Grundrecht auf Leben und Gesundheit vs. andere Rechte

Hallo Lage,
eine Rechtsfrage, die fundamental ist und vielleicht das Richtige für die Lage:

Ist das Grundrecht auf Leben und Gesundheit verhandel- und relativierbar?

Anlass die Äußerung von Karin Prien, Kultusministerin von Schleswig-Holstein:
„Gesundheit steht ganz klar vor Bildung, ist zu Ende gedacht ein rigider Satz, den ich nicht teile.“

Anders gefragt: Darf der Staat zur Gewährleistung anderer Rechte (z.B. Recht auf Bildung) das Recht auf Gesundheit und Leben zurückstellen?

Noch anders gefragt und zugespitzt: Darf der Staat Entscheidungen treffen, die - mitten im Frieden - Menschen physisch schädigen und töten?

VG

Ganz kurz, ja. Das einzige absolute Grundrecht ist die Menschenwürde.

Dazu sind die Grundrechte in erster Linie Abwehrrechte gegenüber dem Staat, es ergeben sich aber auch Schutzpflichten. Bei der Umsetzung letzterer hat der Staat aber einen großen Spielraum.

Auch praktisch muss es den Spielraum geben, sonst müsste der Staat alle potenziell lebensgefährliche Aktivitäten verbieten, den Straßenverkehr genauso wie jegliche medizinische Eingriffe, bei denen ein Fehlschlag oder Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen sind.

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Es gibt kein „Supergrundrecht auf Leben und Gesundheit“. Das Leben und die Gesundheit über alle anderen Grundrechte zu stellen ist somit unzulässig. Trotzdem wäre eine Diskussion darüber sicher wichtig. Denn nachdem dieses Thema im letzten Jahr kurz einmal diskutiert wurde, gerät diese Tatsache ganz offenbar langsam aber sicher in Vergessenheit. Eine wirkliche Verhältnismäßigkeitsprüfung findet nicht mehr statt und ist vor allem in der öffentlichen Debatte unerwünscht. Gerade hat der VGH Mannheim die Ausgangssperre in Baden-Württemberg für rechtswidrig erklärt und außer Kraft gesetzt. Hat man diese in den letzten Monaten kritisiert (außer Twitter bleiben einem kaum geeignete Kanäle dafür), war man ruckzuck in die Ecke der dummen Coronaleugner und Covidioten, die ihren persönlichen Egoismus über das Leben der Menschen stellen.
Im Verfassungsblog ist zur aktuellen Lage ein meiner Ansicht nach guter Beitrag des Münsteraner Prof. Hinnerk Wißmann erschienen. Verfassungsbruch? Schlimmer: Ein Fehler – Verfassungsblog

Die Frage, die sich stellt ist, ab wann man überhaupt noch rechtfertigen könnte, dass das öffentliche Leben stillsteht. Karl Lauterbach sprach zuletzt (wie man inzwischen weiß völlig zu Recht) davon, dass es möglich sei, dass Impfungen gegen bestimmte Mutationen irgendwann nichts mehr ausrichten könnten. Gibt es ein verfassungsrechtlich zulässiges Szenario, in dem die Bevölkerung von Deutschland und anderen Ländern möglicherweise in den nächsten 5 oder 10 Jahren im „Teil-/Voll-Lockdown“ verweilen müssen, um Infektionen zu begrenzen? Denn dieses Szenario wird unweigerlich realistisch werden, wenn der immer wieder mutierende Virus nicht in den Griff bekommen wird.

Das ist doch genau der Punkt der Initiative No Covid: Wir müssen die Pandemie mehr oder weniger beenden, also eine Inzidenz unter 10 schaffen, um auf Dauer ohne massive Einschränkungen mit dem Virus leben zu lernen. Mit anderen Worten geht es jetzt um eine Langstrecke. Und Langstrecke bei Inzidenz 50 klappt leider nicht, weil uns das Virus dann ständig aus dem Ruder läuft und wir in den nächsten Lockdown rutschen.

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Beim Thema Schulöffnungen trotz Corona-Gefahr stimmt Ihnen, Konsi, das OVG Lüneburg jedenfalls schon mal nicht zu:

