Unter Deutscher Bundestag - Mediathek → Ausschussitzungen gibt es eine komplette Auzeichnung der gestrigen Sitzung des Bundeswahlausschusses. Alleine die Grüne Landesliste Saarland wurde anderthalb Stunden erörtert. (Letzter TOP, ungefähr ab Stunde 2:30.)
Zusammen mit dem übrigen Kontext, der in der Sitzung nicht erörtert wurde, aber in den vergangenen Wochen hier und da zu lesen war, stellt sich mir die Geschichte so dar:
Es gibt bei den Grünen im Saarland eine Art Lokalfürsten aus dem Kreis Saarlouis, der im Rest der Partei mittlerweile nicht mehr sonderlich wohlgelitten ist. Der Verband Saarlouis stellt aber rund ein Drittel der Delegierten des gesamten Landesverbandes, und mit deren Hilfe wurde er entgegen des Frauenstatuts auf Platz 1 der Landesliste gewählt. (Wichtig, weil das Saarland so klein ist, dass es bei allen wahrscheinlichen Wahlergebnissen nicht mehr als eine(n) Grünen-Abgeordnete(n) stellt.)
Das hat ziemlich viele Leute im Landesverband angepisst. Es hagelte Rücktritte und ein großer Teil des LVs (mit Unterstützung von außerhalb) wollte die Wahl nicht akzeptieren, auch weil es wohl Verdächtigungen gibt, dass die hohe Anzahl der Saarlouiser Delegierten nicht unbedingt auf einwandfreien Mitgliedsdaten basiert.
Parteischiedsgerichte haben deshalb entschieden, dass die ursprüngliche Liste nicht eingereicht werden darf und eine neue Liste gewählt werden muss. Das offizielle Argument war wohl, dass bei der Wahl der Delegierten im Verband Saarlouis entgegen der Satzung die Parteiöffentlichkeit (aka. Grüne von außerhalb) ausgeschlossen waren und an der Beobachtung der Wahl gehindert wurden. Daher seien die Saarlouiser Delegierten nicht ordnungsgemäß gewählt und dürften deswegen nicht an der kurzfristig einberufenen erneuten Wahl der Bundestagsliste teilnehmen. Um im Verband Saarlouis eine neue Delegiertenwahl durchzuführen fehlte mittlerweile die Zeit, da nur noch wenige Tage bis zur Einreichungsfrist der Wahlunterlagen übrig waren. (Entsprechende Versuche sind allerdings auch nicht bekannt.)
Nach Auffassung des Bundeswahlleiters und der Mehrheit im Bundeswahlausschuss war nun dieser Satzungsverstoß bei der Wahl der Delegierten in Saarlouis nur ein geringer Mangel und kein Grund, praktisch ein Drittel der Parteibasis des Landesverbandes von der Teilnahme an der Aufstellung der Bundestagskandidaten auszuschließen. Dieses Vorgehen stelle im Gegenteil einen gravierenden Verstoß gegen das innerparteiliche Demokratieprinzip dar, und deswegen sei die Aufstellung der neuen Landesliste nicht gesetzeskonform gewesen.
Die Position der Grünen und der Ausschussminderheit war dagegen, dass Parteigliederungen sich nicht einfach über Satzungsbestimmungen hinwegsetzen dürften. Eine Delegiertenwahl, die nach Urteil der Parteischiedsgerichte unter satzungswidrigen Bedingungen stattfand, ist ungültig, und es liegt in der Verantwortung der Gliederungen, gültige Delegiertenwahlen abzuhalten. Dies dürfe dem Rest des Landesverbandes nicht angelastet werden, und bei eine Entscheidung gegen die Landesliste der Grünen würde unteren Gliederungen ermöglichen, Landesverbände praktisch in Geiselhaft zu nehmen.
Wie mittlerweile bekannt ist, hat sich die Ausschussmehrheit dieser Auffassung nicht angeschlossen und die Ablehnung der Landesliste bestätigt.
Ich würde das allerdings nicht der „Unfähigkeit“ der Grünen zuschreiben. Ich denke eher, dass sie diese Entscheidung sehr wohl einkalkuliert haben. Wie oben erwähnt, können die Grünen des Saarlandes aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr als einen Abgeordneten entsenden. Beide Seiten wollten eben unter keinen Umständen, dass dieses Mandat dem innerparteilichen Gegner zufällt und haben dies der Variante vorgezogen, eine gültige Liste mit einem ungewollten Spitzenkandidaten einzureichen.
