Inklusion an Schulen: Wie Kinder "behindert" gemacht werden

Hallo,

gibt es jemanden hier, der das schon selbst erlebt hat?

Klassisches Beispiel für Fehlsteuerungen im System.

Wenn Schulen zusätzliche Stellen dadurch bekommen, wenn sie einen höheren Anteil an „eingeschränkten“ Kindern unterrichten, wird ein Anreiz geschaffen, einen Förderbedarf zu konstruieren.

Einerseits macht es natürlich Sinn, Schulen mehr Stellen zu geben, wenn sie mehr „eingeschränkte“ Kinder unterrichten. Durch den zusätzlichen Anreiz, Kinder mit geistiger Behinderung zu identifizieren, kommt es zu zwei Effekten:

  1. Mehr Kinder, die tatsächlich kognitive Einschränkungen haben, werden als solche erkannt (und können entsprechend gefördert werden)
  2. Da intelligenzdiagnostische Verfahren gerade bei Kindern aber immer mit stärkeren Unsicherheiten behaftet sind als bei Erwachsenen wird es zwangsläufig auch zu Fehldiagnosen kommen, die dazu führen können, dass einem Kind wie im Beitrag gezeigt die Bildungschancen genommen werden.

Das Problem ist wie so oft, dass es keine ideale Lösung gibt. Denn die Rückkehr zum alten System führt zwar dazu, dass weniger Kinder fehldiagnostiziert werden, aber eben auch dazu, dass viele Kinder durch’s Raster fallen und deren Hilfebedarf gar nicht erkannt wird.

Die beste Lösung wäre natürlich, die diagnostischen Verfahren zu verbessern und mehrere unabhängige Tests machen zu lassen, bevor ein Kind als diagnostiziert gilt, aber gerade in Fällen, in denen die Kinder nicht kooperieren, wird das Ganze auch irgendwann schwierig.

Der grundsätzliche Ansatz, dass man Kinder a) individuell fördern und b) in die Regelschulen inkludieren will ist denke ich nicht verkehrt. Die Frage ist nur, wie man es besser machen kann, als dies bisher der Fall ist.

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Für Bayern (ausser Sonderschule) kann ich sagen:
Eine Behinderung wird nicht von einer Lehrkraft festgestellt. Eine Lehrkraft kann nur zum Besuch eines Arztes/Psychologen raten. Den Hinweis des Vorteils der zusätzlichen Stunden (nicht Stellen, so viel Stunden gibt es dafür nicht) würde also bedeuten, die Schulleitung drängt den Arzt auf eine positive Diagnose.
Zusätzlich sind die „hinzugewonnenen“ Stunden (in Bayern) auch an Förderung und Förderstunden durch Lehrkräfte geknüpft. Durch die zusätzlichen Stunden Förderung entsteht also Mehrarbeit und keine Entlastung des Lehrkörpers.
Man könnte höchstens noch mit besserem Prestige argumentieren, der Sachaufwandsträger entscheidet aber fast immer nach Schülerzahlen. Ein Bürgermeister der einmal alle fünf Jahre ein gutes Wort beim Sachaufwandsträger einlegt, dürfte größere Auswirkungen auf die monetären Entscheidungen haben.

Ich habe mir den Beitrag angesehen und bin mehr als erstaunt.

Ich kenne viele Fälle von föderbedürftigen Kindern die keinen Förderstatus haben und einige die die Förderschule Richtung Regelschule verlassen haben . Das ist nicht besonders ungewöhnlich.

Selbstverständlich gibt es Fehldiagnosen. Das kann nicht anders sein , das bedeutet jedoch nicht dass die Kinder unbedingt schlecht beschult werden . Ich kenne ein Kind das eine Intelligenzminderung diagnostiziert hat ( ist jedoch eine Fehldiagnose) die nun die Grundschule mit Realschulempfehlung verlässt.
Sie hat durchaus spezifische Unterstützung erhalten ist aber zielgleich unterrichtet worden.

Ich kenne auch ein Kind mit gesicherter Diagnose ASS bei dem die Schule nicht nachvollziehbarerweise keinen Förderbedarf entdeckt hat.

Es gibt ohnehin Sonderpädagog*innen Mangel. Und so oder so : in NRW bekommt eine Schule nicht zwingend mehr Stellen für mehr Kinder sondern die Kinder müssen dann zusammen rücken .

Ich glaube ganz sicher dass es tragische Fälle gibt und die sogenannte Inklusion ist eine Farce.
Der Monitor Beitrag überzeugt mich aber nicht . Da werden Sachverhalte als allgemeingültig dargestellt die nicht allgemeingültig sind.
Es wurde auch das Bundesland nicht benannt. Schade.