Ein Grund, warum ich die No-Covid- oder die Zero-Covid Strategie durchaus unterstützen würde. Was aber käme danach?
Was die Realisierbarkeit dieser Strategien angeht, habe ich zwar meine Zweifel. Davon aber ausgehend, dass die Inzidenz tatsächlich unter 10 gedrückt werden könnte, wäre dieser Zustand aber nur dann zu erhalten, wenn wir über kurz oder lang die 0 erreichen würden. Wenn nun aber der Virus in anderen Teilen der Erde weiter grassiert und mutiert (sodass bereits verabreichte Impfungen nicht oder nur zum Teil Wirkung zeigen), wird er in absehbarer Zeit auch wieder Deutschland und Europa erreichen und sich Dank eines wiedererlangten öffentlichen Lebens schnell verbreiten. Die Reaktion wäre dann wieder der Totallockdown, bis die Inzidenz auf ein verträgliches Maß gesenkt wäre. Ich frage mich einfach, ob dies die langfristige Perspektive sein kann. Denn einmal von der Frage der Bezahlbarkeit von Corona-Hilfen abgesehen, wird man irgendwann mal eine konkretere und präzisere Faktenlage über das Infektionsgeschehen haben müssen, um weite Teile des öff. Leben zu schließen. Auf ewig wird man die pauschalen Einschränkungen nicht rechtfertigen könne.

Das steht nicht unbedingt im Widerspruch dazu. Wie ich geschrieben habe, ergeben sich bestimmte positive Verpflichtungen des Staates aus den Grundrechten, daraus ergibt sich aber nicht, dass diese absolut gelten.

Ergänzend sollte nicht vergessen werden, dass das Recht auf Gesundheit und Leben nicht nur die Bedrohung durch Corona betrifft. Auch die aktuellen Maßnahmen gefährden als Kollateralschaden für einige Menschen Leben und physische oder psychische Gesundheit, Stichworte häusliche Gewalt, Vernachlässigung, Vereinsamung, Entwicklungsstörung und psychische Störungen.
Auch wird die gesundheitliche Versorgung dadurch beeinträchtigt, da Menschen verunsichert sind, die Quarantäne Maßnahmen vor einer Operation abschrecken und häufig die Mitnahme von Begleitpersonen zu Arzt oder Krankenhaus nicht mehr erlaubt ist, was zusätzliche Hürden für einige mit sich bringt. (Meine Frau unterlässt u.a. deswegen zur Zeit eine nicht-notwendige aber potentiell Lebensqualität steigernde Operation)

Das Recht auf Bildung ist auch verbunden mit Zukunftschancen und Selbstverwirklichung, jedoch nicht auf die Präsenzlehre in der Schule beschränkt. Da ist die Forderung aus der Lage richtig, dass Schulen alternative tragfähige Konzepte brauchen.

Die Grundrechte sind komplex und müssen im Zweifel gegeneinander abgewogen werden.
Das einzige absolute Grundrecht ist die Würde des Menschen.

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Hallo, das ist jetzt etwas ab vom Thema dieses Threads, aber woher beziehen Sie Ihre Informationen, dass Impfungen möglicherweise gegen Mutationen nichts mehr ausrichten könnten? Mein Kenntnisstand ist, dass die in Deutschland zugelassenen Impfstoffe auch bei den aktuell beobachteten Mutationen sehr gut vor einem schweren Krankheitsverlauf schützen; der Schutz vor einem leichteren Verlauf ist dagegen unterschiedlich. Ein Vorteil der mRNA-Wirkstoffe ist ja gerade ihre schnelle Anpassbarkeit; im Grunde muss hierfür nur die Genomsequenz z.B. einer neuen Spike-Protein-Variante bekannt sein (in der Praxis bleiben jedoch noch Zulassungsfragen, etc., die die Anpassung sicherlich etwas verzögern werden).

Meine persönliche Prognose (und ich bin kein Virologe) ist, dass wir SARS-CoV-2 nicht werden ausrotten können, dass es jedoch mittelfristig - ähnlich wie bei Influenza - eine regelmäßige Impfung gegen die aktuelle Variante geben wird. Mit „mittelfristig“ meine ich beispielsweise ab Herbst 2021. Wie wir diese Übergangsphase gestalten, ist eine spannende Frage.

Ist für mich ein eindeutiges „Ja“, weil in jedem einzelnen Fall eine Diskussion darüber notwendig ist, bis zu welcher Grenze man die Gesundheit seiner Mitmenschen schützen muss/schädigen darf. Schließlich ist eigentlich schon das bloße Autofahren eine Schädigung der Mitmenschen. Eine Umweltzone kann man in diesem Sinne als einen Kompromiss und (Güter-) Abwägung verstehen. Auch dort befahren gesundheitsschädigende Maschinen die Straßen, aber eben nicht mehr die Schlimmsten.

