Ist die Erststimme bei Wahlen eigentlich demokratisch?

Da derzeit die Wahlrechtsreform auf Bundesebene diskutiert wird und vor kurzem auch die Berliner LTW stattfand und interessante Erststimmenergebnisse zeigte, habe ich mir ein paar grundsätzliche Fragen zur Erststimme gestellt :thinking:

In der letzten Folge (LdN326) wurde der „schwarze Speckgürtel“ von Berlin gewählt. Dabei holten die Grünen die Direktmandate der zentralen Bezirke und die CDU die der Randgebiete. Meist knapp 30% um einen Wahlkreis zu gewinnen. Dadurch zogen also einige Kandidat:innen, wie schon in der Lage festgestellt, mit über 70% Gegenstimmen in den Landtag ein. Dies ist besonders in den von der CDU gewonnenen Wahlkreisen interessant, da sich SPD und Grüne inhaltlich ja relativ nahe sind (zumindest verglichen mit anderen Parteien). Rechnet man die Stimmen von SPD und Grüne zusammen, würden sie die meisten Wahlkreise gewinnen, zum Teil sogar mit absoluter Mehrheit. Und das finde ich noch nicht einmal so weit hergeholt. Meiner Ansicht nach würden vermutlich viele SPD- und Grünen-Wähler:innen eher der jeweils anderen Partei ihre Stimme geben würden als der CDU, aufgrund ihrer inhaltlichen Parallelen.

Eine Stichwahl oder eine Alternativstimme (z.B.), könnte Klarheit darüber schaffen, was die Wähler:innen wirklich wollen. Stattdessen versuchen aber bestimmt viele strategisch zu wählen, wodurch das Ergebnis weiter verzerrt wird. Das Hauptproblem dabei, je breiter die Parteienlandschaft wird, desto geringer muss eine solche relative Mehrheit ausfallen, um einen Wahlkreis zu gewinnen.

Dazu ein kleines Gedankenexperiment:
Angenommen es gibt 4 Parteien, darunter eine politisch rechts (R), eine mittig (M) und zwei links (L1, L2). Dabei grenzen sich Rechts, Mitte und Links stark voneinander ab, während sich die linken Parteien in vielen Punkten einig sind. Wenn nun gewählt wird, gewinnt bspw. R mit 30% der Stimmen. M erhält 15% der Stimmen. L1, L2 teilen sich die übrigen 55% (z.B. 27 und 28%). Nach heutigem Wahlrecht würde R mit 30% das Direktmandat gewinnen. Hätten sich L1 und L2 stattdessen für einen gemeinsamen Kandidaten entschieden, hätten sie mit einer absoluten Mehrheit von 55% eindeutig gewinnen können.

Natürlich wäre der Aufwand einer Stichwahl enorm, wenn ein Großteil der Wahlkreise eine Stichwahl organisieren müsste, und es dauert noch länger von der Wahl bis zum endgültigen Ergebnis. Aber vielleicht gibt es ja auch andere Möglichkeiten das umzusetzen.

Würde mich mal interessieren, ob es bereits Bestrebungen dazu gibt, oder Begründungen, warum es nicht getan wird…

Meiner Meinung nach wäre es am besten gewesen, das Vorgehen mit Überhang und Ausgleichsmandaten lassen sollen wir bisher, aber das Direktmandat nur dann zu vergeben, wenn das Kandidaty > 50% der abgegebenen Erststimmen erhalten hätte. Alles andere scheint mir unlogisch. Durch dieses Verfahren gäbe es so gut wie keine Überhang oder Ausgleichsmandate.

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Auf Kommunalebene wird eben aus diesem Grund oft ein gemeinsamer Kandidat von L1 und L2 gekürt. Klar könnte eine Stichwahl helfen, aber der Aufwand ist hoch und das Problem ließe sich effizienter lösen wenn Parteien im Vorfeld das Ego wegstecken und sich untereinander abstimmen würden.

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Was du beschreibst, nennt sich Spoilereffekt und ist ein weithin bekannter Nachteil des Systems der „einfachen Mehrheit“, und dafür verantwortlich, dass es bspw. in den USA nur zwei relevante Parteien gibt und andere Parteien nie eine Chance bekommen.

Dass das in Deutschland keine derartige Folge hat, liegt daran, dass es für die Machtverteilung vollkommen irrelevant ist. Durch die Verrechnung mit den Listenmandaten der jeweiligen Parteien, treten die Direktkandidaten genau genommen nur auf den ersten Blick gegen die Kandidaten der anderen Parteien an, aber konkurrieren in Wahrheit mit ihren eigenen Parteifreunden auf der Liste, die sich im Erfolgsfall verdrängen.

Letztendlich ist das ein völlig absurdes System und existiert nur noch wegen „war schon immer so“ und weil es die Parteien in ihren Hochburgen mit „sicheren“ Mandaten versorgt, wo oft besonders korrupte Zeitgenossen die Abgeordnetenposten besetzen, die vom Wahlvolk faktisch nicht abgewählt werden können.

Ich bin schon lange der Ansicht, man sollte diesen Wahlkreisquatsch abschaffen, und stattdessen direkte Personenstimmen auf den Listen einführen.