Der Wechsel von einer Förderschule auf eine Regelschule ist sehr wohl ungewöhnlich (liegt im niedrigen einstelligen Bereich). Ein Phänomen ist, dass wenn ein Kind auf eine Förderschule geschickt wird, sich dieser Wechsel in jedem Fall im Nachhinein schöngeredet wird; wenn das Kind besser wird heißt es „ja, nur die Förderschulen können behinderte Kinder richtig fördern“, – wenn es schlechter wird heißt es „ohje, wie sähe das erst auf einer Regelschule aus; gut, dass es hier ist“.

Der im Monitor-Beitrag geschilderte Effekt, dass anstatt des Wechsels von Kindern mit Behinderung auf Regelschulen einfach mehr Kinder diagnostiziert werden, um Inklusionsquoten zu erfüllen, die Zahl der Kinder auf Förderschulen jedoch stagniert, ist leicht zu erklären: Förderschulen in Deutschland (die sogenannten Sonderschullehrer*innen) haben mächtig Einfluss. Um nichts in der Welt wollen sie, dass ihre Schulen aufgelöst werden; sie selbst wollen nicht an Regelschulen. Es ist absurd wie schlecht die Inklusion in Deutschland verläuft. Fast überall in Europa funktioniert Inklusion besser; viele Länder haben eine inklusive Tradition – Deutschland kultiviert den Ausschluss und sagt, das sind besondere Kinder; die müssen auf besondere Schulen, sonst gehen sie unter!

Die deutsche Wirtschaft braucht diesen Ausschluss auch; welche:r Jugendliche, der:die eine Regelschule durchläuft, wird schon darauf hin arbeiten, in einer Werkstatt für behinderte Menschen zu arbeiten? Die Förderschulen koopperieren mit diesen Betrieben. Ihre Daseinsberechtigung besteht also aus drei Komponenten: 1. Sonderschullehrer:innen wollen ihre Pfründe nicht aufgeben, 2. Die Regelschulen wollen keine Kinder mit Behinderung, 3. Die Deutsche Wirtschaft benötigt mehr als 300000 Menschen, die für sie in WfbM zu Billigslöhnen arbeiten

Das ist denke ich klar. Also wenn Lehrer plötzlich psychologische Diagnosen stellen dürften hätten wir größere Probleme, über die wir diskutieren müssten :wink:

Dennoch hat die Schule natürlich ein größeres Interesse daran, dass alle Kinder, die eventuell eine Beeinträchtigung haben, auch als solche erkannt werden, wenn ein Förderung da dran hängt. Und das heißt natürlich, dass sie auf mehr Testungen hinwirken wird. Das ist ja auch gut und erwünscht.

Ob Stunden oder Stellen ist jetzt eher „semantics“ als Inhalt. Stunden und Stellen lassen sich immer umrechnen (z.B. 8 Stunden die Woche sind eine 20% Stelle) und in der Summe kommen bei einer Schule mit x hundert Kindern dann schon auch ganze Stellen zusammen.

Da sind sich denke ich alle einig, dass das auch Sinn macht. Wir wollen ja, das Kinder mit erhöhtem Förderbedarf auch gefördert werden und das braucht natürlich Arbeitszeit, die sich in zusätzlichen Stunden widerspiegeln muss. Also das wird nicht kritisiert.

Ich denke auch, dass da Einzelfälle etwas hochgejazzt werden.

Wie gesagt, dass die Zahl der diagnostizierten Kinder mit Förderbedarf steigt, wenn man einen Anreiz dafür schafft, die Kinder zu diagnostizieren, sollte klar sein. Das kann natürlich heißen, dass plötzlich normale Kinder falsch diagnostiziert werden, es kann aber auch einfach heißen, dass das Dunkelfeld aufgehellt wird, daher viele Förderbedarfsfälle, die vorher durchs Raster gefallen sind, jetzt erkannt werden.

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Davon gehe ich auch aus. Für die Theorie der Falschdiagnose würde mir nur zwei Gründe einfallen:

  1. Ärzte werden zur Diagnose genötigt, damit die Schule Stunden bekommt
  2. Ärzte diagnostizieren öfters falsch

1 halte ich für äußerst unrealistisch und 2 für besorgniserregend.
Was man aber nicht vergessen darf: Auch wenn die Fehlerquote der Ärzte gleich bleibt, bei einer höheren Unterrsuchungszahl, erhöht sich die absolute Zahl der Falschdiagnosen zwangsläufig.

Diagnostik ist eine verwickelte Frage. Anreize für Diagnostik zu schaffen ist auch nicht per se falsch, denn Diagnose können notwendig und hilfreich sein. Sie können auch schädlich sein, das ist richtig .

