit weg vom theoretischen Minimum. Selbst wenn man das Phänomen der „Geisterstellen“, das @der_Matti beschreibt ignoriert, dann sind die meisten freien Stellen ja praktisch schon zwangsläufig eine Weile lang frei, obwohl es geeignete Bewerber gibt. Dafür sorgt alleine die Dauer des Bewerbungsverfahrens.
Solche Effekte können zum Beispiel durch Zuwanderung oder durch die Rückkehr von Menschen in den Arbeitsmarkt entstehen (z.B. wenn Frauen im Durchschnitt weniger lang in Elternzeit gehen).
Das der Markt alles regelt ist eine liebgewonnene aber oft realitätsferne Theorie wirtschaftsliberal denkender Menschen. Sie ignoriert zum Beispiel, dass ein 50-jähriger Langzeitarbeitsloser selten die Möglichkeit oder das Interesse hat, erfolgreich eine Ausbildung zum Pfleger oder Erzieher zu absolvieren. Alle Märkte sind notwendigerweise zu kleineren oder größeren Teilen dysfunktional, weil die handelnden Akteure entgegen der theoretischen Annahmen der Wirtschaftsforscher irrational handelnde Menschen sind.
Darum ist die steuernde Hand des Staats nötig. Er kann zum Beispiel über längere Zeiträume durch Anreize und Regulierung bestimmte Teile der Wirtschaft fördern oder einschränken, den Zufluss von Arbeitskräften beeinflussen und den Erwerb von Qualifikationen steuern. Schade halt, dass diese Rolle des Staats von weiten Teilen der FDP und CDU grundsätzlich abgelehnt wird, außer es geht um die Sicherung der Gewinne von Investoren.
Von diesen Erwägungen mal ganz abgesehen hat Frau Nahles aber natürlich auch ein persönliches Interesse, die Zahlen auf eine ihr vorteilhafte Art und Weise zu präsentieren. Damit will ich nicht unterstellen, dass sie irgendetwas falsch darstellt. Nur darauf hinweisen, dass es ihr als Ministerin durchaus zusteht, bei der Interpretation dieser Zahlen eigene Schwerpunkte zu setzen.
Was man bei Arbeitslosenzahlen beachten sollte: nicht alle dort gemeldeten Personen stehen dem Arbeitsmarkt unmittelbar und vollumfänglich zur Verfügung.
Faktoren wie Vollzeit, Teilzeit, Kinder, zu pflegende Angehörige u.a. Sind da Faktoren, die gegen die sofortige Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Stelle sprechen.
Zudem sind in den Zahlen auch rund 900.000 Langzeitarbeitslose.
Die sind teils lange aus dem Berufsleben raus, veraltete Qualifikationen, gesundheitliche Probleme, Alter, fehlende Tagesstruktur und Stabilität.
Ein Kollege sagte mal: „Viele davon willst du als Arbeitgeber nicht haben.“ Da muss erst vorher einiges passieren.
Und auch Arbeitgeber haben ja bestimmte Anforderungen an ihre künftigen Mitarbeiter, neben der Fachlichkeit.
Neue Qualifikation, zum Beispiel durch Umschulung? Geht, dauert aber.
Entweder aus gesundheitlichen Gründen über die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im SGB IX.
Da kann die Antragstellung bis zur Bewilligung laut SGB IX bis zu 9 Wichen dauern (ich kenne viele Fälle wo es auch 1-2 Jahre gedauert hat), und dann kommt eine Umschulung erst noch oben drauf. Wenn überhaupt bewilligt wird.
Oder über die Förderung der beruflichen Weiterbildung nach SGB III, dem Bildungsgutschein. Den kriegt man ggf. sofort. Wenn die Mittel da sind.
Eine Umschulung ist dann eine auf in der Regel auf 2/3 der regulären Ausbildungszeit verkürzte Ausbildung mit anerkanntem Abschluss.
Die muss man dann durchhalten und den Abschluss machen. Dauert mind. 24 Monate.
Also so einfach und gradlinig sind die Wege aus der Arbeitslosigkeit nicht.
Leider.
Ich finde auch, die Aussage (edit Mod.) „es werden an allen Ecken Leute gesucht“ ist damit nicht mehr haltbar. Also nicht, wenn man es verallgemeinert und nicht auf spezifische Berufe einschränkt.
Interessant, ich glaube um den Arbeitsmarkt und die Zahl 600.000 ging es im folgenden Podcast auch. Allerdings ging es dort um 600.000 neue Arbeitslose, wenn ich mich richtig erinnere.
Jetzt bräuchte es eigentlich antizyklische Investitionen des Staates um Planungssicherheit für die Unternehmen zu schaffen, mehr Sozialhilfe um die Nachfrage zu steigern und somit die Konjunktur anzukurbeln und mehr öffentliche Investitionen, um die Auftragsbücher der Unternehmen zu füllen.
Dass die EZB mit Anhebung des Leitzinses auf die höheren Preise reagierte ist tragisch. Stattdessen hätte sie erkennen müssen, dass es sich „nur“ um einen Preisschock handelte. Durch höhere Zinsen wird das Geld lieber morgen als heute ausgegeben. Folglich schwache Konjunktur, weniger Nachfrage, weniger offene Stellen und mehr Arbeitslose.
