Ist das Bundesverfassungsgericht eine Blackbox?

Wenn ich mir das amerikansiche Supreme Court anschaue und wissen will, wie es entscheidet, muss ich nur 9 Namen in der richtigen Reihnfolge von links nach rechts aufschreiben, an der richtigen Stelle orthogonal eine Trennlinie ziehen und zählen, wie viele Namen links und rechts von dieser Linie zählen und weiß, wie das Gericht urteilen wird. Natürlich ist das jetzt stark vereinfacht, aber effektiv kennt man bei den meisten Fällen vorher die Positionen jeder Richterin und jedes Richters und es entscheiden 2-3 Richter:innen in der „Mittte“ (der Mitte des Gerichtes, nicht der Mitte des Gesellschaft), wie das Urteil ausfällt.

Dagegen ist das Bundesverfassungsgericht eine Blackbox (vieleicht ist das Bild einer scharlochroten Redbox passender). Auf der einen Seite gehen Argumente hinein, auf der anderen Seite kommt ein (faires) Urteil heraus. Niemand weißt, welcher Richter, welche Richterin welche Position vertritt. Niemand weiß, ob der Beschluss mit einer Stimme Mehrheit oder im Konsens getroffen wurde. Mein Themenwunsch wäre, soetwas mal außeinanderzufuddeln und zu analysieren, welche Positionen im Verfassungsgericht vertreten sind und wie sich das auf richtungsweisende Entscheidungen, wie zum Beispiel einem möglichen Verfahren zum Ampel-Vorschlag zum Wahlrecht, auswirkt. Ich befürchte nur, dass es tatsächlich niemanden gibt, der dazu in der Lage wäre, da die Richter:innen bezüglich Ihrer eigenen Meinungen in der Öffentlichkeit sehr zurückhaltend sind. Es gibt keine (oder nur sehr selten?) Minderheitsvoten, die Richter:innen verschwinden in der Institution.

Auf der anderen Seite frage ich mich: Ist dies nicht vieleicht auch ein entscheidender Faktor, der zu dem starken Vertrauen der Bevölkerung in die Institution des Bundesverfassungsgerichts führt? Der vermittelte Eindruck ist eindeutig: Es entscheiden nicht die Richter:innen, es entscheiden die Argumente. Der Supreme Court wird dagegen als stark politisiertes Gremium aufgefasst, in dem politische Grundüberzeugungen über die eigentliche Verfassung gestellt wird, bzw. die Verfassung bewusst so ausgelegt wird, dass sie die eigenen Positionen unterstützt. Das ist definitiv nicht gut für das Vertrauen der Bevölkerung in die Institution.

Daher komme ich eher zu einer anderen Frage, die ich vorschlagen möchte: Braucht das Bundesverfassungsgericht mehr Transparenz oder wäre diese sogar schädlich?

Wenn es wirklich extrem abweichende Meinungen gibt, gibt es ja die Möglichkeit eines Sondervotums. Was es IMO auch Schonmal gab.

„Die Mitglieder des Senats, die mit einer Entscheidung der Mehrheit nicht einverstanden sind, können ihre abweichende Meinung in einem Sondervotum darstellen. Es wird namentlich gekennzeichnet und der Entscheidung angefügt.“
https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Der-Weg-zur-Entscheidung/der-weg-zur-entscheidung_node.html

Aber ansonsten hast du recht. Das kommt wahrscheinlich nur zu Stande wen die Rechtsmeinungen der Überstimmten extrem abweichen. Wenn sich Richter den Aufwand nicht machen, bekommt man da nicht viel mit.

edit: Bei Wikipedia gibts eine Liste mit allen Sondervoten:

Exakt.

Wir haben das Ideal des „neutralen“ Richters - auch wenn uns klar ist, dass kein Richter wahrhaft neutral sein kann (schlicht, weil Richter Menschen sind…). Aber unser Ideal ist, dass ein Richter stets versucht, rechtsdogmatisch einwandfrei zu argumentieren, das Ziel am Ende der Argumentation also ein rechtliches Gesamtgebilde ist, welches universell auf alle Fälle anwendbar ist und die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen fair zu einem Ausgleich bringt. Das ist auch der Grund für das richterliche Mäßigungsgebot aus § 39 DRiG:

Wir wollen daher den Verdacht, dass ein Richter parteiisch ist, klar vermeiden, sowohl parteipolitisch als auch gesellschaftspolitisch.

Die USA haben das Ideal des politischen Richters. Hier werden die Verfassungsrichter gezielt wegen ihrer politischen Positionen ausgesucht und die Entscheidungen des Supreme Courts sind eine eher politische als rechtsdogmatische Entscheidung. Das liegt schon daran, dass das amerikanische „Case Law“ nicht universell-dogmatisch, sondern auf der Basis von Einzelfällen aufgebaut ist.

Das kommt darauf an, was du unter „mehr Transparenz“ verstehst. Ich hätte nichts gegen mehr Transparenz im Sinne einer Live-Berichterstattung über alle Anhörungen… wenn es aber um Transparenz wie in den USA geht, daher: Jeder Richter muss sich bei jedem Urteil öffentlich einsehbar im Urteil positionieren, kann ich mir schon vorstellen, dass es eher negative Auswirkungen haben könnte, weil die Richter dann plötzlich ihre Entscheidungen möglicherweise mehr von der öffentlichen Wahrnehmung abhängig machen würden. Ähnlich wie in den USA eben, wo ein konservativer Richter unter starken Druck gerät, wenn er in einem Fall mal nicht konservativ urteilt und dafür dann in konservativen Medien zerrissen wird…

Die Praxis im BVerfG ist - und das hört man immer wieder - so, dass ein Richter, der in seiner Argumentation klar politisch agiert, von den Kollegen nicht ernst genommen wird. Die Richter sind daher sehr bemüht, in den Diskussionen „professionell“ zu agieren, daher wirklich zu versuchen, nicht den Eindruck zu erwecken, sie seien hier politisch tätig. Und so lange das funktioniert halte ich das auch für schutzwürdig.

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Ich glaube tatsächlich, dass mehr Transparenz eher hinderlich wäre. Vermutlich würde sich die mediale Aufmerksamkeit dann eher darauf richten, wie einzelne Richter sich verhalten anstatt die Urteilsbegründung zu analysieren. Auch das von @Daniel_K angebrachte Argument, dass Richter sich genötigt fühlen könnten eine bestimmte Haltung annehmen zu müssen halte ich für richtig und möchte es noch etwas weiter spinnen. Bei uns wurden in den letzten Jahren von rechter Seite immer wieder Politiker bedroht weil sie eben ihren Beruf ausgeübt haben. Ich hielte es für brandgefährlich wenn Richter sich Gedanken machen müssten welche Auswirkungen ihre Urteile für sie selbst haben.

Was ich wiederum für sehr gut halte, sind die Formate um die sich Andreas Voßkuhle bemüht hat. Es gab z.B. TV Sendungen in denen Bürger zur Arbeit am BVG fragen stellen konnten. Hier wird die Arbeitsweise, wie die Richter vorgehen, gut ersichtlich.
Die Sendung ist eine Weile her u. ich kann mich nicht mehr Erinnern wo das genau war. Das Interview das Tilo Jung mit ihm geführt hat gibt es aber noch hier zum hören

Es schlägt in die selbe Kerbe und ist eine Hörempfehlung.

Abseits davon finde ich es sehr wichtig, dass die Urteile gut vermittelt werden (an der Begründung mangelt es ja nicht). Da kann das BVG selbst natürlich nicht viel machen, dass ist Aufgabe der Medien. Aber eine gute Erklärung schafft Verständniss.