Kontaktverfolgung, Contact Tracing

„ Das Land diskutiert gerade vor allem über die Impfungen, die die Pandemie endgültig beenden sollen, und über die Frage, ob der Lockdown gelockert oder verlängert werden muss. Eher selten geht es um die Kontaktnachverfolgung. Meistens wird sie indirekt erwähnt, als Begründung für den Lockdown und im Zusammenhang mit der Zielmarke: Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 50, so heißt es, könnten die Gesundheitsämter die Kontakte wieder nachverfolgen. Die 50er-Inzidenz ist die Karotte, die seit Wochen vor der Nase der Bevölkerung baumelt. “ schreibt die Süddeutsche heute im Münchner Teil über die Kontaktverfolgung in München (interessanter Artikel)

Und richtig: Eine effektive und effiziente Kontaktverfolgung bleibt auch noch bis wenigstens im Herbst, wahrscheinlich noch viel länger, extrem essentiell, um die Infektionsrate niedrig zu halten.

Trotzdem finde ich wenig und meist nur anekdotisches darüber, wie wir in Deutschland bei der Kontaktverfolgung aufgestellt sind. Sind wir hier „typisch deutsch“ hervorragend organisiert? Oder sind wir, „typisch deutsche Verwaltung“, völlig antiquiert und damit so ineffizient, dass wir gar nicht mehr effektiv sind? Wie funktioniert die Durchsetzung und Überwachung von Quarantäne und Tests der Kontaktpersonen? Ist das eher von Repressionen oder von Anreizen und Unterstützung geprägt? Wie konsistent und übereinstimmend mit dem aktuellen, wissenschaftlichen Kenntnisstand des RKIs sind die Auskünfte und „erlassenen“ Maßnahmen der Gesundheitsämter?

Im Januar nutzten nur 111 von 375 Gesundheitsämter die Kontaktverfolgungssoftware Sormas und der Landkreistag lehnt die von Bund und Länder geplante, flächendeckende Einführung ab mit Verweis auf die Inkompatibilität mit den existierenden Insellösungen (ich fürchte: Bastellösung auf Basis von Excel o.ä.); ich nehme an, wegen der damit verbundenen Problemen bei einer Datenmigration.

Gibt es eine gute Recherche, wie (gut) die Kontaktverfolgung in den deutschen Gesundheitsämtern wirklich ist? Wenn nein, dann wäre jetzt eine hohe Zeit dafür, denn wir werden sie noch länger brauchen …

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Ich finde, es wird eher zu viel über Kontaktnachverfolgung geredet. Denn Kontaktnachverfolgung ist bei diesem Virus nur gering bis gar nicht möglich. Das ist nicht nur ein Gefühl von mir, sondern ich kann dies auch mit empirischen Daten unterlegen:

(I) Hohe Dunkelziffer: Laut Schätzungen von Herrn Drosten und verschiedener Studien ist die Dunkelziffer, also die Zahl der nicht erkannten Infizierten 2 bis 6 mal höher, als die von den Gesundheitsämtern gemeldeten Inzidenzen (1). Diese asymptomatischen Fälle können sehr schwer nachverfolgt werden, weil sie selbst meist nicht wissen überhaupt infiziert zu sein.

(II) Präsymptomatische Übertragung Es gibt einige Studien z.B. (2) die schätzen, das knapp 50% der Sars-CoV-2 -Übertragungen präsymptomatisch stattfinden, also bevor infizierte Menschen überhaupt Symptome haben.

