Ist Behinderung in unserer Gesellschaft „schlecht“?

Bin heute über folgenden Podcast gestolpert mit einem Interview mit Aline Buschmann:

Zudem war ich heute in unserer Schwestereinrichtung im Einsatz, das Josefsheim in Bigge-Olsberg feierte 120jähriges Jubiläum (eine Einrichtung für behinderte Menschen mit WfbM, BBW, Wohneinrichtungen).
Gastredner neben Merz, Wiese u.a war unter anderm Karl-Josef Laumann.
Dieser wies darauf hin, das wir zwar formal viel positives erreicht haben für die Inklusion behinderter Menschen, aber noch vieles zu tun sein. Zum Beispiel machen wir durch mehr Bürokratie das Leben und den Alltag behinderter Menschen nicht besser oder einfacher.

Bezeichnend (hoffe ich krieg die Zahlen noch zusammen): Laut Laumann haben wir trotz Fachkräftemangel rund 56.000 arbeitslose Menschen mit Behinderung in NRW. Davon die Hälfte mit abgeschlossener Ausbildung. Hier vermutet er vorrangig Unwissenheit bei Arbeitgebern, aber auch Ablehnung wegen befürchtetem Mehraufwand oder Minderleistung.

Aline Buschmann sagt sinngemäß: Behinderte Menschen versuchen heute möglichst nicht behindert zu wirken, ansonsten werden sie diskriminiert.

Scheitert der hehre Gedanke der Inklusion an falschen Vorstellungen über behinderte Menschen?

Ist Behinderung in unserer Gesellschaft unbewusst (oder auch bewusst?) was Schlechtes?

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Ich glaube selbst körperlich oder geistig Eingeschränkte Menschen hätten lieber nicht diese Einschränkung. Die Fragestellung ist denke ich absichtlich etwas provokant gestellt. Der Punkt ist doch eher, sind wir als Gesellschaft gewillt jemandem mit einer gewissen Einschränkung in einem bestimmten Bereich eine Chance zu geben oder haben wir Vorurteile was zum Beispiel die Anzahl der Krankentage angeht. Gesetzlich ist hier zumindest mit der Regel „Bei gleicher Eignung bevorzugt…“ bereits etwas dafür getan das der erste Schritt in den Beruf etwas erleichtert wird. Zumindest in größeren Betrieben ist das denke ich auch weniger das Problem.

Zur Fragestellung. Etwas „schlechtes“? Eher nicht. Bestehen Vorurteile? Natürlich. Es gibt einfach viele Menschen die keinen oder nur wenig Kontakt zu Menschen mit Behinderung haben.

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Provokant ja…

Vor über 100 Jahten gab es Verwahranstalten und Behinderung galt als Krankheit.

Da sind wir zum Glück drüber weg.

Aber ist in den Köpfen nicht immer noch dieser erste (ungewollte, aber sozialisierte) Gedanke, das Behinderung irgendwie nicht in unsere heile Welt passt?

Woran liegt das?

Im Podcast wird Björn Höcke zitiert mit „Inklusion ist ein gescheitertes Ideologieexperiment“.

Laumann schilderte heute einen Besuch in einer DDR Anstalt, was ihm den Satz sagen ließ „Lebenswert leben mit Behinderung geht nur in Demokratien“.
Da sind wir doch offenbar schon auf einem besseren Weg.
Oder?

Wie eäre das bei einer AfD Regierung oder Bezeiligung?

Deutschland ist alles andere als barrierefrei. Ich finde das äußerst problematisch und vor allem traurig.

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Behinderung ist per Definition eine Einschränkung in den Möglichkeiten die jemand hat. Und häufig sind diese Behinderungen auch nicht komplett kompensierbar.

Gleichzeitig können wir uns als Gesellschaft und individuell überlegen, wie wir den Betroffenen das Leben einfacher machen und teilhabe ermöglichen können. Dennoch bleibt die Einschränkung.

Eine Behinderung heißt aber nicht, dass jemand zwingend leiden muss etc. Wenn es halbwegs gut läuft, kann es ihnen sogar sehr gut gehen (kannte einige Betroffene des Down-Syndroms).

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An vielen Stellen ist es gar nicht so schwer, wird aber nicht gemacht.