Es gibt zwei große Problemfelder im Bereich der Diagnostik Kinder und Jugendlicher.
Es ist die Zeit und es ist die Expertise die knapp sind . Doch gerade Kinder, die sich in Grenzbereichen befinden, sind schwer zu diagnostizieren, es bedarf Verlaufskontrollen etc. Wenn Mitarbeit der Eltern fehlt, Expertise der Testpersonen fehlt, wenn es Konflikte zwischen Eltern und Fachpersonen gibt, dann erschwert sich diese Aufgabe.
Die Genauigkeit wird manchmal der Menge geopfert. Sich viel Zeit für den Einzelfall zu nehmen heißt, dass andere Kinder länger warten müssen - auch auf Hilfe. Das ist ein Dilemma.

Selbstverständlich gibt es auch eine Ungenauigkeit in den Tests. Und die ist gar nicht so klein. Auch die Testperson selbst hat Einfluss auf das Ergebnis .
Es ist absolut erforderlich, Ergebnisse zu hinterfragen, vor allem wenn es im Umfeld zu Irritationen in Bezug auf die Diagnose kommt.

Dann eine Diagnose zu revidieren, zu überprüfen und ggf. offiziell zu ändern kann ein Spießrutenlauf werden. Das hat aber nicht unbedingt etwas mit Schule zu tun, sondern vor allem mit Bürokratie. In etlichen Fällen werden auch Hilfen von Jugendamt oder Sozialamt bezahlt und da geht dann Zuständigkeitsgerangel los.

Es gibt auch die Sachlagen, in denen sich alle einig sind. Da ist Diagnose wirklich nur eine Formalie.

Und von den vielen Kindern, die durchs Raster fallen weil das System sich darin gefäll Eltern zu beschuldigen nicht konsequent zu sein ist jetzt nicht die Rede. Ist aber mindestens genauso dramatisch in der Fehleinschätzung

Bei der Anstalt gibt es auch eine Folge in der der Umgang mit Behinderten hier in Deutschland dargelegt wird: Die Anstalt vom 20. Dezember 2022 - ZDFmediathek
Es sind leider nicht nur die Schulen.

Das kann natürlich heißen, dass plötzlich normale Kinder falsch diagnostiziert werden, es kann aber auch einfach heißen, dass das Dunkelfeld aufgehellt wird, daher viele Förderbedarfsfälle, die vorher durchs Raster gefallen sind, jetzt erkannt werden.

ich störe mich hier wirklich an deiner Formulierung „normale Kinder“ gegenüber „Förderbedarfsfälle“. Erstens ist das eine ziemlich diskriminierende Wortwahl (sicher nicht deine Absicht; dennoch) und zweitens zeigt es gut das Grundproblem auf: unser Bildungssystem fördert nur dann mehr, wenn eine Diagnose gestellt wird – die Diagnose hat nicht selten erhebliche Einwirkungen auf die Biographien (zum Beispiel durch Versetzen auf sogenannte Förderschulen). Dieses selektive Fördern ist nur notwendig, weil der Bildungssektor zu schlecht aufgestellt ist, um alle Kinder zu fördern wie sie es bedürfen und begrüßen.

Für viele Menschen kann es etwas empowerndes haben, sich selbst als behindert zu begreifen und aktiv für eine Verbesserung der dadurch prekarisierten Lebensweise zu sorgen. Für viele andere Menschen ist es ein Stigma als behindert diagnostiziert zu werden, bloß weil sie in der zweiten Klasse noch nicht alle Buchstaben kennen (zB weil die Eltern diese auch nicht kennen). Behinderung ist keineswegs ein absolut abgrenzbares Phänomen, sondern immer gesellschaftliche Konstruktion.

Jedes Kind hat es verdient gefördert zu werden; ob mit oder ohne („richtige oder falsche“) Diagnose

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Das ist ein schönes Beispiel dafür, was für ein Minenfeld Kommunikation ist (siehe Debatte darüber, ob Politiker ihr Handeln mehr erklären sollten).

Die Wortwahl soll wirklich nicht diskriminierend sein, aber eine Behinderung ist nun einmal ein von der „Norm“ abweichender Zustand, ebenso wie eine Hochbegabung. Die Konsequenz der Normabweichung ist ein erhöhter Förderbedarf. Wäre dies eine Diskussion über Begabtenförderung, hätte ich vermutlich auch zwischen „Normal“ und „Hochbegabten“ unterschieden, ohne damit etwas Böses zu meinen oder sagen zu wollen, dass „Hochbegabte“ nicht „normal“ seien.