(III) Integration von I und II Punkt I und II zusammengefasst bedeutet, dass selbst bei niedriger Inzidenz und bestmöglich ausgestatten Gesundheitsämtern, nur zwischen 5-25 % aller stattgefunden Infektionen überhaupt nachverfolgbar sind. Das dieser Anteil an überhaupt nachverfolgbarer Fälle so klein ist, legt auch folgende Studie aus dem JAMA dar (3). In der Studie wurde die Kontaktnachverfolgung in San Francisco wissenschaftlich begleitet, im Zeitraum von April bis Juni 2020. Die Fallzahlen in diesem Zeitraum lagen in San Francisco durchschnittlich bei etwa 45/100.000/Woche im genannten Zeitraum eher ansteigend, mit einem r-Wert von dementsprechend größer 1 (4). In der Studie wurden 791 Corona-Indexfälle von den Gesundheitsämtern befragt, diese Indexfälle gaben insgesamt 1214 nahe Kontakte an und es konnten nur 72 neue Corona Fälle (9%) nachverfolgt und identifiziert werden. Doch die Fallzahlen waren wöchentlich in der Tendenz eher steigen, also gab es tatsächlich sehr viel mehr Infektionen als vom Gesundheitsamt identifiziert. Das belegt meine These, dass selbst in einer Zeit mit geringer Inzidenz die Kontaktnachverfolgung wenig bringt, weil auch bei geringer Inzidenz überhaupt nur ein kleiner Anteil überhaupt nachverfolgbar ist.

Und nicht nur Studien zeigen das sondern mittlerweile auch der RKI Lagebericht. Denn auch im Sommer, wo es einstellige Inzidenzen gab, waren zwei drittel der Infektionen keinen Infektionsgeschehen zuordenbar, das heisst auch nicht nachverfolgbar(5) - siehe grauer Bereich der Balken in der Grafik.

Literatur:
(1)Dorsten; C. (2020) Skript zum Podcast Coronavirus Update, S.11https://www.ndr.de/nachrichten/info/coronaskript252.pdf

(2) Tindale, L. C., Stockdale, J. E., Coombe, M., Garlock, E. S., Lau, W. Y. V., Saraswat, M., … & Colijn, C. (2020). Evidence for transmission of COVID-19 prior to symptom onset. Elife, 9, e57149. DOI: 10.7554/eLife.57149

(3) Sachdev, D. D., Brosnan, H. K., Reid, M. J., Kirian, M., Cohen, S. E., Nguyen, T. Q., & Scheer, S. (2020). Outcomes of Contact Tracing in San Francisco, California—Test and Trace During Shelter-in-Place. JAMA internal medicine. doi:10.1001/jamainternmed.2020.5670
(4)https://coronalevel.com/.../Uni.../California/San_Francisco/…](https://coronalevel.com/.../Uni.../California/San_Francisco/
(5)RKI Lagebericht vom 02.02.2021, S. 11 https://rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Feb_2021/2021-02-02-de.pdf?__blob=publicationFile](https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Feb_2021/2021-02-02-de.pdf?__blob=publicationFile

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Hallo Ernst,

vielen Dank für diesen sehr eindrucksvoll zusammengetragenen Beitrag! Der Frage, ob man die Kontakte überhaupt effektiv nachverfolgen kann, bin ich - zugegeben Maßen - noch überhaupt nicht nachgegangen, sondern habe sie immer als gegeben vorausgesetzt.

Aber, ich möchte trotzdem nochmal in Fragen stellen, dass es nicht effektiv möglich ist, Kontakte von Infizieren nachzuverfolgen.

Hypothese 1: Nur weil das unsere z.T. wirklich ineffizient ausgestatteten kommunalen Behörden nicht können, heißt das ja nicht, das es nicht möglich wäre. Wenn man z.B. weiß, wie wenig die Behörden für Durchsetzung von Quarantäne sorgen (können), wundert sich über überhaupt nichts mehr. Unzählige haarsträubende anekdotische Berichte über die Nachverfolgung, Verhängung von Quarantäne-Maßnahmen, Briefe, die Tage nach dem Ende der Quarantäne ankommen (und das war im Sommer!) und unkooperativen Verhalten spricht dafür, dass wir es vielfach noch gar nicht richtig versucht haben.

Leider nutzen wir die technischen Möglichkeiten nicht.