Laut einer Großen Anfrage der SPD im Landtag NRW sind Menschen mit Behinderung weiter stark benachteiligt.

Schüler mit Behinderung schaffen nur zu 1% das Abitur, während über alle Schüler die Quote 30% beträgt.

Zudem sei es für Menschen in einer Werkstatt für behinderte Menschen praktisch unmöglich eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bekommen.

So richtig inklusive sind wir wohl noch lange nicht

Im Schulwesen wird eine Behinderung bei Kindern definitiv oft als „etwas schlechtes“ wahrgenommen, das man unbedingt von „normalen“ Kindern und Schulen fernhalten muss. Und zwar sowohl von vielen Lehrer:innen, als auch den Eltern nicht behinderter Kinder. Verändert hat sich hier höchstens die Wahrnehmung körperlich behinderter Kinder. Beim kleinsten Anzeichen geistiger Behinderung oder sozial-emotionaler Störungen wird dagegen aussortiert – weshalb die Schülerzahlen auf den Förderschulen ja auch seit Jahren steigen, obwohl nach geltendem Recht das Gegenteil angestrebt werden sollte.

Ich weiß, dass du diesen Satz nicht böse meinst, aber das spiegelt exakt die Einstellung in der Breite der Bevölkerung wieder, die vielen Menschen mit Behinderung das Leben schwer macht. Die meisten Menschen mit Behinderung leiden nicht körperlich oder seelisch, sie bringen die selben Voraussetzungen wie andere Menschen für ein erfülltes und schönes Leben mit. Der einzige Grund, sich z.B. bei vielen Formen der Neurodiversität eine Abwesenheit der eigenen „Einschränkung“ zu wünschen ist die Art und Weise, wie die Gesellschaft darauf reagiert. Das gleiche bei vielen Formen der körperlichen Behinderung: es gibt keinen objektiven Grund, warum eine Existenz im Rollstuhl unbedingt „schlechter“ sein muss als mit funktionierenden Beinen.

Reden wir hier von körperlicher oder geistiger Behinderung? Hast du hier die Datengrundlage um sich das anzuschauen?

Die Frage bei Körperlicher ist vermutlich wie viele Fehltage z.b. diese Kinder beim Schulunterricht aufgrund ihrer Behinderung haben. Behinderung ist vielschichtig und Abitur von vielen Faktoren abhängig. Wie viele Kinder von Bürgergeldempfängern machen Abitur. Kinder mit Migrationshintergrund. Ich denke die reine Inklusion ist eher ein kleiner Faktor in dem Zusammenhang.

Wie soll das ein kleiner Faktor sein, wenn man an Förderschulen kein Abitur machen kann und der Löwenanteil der Kinder mit Behinderung weiterhin auf eine Förderschule geht?

Die Realität ist, dass wir durch die strikte Trennung der Kinder im schulischen Bereich für viele schon in extrem jungen Jahren den Rest ihres Lebens vorzeichnen (was übrigens auch jenseits der Inklusion ein Muster in der deutschen Gesellschaft ist).

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Die Inklusion ist ein zusätzlicher Faktor. Würde da gerne die Studie zu sehen um da mal näher reinzuschauen. Die Zahl am Ende sagt halt wenig aus über die Faktoren die hier alle ineinander greifen.

Ich bin zum Beispiel auch der Ansicht das in Deutschland mit individueller Förderung jedes Kind Abitur machen kann. Die Frage ist, ist das Sinn der Sache? Kann und wollen wir uns das leisten? Das eine Kind ist nicht gut in Mathe aber gut in Sprachen. Nun Wette ich, das ich jedes Kind bis zum Abitur in Mathe auf einer 4-5 halten kann so das es immer die Versetzung schafft. Das Thema ist da dann aber nicht Inklusion sondern unser komplettes Schulsystem und hier geht es dann nicht nur um Kinder mit Behinderung.

Ist Behinderung was schlechtes in unserer Gesellschaft? Nur bedingt aber unsere Gesellschaft gibt zu wenig Möglichkeiten, Menschen mit „Inselbegabungen“ ( in Ermangelung das mit kein besseres Wort einfällt) zu fördern und unser vorhandenes System ist hierfür auch nicht geeignet.