Hab ich andernorts schon ein paar Mal ausgeführt:

Stichwahlen für die Wahlkreise einzuführen, würde jedenfalls nicht nur alles noch komplizierter machen, sondern hätte so gravierende Nachteile, dass so eine Lösung im Grunde ausgeschlossen sein muss:

  1. Da für die Regierungsbildung und die Mehrheitsverhältnisse im Parlament völlig irrelevant ist, wer die Wahlkreise gewinnt – siehe oben – würde die Wahlbeteiligung für die Stichwahlen ins Bodenlose fallen.
  2. Da das Ergebnis der Hauptstimme ja schon bekannt wäre, könnte das Einfluss auf die Wahl nehmen. Bspw. wüssten dann die Anhänger der einen Partei, dass ihr Kandidat sowieso über die Landesliste einzieht, und könnten ihre Stimme taktisch auf irgendwelche anderen Kandidaten verteilen o.ä.
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Im aktuellen Bundestag hat nur ein Abgeordneter mehr als 50% der Erststimmen erhalten (Johann Saathoff, SPD, Wahlkreis Aurich-Emden).

Bei uns in Aachen (ich glaub das ist Landesrecht also in ganz NRW (?)) gehen die BürgermeisterInnen-Kandidaten in eine Stichwahl, was auch fast immer passiert. Finde ich nicht verkehrt, aber auch das muss das Problem keineswegs auflösen. Das Argument, dass der Aufwand zu hoch ist, würde ich eher nicht gelten lassen. Wenn das wirklich was bringen würde, dann sollte es uns das für eine funktionierende Demokratie wert sein.

Edit: Wahlbeteiligung bei uns beim letzten Mal übrigens 53% und 42%, die fällt also wie zu erwarten war, aber „ins Bodenlose“ stimmt wohl nicht.

Hätte das nicht den Nachteil, dass Großstädter mit großem Einzugsbereich wesentlich sicherer gewählt werden als Abgeordnete aus dem ländlichen Raum? So ganz überzeugt mich deine Idee noch nicht.

Stimmt, das ist gut vergleichbar mit dem Wahlmänner-System in den USA.

Ich finde abschaffen sollte man die Direktmandate aber nicht. Meiner Meinung nach ist es schon wichtig, dass jeder Wahlkreis auch im Parlament vertreten ist und einen eigenen Abgeordneten hat, der nicht nur die Parteiinteressen vertritt, sondern auch die des Wahlkreises.

Dann sollte der Direktmandat aber auch jemand mit einer echten Mehrheit unter den Wähler:innen bekommen. Um auf mein Beispiel zurückzukommen, würde das Mandat im Falle einer Stichwahl vermutlich eher an eine der linken Parteien gehen anstatt an die Rechte, trotz ihrer relativen Mehrheit bei der ersten Wahl.

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Warum sollten Sie? In Großstädten gibt es vielleicht mehr Kandidaten, auf die sich die Stimmen dann verteilen. Einzelne Kandidaten könnten sich sogar extra damit profilieren, die Interessen eines bestimmten ländlichen Raums zu vertreten und damit extra Stimmen einsammeln.

Und im übrigen ist es ja auch jetzt nicht so, dass Leute nur dort kandidieren (dürfen), wo sie her stammen oder verwurzelt sind. So ist bspw. Olaf Scholz, von dem alle denken er würde aus Hamburg stammen, derzeit direkt gewählter Bundestagsabgeordneter des Wahlkreises Potsdam – Potsdam-Mittelmark II – Teltow-Fläming II. Keine Ahnung ob das jetzt schon als ländlicher Raum gilt. ¯\_(ツ)_/¯

Vielleicht, vielleicht auch nicht. Das hängt u.a. von den Zweitstimmenergebnissen ab. Wenn der 28%-Kandidat von L2 bspw. nach Zweitstimmen sowieso bereits sicher im Bundestag sitzt, hat er im Grunde gar kein Interesse mehr, noch ein paar Wochen weiter Wahlkampf zu machen, und seine Wähler haben kein Interesse mehr zur Stichwahl zu gehen.

Oder nimm mal eine andere Konstellation, in der dein L2-Kandidat die erste Runde mit satten 38% gewonnen hat vor R mit 30%, und normalerweise würde er mit hypothetischen 17% von Kandidat L1 locker auf deine 55% kommen, aber weil er schon wegen der Zweitstimmen sicher im Bundestag sitzt, gehen seine Anhänger großteils nicht mehr zur Stichwahl und R gewinnt die dann auf einmal bei deutlich niedrigerer Wahlbeteiligung.

Oder L2 ist wegen Zweitstimmen bereits sicher im Bundestag, aber auf der Landesliste von R steht ein besonders unangenehmer persönlicher Gegner R* von L2 genau in dem Bereich, dass es abhängig von den Stichwahlen unklar ist, ob sein Listenplatz noch zieht. Also ruft L2 alle seine Anhänger auf, in der Stichwahl bitte seinen Wahlkreiskonkurrenten R zu wählen, damit dieser das Mandat bekommt und nicht R*. R* findet das natürlich überhaupt nicht witzig und ruft dann vielleicht mit Unterstützung des Landesvorstands alle R-Wähler auf, bei der Stichwahl nicht R zu wählen, sondern L2. Da könnten derart absurde Konstellationen herauskommen, dass sich am Ende alle zum guten, alten negativen Stimmgewicht zurück sehnen.^^

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Kann man auch genau anders herum sehen. Wahlkreis Interessen zu vertreten ist eine Steilvorlage für Korruption.

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Genau. Heute können bei 5 Kandidaten 4 19,75% der Stimmen bekommen und eines 21% und letzteres gilt dann als Sieger der Herzen im Wahlkreis. Absurd. Solange mehr Leute gegen ein Kandidaty gestimmt haben, gibt es m.E. keinen Grund für ein Direktmandat.

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