Ich z.B. wäre gern bereit, auf meinem Smartphone eine Trackingfunktion zu aktivieren, mit der (ausschließlich auf meinem Handy) getrackt wird, wo ich mich in den letzten 14 Tagen aufgehalten habe. Diese Historie würde ich, freiwillig, im Fall eines positiven Tests, z.B. dem Gesundheitsamt aushändigen (oder selbst verwenden als wichtige Gedankenstütze für meine Aussage gegenüber dem Gesundheitsamt).

2/3 der Gesundheitsämter sind nicht mit effektiven IT Werkzeugen ausgestattet und wehren sich in der aktuelle Überlastungssituation gegen einen zeitraubenden Wechsel von ihre selbstgebastelten Excel- oder Papierlösungen auf ein solches Werkzeug.

Eine Gesundheitsämterübergreifende digitale Zusammenarbeit findet m.W. nicht statt.

Wer weiß, wie kommunale Behörden, insbesondere die zusammengesparten Gesundheitsbehörden mit Werkzeugen und Personal ausgestattet sind, wundert sich über die von Dir genannten Zahlen überhaupt nicht. Das ist allerdings keineswegs in Stein gemeißelt. Angesichts der immensen Ausgaben für die darbende Wirtschaft wäre eine massive Investition in diesem Bereich sehr ökonomisch, wenn - wie von mir postuliert - es wesentlich besser ginge.

Hypothese 2: Selbst wenn aufgrund von Dunkelziffer und Ineffizienz die Nachverfolgung nicht vollständig geling, heißt das ja nicht, dass man nicht dennoch dienVerbreitung des Virus bei einer niedrigen Inzidenz damit wenigstens bremsen könnte. Dein oberer Wert 25% scheint mir schon recht vielversprechend zu sein!

Auch wenn das anekdotisch ist und keine wissenschaftliche Studie: In der Süddeutschen vom vergangenen Freitag ist (im Münchner Teil) ein ausführlicher Artikel über die Kontaktverfolgung der Stadt München: Dort sind aktuell 500 Kontaktverfolger tätig, ausgestattet mit Call-Center-Technik (die auch Rückrufe ermöglicht - hört, hört) und Sormas. Bei einer Inzidenz von unter 100 schafft ein Kontaktverfolger 3 Anrufe pro Stunde. Also machen die 60.000 Anrufe in der Woche. Ich kann mir nicht vorstellen, das das so gar nix bringt …

Das erinnert mich an:

https://www.zdf.de/comedy/die-anstalt/die-anstalt-clip-4-184.html

Dazu kommt noch,

  • wer Vorgaben verletzt hat wird das dann kaum beim Gesundheitsamt zugeben.
  • eine falsch verstandene Solidarität die es verhindert Kontakte anzugeben.

und ab 23:30

https://www.ardmediathek.de/daserste/video/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2NvbWVkeVNhdGlyZS9iZDRmOTQ5Ni1mMzlhLTQwNTUtOTQwMy0xYjFlYzk4N2ZjNWI/

Lieber TRq,

da gebe ich Ihnen vollkommen Recht! Jeder Kontakt der nachverfolgt werden kann, ist es Wert, denn so können Infektionsketten gestoppt werden. Ich denke auch, dass eine effektivere Kontaktnachverfolgung möglich ist, indem Menschen zB bei der Corona App freiwillig anklicken können, ob und wenn ja wieviele Daten sie zusätzlich preisgeben.

Mit meinem Beitrag, wollte ich nur theoretisch anhand von empirischen Studien herleiten, dass eine KN bei SARS2 sehr schwer ist. Praktisch sieht man das ja auch an der Grafik vom RKI, wo auch im Sommer 2/3 nicht nachverfolgbar waren. Also meines Erachtens ist es falsch, sich auf die Kontaktnachverfolgung zu versteifen und zu sagen: Wir brauchen eine Indidenz von 35, damit wir nachverfolgen können.

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