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Nein. Aber jedes Kind, das Abitur machen will sollte die Chance dazu bekommen. Wenn ich ein Kind in der ersten Klasse auf die Förderschule schicke, dann hat es die Chance dazu nicht.

Das Abitur als konkreter Schulabschluss ist für mich aber ehrlich gesagt zweitrangig. Bei Inklusion geht es für meine Begriffe in erster Linie um soziale Inklusion. Also das Recht darauf, mit anderen Kinder meines Alters zu lernen und zu leben. Wenn wir aufhören würden Kinder in Schubladen zu stecken, sondern als Individuen mit individuellen Förderbedarfen zu begreifen, die aber alle gemeinsam an den selben Schulen unterrichtet werden könnten, dann würde daraus auch automatisch mehr Bildungsgerechtigkeit im Sinne der Abschlüsse und anschließenden Lebenswegen entstehen.

Zum Thema Inklusion/Exklusion gibt es hier eine gute Info: https://www.aktion-mensch.de/inklusion/bildung/hintergrund/zahlen-daten-und-fakten/inklusionsquoten-in-deutschland

Die Exklusionsquote (also der Anteil der Schüler, die an Förderschulen unterrichtet werden) lag 2020/21 bei bundesweit 4,3%. Das ist zwar weniger als noch 2008/9 (damals 4,9%). Das ist aber der Entwicklung in einigen wenigen Bundesländern zu verdanken (vor allem in Ostdeutschland und den Stadtstaaten) und spiegelt kein gesamtdeutsches Umdenken wieder.

Weil gleichzeitig die Zahl der Schüler stark gestiegen ist, werden absolut gesehen heute sehr viel mehr Kinder an Förderschulen unterrichtet als 2008/9 bei Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention.

In meiner Antwort ging es aber explizit um die Anfrage der SPD bezüglich 1% Abitur bei Menschen mit Behinderungen. Darüber was Inklusion ist und vor allem auch soziale Inklusion brauchen wir nicht diskutieren da sind wir einer Meinung denke ich :slight_smile:

Und wenn ich das richtig sehe dann wärst du auch am ehesten dafür ein komplett anderes Schulsystem einzuführen was individuelle stärken und schwächen aller berücksichtigt. Mich hätte halt interessiert was das Problem genau ist. Eine Exclusions-Quote von 4,2% erklärt ja nur einen kleinen Teil.

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Zitat: „ Die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist nach Angaben der Landesregierung in den vergangenen vier Jahren um 6,06 Prozent auf 160.977 gestiegen. Davon wurden im vergangenen Schuljahr 69.591 Schülerinnen und Schüler an allgemeinen Schulen unterrichtet, also etwa 45 Prozent. 55 Prozent besuchen eine Förderschule. Fast jeder fünfte Schüler mit Behinderung hat die Schule ohne Abschluss verlassen. 198 Schülerinnen und Schüler haben das Abitur geschafft.“

Ein Kernproblem ist offenbar ein Mangel an Pädagogen und -innen, insbesondere Sonderpädagogik.

Sehe da aber auch zum einen die gedankliche Barriere, das Menschen mit Behinderung nicht dem klassischen Leistungsgedanken gerecht werden können, der aktuell ja wieder eingefordert wird.
Das spiegelt auch das sehr zurückhaltende Einstellungsverhalten von Arbeitgebern wieder, die bei behinderten Menschen noch viele Vorbehalte haben (weniger leistungsfähig, unkündbar, oft krank, können nicht alleine arbeiten,…). Das steckt oft noch in den Köpfen

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Das ist ein ziemlich springender Punkt.
Mein Vater war Diabetiker und damit schwerbehindert.
Alles was er vom Arbeitgeber gebraucht hätte wäre Zugang zu einem abschließbaren Kühlschrank für eine Insulinreserve.

War in den 1990ern nicht zu vermitteln und endete mit Frühverrentung nach Arbeitslosigkeit nach der Wende.

Keine Ahnung wie es heutzutage ist, aber wenn es schon an einem extra Kühlschrank (nicht besonders groß) scheitert ist das eher Unwillen von Seiten der AG als Unwissenheit.

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Auch Depression ist eine Behinderung im Alltag…