Die Gegenseite sagt nun, die Eigenschaft, eine Behinderung zu haben, sei eine ganz „normale“ Eigenschaft auch, wie die Körpergröße oder Haarfarbe, sodass Menschen mit Behinderung auch „Normal“ seien. Dem würde ich in einem gesamtgesellschaftlichen Konzept durchaus zustimmen - aber wenn es um die Frage nach dem Förderbedarf in der Schule geht, müssen wir Kriterien festlegen, die einen erhöhten Bedarf (gegenüber dem Normalbedarf) anzeigen. In diesem Sinne sind Schüler, die einen höheren Förderbedarf haben, nicht „normal“.

Ich kann verstehen, woher deine Irritation kommt - gerade auch, weil ich selbst diplomierter Sozialarbeiter / Sozialpädagoge bin und auch schon mit Menschen mit Behinderung gearbeitet habe (wenn auch nur im Rahmen des dreimonatigen Vorpraktikums vor Studienbeginn in einem Wohnheim für Menschen mit mehrfachen Behinderungen).

Da stimme ich dir zu, gar keine Frage. Letztlich ist das Problem, dass wir ein binäres System haben, wo eigentlich eine feingliedrige Skala angemessen wäre. Bedeutet: Statt zwischen „behindert = Förderung“ und „nicht behindert = keine zusätzliche Förderung“ zu unterscheiden sollten wir jedes Kind individuell fördern. Das geht aber nur mit erheblich mehr Personal - wenn wir nicht jedes Kind „einstufen“ wollen (was wir mit Sicherheit nicht wollen!) können wir nur mit Durchschnittswerten arbeiten - und das funktioniert nur, wenn diese sehr, sehr großzügig bemessen sind, sodass auch die Schulklasse, die sehr viele Fälle mit hohem Förderbedarf enthält, noch damit auskommt.

In der Realpolitik ist das - auch auf Grund des Lehrermangels - allerdings kaum möglich, weshalb wir wieder im Bereich der Mängelverwaltung sind. Und das führt dann zu den Problemen, die wir hier diskutieren - also die Einsicht, dass die Durchschnittsförderung zu niedrig für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf ist und deshalb festgestellt werden muss, wie viel Förderbedarf an welcher Stelle herrscht, um die Allokation der begrenzten Mittel halbwegs sinnvoll organisiert zu bekommen.

Wer mal tief in den Abgrund des Systems schauen möchte , kann sich mal über die causa Winterhoff informieren

Seriöse Fachleute haben lange vor ihm gewarnt , aber er war einfach so medienwirksam.

Schockierend jedoch , dass das System hier so versagt und sich nicht kontrolliert ( oder kontrolliert wird)

Wenn ich richtig informiert bin bevorzugen Menschen mit Behinderung „nicht-behindert“ anstatt „normal“ um eben selbst nicht schlussfolgernd als „nicht-normal“ gelabelt zu werden. Die Abweichung, die eine Behinderung darstellt, sollte nicht allgemeingültig als etwas Defizitäres gelten. Das war aber gar nicht mein Hauptpunkt, weil ich ahne, dass du das nicht abwertend meinst!

Ich schätze, der wirkliche Wille zu gesellschaftlicher Inklusion, also das Auflösen der Förderschulen, würde das Personalproblem wenigstens ein wenig abfedern. Faktisch wird eine Klasse entweder von ein oder zwei Pädagog:innen betreut (in Förderschulklassen liegt der Schlüssel bei etwa drei Kindern pro Pädagog:in; in Berlin) Wir müssen zu einem Normzustand von zwei Pädagog*innen pro Grundschulklasse gelangen.

Die Tendenz, Kinder zu diagnostizieren, weil man den Stellenschlüssel braucht (ich kann den Monitor-Bericht da durchaus bestätigen), halte ich für deutlich fehlgeleitet und ineffektiv solange das Personal eh nicht da ist; ich habe zwar nur im Hort und nicht direkt in der Schule gearbeitet, aber ich deute diese Politik („Wenn ihr genug Diagnosen stellt, bekommt ihr mehr Personal“) für eine Hinhaltetaktik um das Ende der Sonderbeschulung weiter nicht vorantreiben zu müssen.

Erzählungen meiner Mutter zufolge hatte der Arzt bei der Einschulungsuntersuchung bei mir einen Förderbedarf feststellen wollen und vorgeschlagen, mich auf die Förderschule zu schicken.

Ich habe heute zwei juristische Staatsexamina. Ich glaube nicht, dass ich die hätte, wenn ich damals auf die Förderschule gegangen wäre.

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Vielen Dank an alle!

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