Entwicklung des Zinssatzes der Europäischen Zentralbank für das Hauptrefinanzierungsgeschäft von 1999 bis 2024 (Stand: Oktober 2024)
!! Vorsicht X-Achse: Erster Datenpunkt 2016. Danach 2022-2024 !!
Die gemeldeten Stellen entsprechen aber nicht unbedingt der Anzahl der offenen Stellen. Viele Arbeitgeber melden die offenen Stellen nicht mehr beim Arbeitsamt weil man zu oft feststellen musste, dass Anforderungsprofil und Bewerberprofil nicht gepasst haben.
Auch bei den Arbeitslosen ist nicht jeder wirklich arbeitslos. Manche haben bereits eine neue Stelle, melden sich aber nach Studium, Ausbildung oder Ende eines befristeten Vertrags arbeitslos weil es eine Lücke gibt und in der nimmt man natürlich gerne Geld aus Arbeitslosenversicherung und co. in Anspruch.
Somit gibt es anders als hier in den ersten Posts suggeriert nicht nur Faktoren die die tatsächliche Zahl offener Stellen reduziert, sondern auch solche die die tatsächliche Zahl der Stellen wieder wachsen lässt und die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen reduziert.
Wenn man dann noch die unterschiedlichen Qualifikationen mit berücksichtigt, dann wird deutlich, dass man aus dem einfachen gegenüberstellen dieser beiden Zahlen kaum etwas ableiten kann.
Danke für all eure Antworten.
Mir sind drei Dinge wichtig bei dem Hintergrund der Zahlen.
Es gibt keinen allgemeinen Fachkräftemangel, aber einen Berufspezifischen. Dieser scheint sich immer weiter auszudehnen, wenn ich mir die Anzeigen auf StepStone und ähnlichen Protalen ansehe. (Elektriker, Ingenieure, Erzieher uvm. sind sehr gesucht). Hier würde mich die Statistik der 600 000 offenen Stellen interessieren. Wenn dieser spezifische Mangel aus dieser Statistik folgt, dann müssten eigentlich Konsequenzen für die Weiterbildung darauf abgeleitet werden.
600 000 offene Stellen und wenn es nur 400 000 sind, wenn nur 50% davon besetzt werden würden, würde das die Sozialkassen massiv entlasten.
Die oft erwähnten „nicht Arbeitsfähigen“ Personen, müssten doch eigentlich aus dieser Statistik herausgelöst werden, denn diese stehen dem Arbeitsmarkt eigentlich nicht zur Verfügung. Polemisch gesprochen, müssten dann auch Mütter nach dem Mutterschutz ebenfalls in der Statistik aufgenommen werden, weil diese ebenfalls dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. (Ich hätte auch die Mann der Millonärenin aufführen können. Ich glaube ihr versteht meinen Punkt).
Tatsächlich sind es wie gesagt noch mehr Stellen, weil viele ihre Stellen gar nicht mehr ans Arbeitsamt melden.
Ich kenne z.B. eine kleine Dreherei, die haben quasi bis auf 2 langjährige Mitarbeiter und die Familie selbst nur noch Bulgaren, weil es keine Bewerber gibt. Also nicht, dass die Leute dort nicht arbeiten weil das Gehalt zu niedrig wäre, sondern sie bewerben sich erst gar nicht weil die größeren Firmen in der Umgebung attraktiver sind/erscheinen.
Bei uns (auch kleine Firma) gab es zuletzt auf eine Bürostelle für Teilzeit nur eine einzige Bewerbung, auf Elektriker und Industriemechaniker zusammen nur eine und das war jemand der sich aus dem sicheren Job heraus nach Alternativen umgesehen hat aber ohnehin nur bedingt Wechselwillig war.
Viele Firmen melden daher freie Stellen gar nicht mehr sondern versuchen es mit Prämien für Anwerbungen und auf Social Media.
Ich habe auch etliche Kunden die weiter automatisieren weil sie die Stellen nicht besetzen können und das die einzige Alternative zu abwandern ist.
Grundsätzlich ja. Fachkräftemangel gibt es definitiv nicht in allen Berufen. Ob Ingenieure aktuell wirklich so gefragt sind, wage ich etwas zu bezweifeln. Große Teile der Automobilindustrie und deren Zulieferer, sowie Hersteller von z.B. Haushaltselektronik haben quasi seit Jahren nahezu einen Einstellungsstop.
Man müsste eigentlich innerhalb der Industrie- und Ingenieursjobs auch nochmal genauer hineinschauen, in welchen Subbranchen aktuell gesucht wird, und wo nicht.
Wobei auch da differenziert werden muss. Stellen nachbesetzen ist in vielen Firmen dann auf Antrag doch wieder möglich und viele Stellen werden auch branchenfremd besetzt.
Da projektieren dann Maschinenbauingenieure Stromtrassen. Erfahrung im technischen Projektgeschäft langt da als Referenz.
Zumindest bekomme ich noch nicht mit, dass Ingenieure die halbwegs offen sind Probleme hätten Jobs zu bekommen. Mag aber sein, dass die Zeit wo man sich Ort und Arbeitgeber aussuchen konnte vorbei ist.
Man darf aber halt nicht vergessen, dass viele auch in Rente gehen.