So weit, so verständlich. Was mich aber an der Wahlausschusssitzung auf die Palme gebracht hat, war nicht die nachvollziehbare Entscheidung zu Lasten der Grünen, sondern wie meiner Ansicht nach klar das Gesetz gebrochen wurde bloß um der AfD doch noch die Teilnahme im Land Bremen zu ermöglichen!
Dazu muss man wissen, dass laut Bundeswahlgesetz einem Wahlvorschlag unter anderem die eidesstaatlichen Versicherungen vom Versammlungsleiter und von zwei von der Versammlung bestimmten Teilnehmern beigefügt werden müssen, die bestätigen, dass die Wahl korrekt durchgeführt wurde, geheim war, jeder Kandidat sich vorstellen durfte, usw.
Bei der AfD in Bremen war es nun aber so, dass eine dieser beiden von der Versammlung bestimmten Personen sich im Nachhinein einfach geweigert hat, diese eidesstattliche Versicherung abzulegen, vermutlich weil ihre bevorzugten Kandidaten nicht gewählt wurden. Als klar wurde, dass sie sich auch nicht umstimmen lässt, hat daher der Versammlungsleiter nachträglich einfach jemand anders bestimmt, und der hat dann die eidesstattliche Versicherung abgelegt.
Das Gesetz ist da jetzt eindeutig, dass dieser Wahlvorschlag eigentlich nicht gültig sein kann, aber aus irgendwelchen Gründen wollte die Mehrheit im Wahlausschuss nicht so entscheiden und hat dann eine halbe Stunde herumgerätselt, dass das ja eine dumme Situation ist, dass eine einzelne Person so den Wahlvorschlag sabotieren kann, und dass ja gar keine Zeit mehr war um eine neue Aufstellungsversammlung durchzuführen, und dass das vom Gesetzgeber ja so gar nicht gewünscht gewesen sein kann, und deswegen hat die Ausschussmehrheit dann am Ende so abgestimmt, dass sie den Landeswahlausschuss Bremen überstimmt und die Liste doch zugelassen haben.
Für mich war das ein klarer Rechtsbruch, insbesondere weil bei allen anderen behandelten Fällen immer wieder auf die besondere „Normstrenge“ der Wahlgesetzgebung beharrt wurde, die unter keinen Umständen irgendwelche Toleranzspielräume zugunsten der Parteien zulässt.
Insbesondere steht die Entscheidung im starken Kontrast zur bestätigten Ablehnung der Landesliste der Piratenpartei, ebenfalls vom Landeswahlausschuss Bremen. Dort hatte die Versammlung u.a. die Versammlungsleiterin zu einer der beiden eidesstattlichen Versicherungen verpflichtet. Diese hat dann die EV sowohl in ihrer Eigenschaft als Versammlungsleiterin, als auch als von der Versammlung bestimmte Teilnehmerin abgelegt. Das wurde vom Wahlleiter moniert, es müssten zwei zusätzliche Versammlungsteilnehmer, insgesamt also drei sein, was sicherlich auch korrekt ist. In diesem Fall wurde die „Nachnominierung“ anderer Versammlungsteilnehmer aber – im krassen Gegensatz zur Entscheidung zugunsten der AfD – strikt ausgeschlossen, da diese ja nicht von der Versammlung bestellt worden seien. Die einzige Möglichkeit der Heilung wäre die Abhaltung einer (zeitlich kaum noch möglichen) neuen Aufstellungsversammlung gewesen, und das wurde dann vom Bundeswahlausschuss einstimmig so bestätigt.
Für mich völlig unverständlich, dass Mitglieder des Bundeswahlausschusses offensichtlich so viel Angst haben, dass die AfD mal wieder herumopfert, und die BILD das vielleicht noch unsachlich skandalisiert, dass sie zugunsten der AfD klar und eindeutig gegen das Gesetz verstoßen, und ich frage mich, ob Bundeswahlausschussmitglieder nicht „andere Amtsträger“ im Sinne des § 339 StGB (Rechtsbeugung) sind.