Darüber hinaus ist in den politischen Entscheidungen, die die Einführung von Corona-Maßnahmen betrafen, das binäre Am-Leben-Sein als einzig relevante Metric betrachtet worden. Qualität oder Quantität in anderen Hinsichten sind dabei vollkommen ausgeblendet worden und damit die Lebensrechte all derer, die direkt oder indirekt dadurch eine Verkürzung oder Verschlechterung ihres Lebens erleiden müssen. Auch das ist eine debattierbare Entscheidung gewesen (auch wenn versucht wurde, diese Debatte mit einem moralischen Absolutismus zu ersticken). Der Punkt ist hier aber nicht der Outcome, sondern die Tatsache, dass eine Entscheidung getroffen wurde und eine Entscheidung getroffen werden musste (auch keine Entscheidung wäre eine Entscheidung gewesen). Man hat mit dieser Entscheidung zwar die sichtbareren Toten höher gewichtet als alles andere, aber das heißt nicht, dass man dadurch nicht anderen Menschen das Recht aufs Leben verwehrt hat (Stress, Ängste, Sorgen sind Gift für den Körper und enorm lebensverkürzend. Gleiches gilt für Bewegungsmangel, Isolation und schlechtere Ernährung. Außerdem direkte Schädigungen durch Zunahme von Haushaltsunfällen (es ist schon lange bekannt, dass die eigenen vier Wände statistisch gesehen einer der gefährlichsten Orte überhaupt ist), häuslicher Gewalt, verschobenen medizinischen Behandlungen usw.)

Insofern eben ja: Gesundheit und Leben ist verhandelbar und muss sogar verhandelt werden und zwar immer wieder. Das Problem ist, dass Demokratie dabei an ihre Grenzen stößt, denn ethische Entscheidungen von einer Mehrheitsmeinung abhängig zu machen, halte ich für sehr gefährlich.

In gewissem Rahmen tut er es in fast jeder Entscheidung.

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Ich kann fast alles, was Du schreibst unterschreiben, auch wenn ich es teilweise nicht ganz so pointiert ausgedrückt hätte.

Ich sehe auch das Problem von Mehrheitsentscheidungen bei ethischen Fragen. Andererseits: Wer sollte denn sonst entscheiden? Die Kirche vom Heiligen Spaghettimonster? Das philosophische Institut der Universität Worpswede? Der Ethikrat? Die FDP?..

Alles andere als eine Mehrheitsentscheidung ist noch gefährlicher (es sei denn natürlich, man überlässt mir die Entscheidung).

Hallo Martin2, ich beziehe mich auf die Aussage von Karl Lauterbach, der in der Maischerber-Sendung vom 27.01.2021 (ca. bei 07:00, Link zur Sendung unten) ausdrücklich davor gewarnt hat, dass zu befürchten sei, dass wir es über kurz oder lang mit einer Mutation zu tun haben werden, gegen die keinerlei Impfung möglich ist. Er beschreibt also einen Zustand, in dem die Menschheit in dieser Hinsicht dem Virus völlig schutzlos ausgeliefert wäre.

https://www.ardmediathek.de/daserste/video/maischberger/karl-lauterbach-und-hendrik-streeck-im-gespraech/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL21lbnNjaGVuIGJlaSBtYWlzY2hiZXJnZXIvM2I1YjY0ZDItOGZmNy00MjM5LTgzZjItNDU4ZTBmMzkzMTI4/

Hallo,
vielen Dank für den Link. Ich habe mir den ersten Teil angesehen und bin etwas verwundert, dass ich tatsächlich mit Herrn Streeck einer Meinung bin. Das kam bisher nicht sonderlich häufig vor. Ich kann es mir biologisch bzw. pharmakologisch jedoch immer noch nicht erklären, weshalb wir gegen Mutationen möglicherweise nicht werden impfen können (auf die mRNA-Wirkstoffe bezogen). Fairerweise fehlt mir jedoch ein tiefer Einblick in die Impfstoffentwicklung (ich bin Arzt, habe aber mit der Herstellung von Impfstoffen eigentlich nichts zu tun). Bei der Durchsicht der Literatur habe ich bisher keinen Grund für solch eine Situation gefunden, aber vielleicht übersehe ich auch etwas.

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Das halte ich ehrlich gesagt nach allem was ich von Drosten, Kekulé und sonstigen Experten gehört habe für Unwahrscheinlich. Es kann sein, dass die aktuellen Impfstoffe gegen zukünftige Varianten weniger Effektiv sind, aber
erstens wird der Virus tendenziell mit der Zeit und mit den künftigen Varianten weniger gefährlich, da sich zum einen Varianten die Ansteckender aber weniger krankmachend sind stärker durchsetzen und zum anderen auch eine Grundimmunität sich entwickelt aus Impfung oder natürlicher Immunität
zweitens können zumindest die RNA-Impfstoffe im Laufe einiger Monate angepasst werden.
Das aus einem Virus wo eine schützende Impfung möglich ist, ein Virus wird wo eine schützende Impfung nicht möglich ist, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Dazu müsste sich der Virus sehr weitgehend in seinen Eigenschaften verändern.

Vielleicht sollte an der Stelle noch mal angemerkt werden, dass Herr Lauterbach kein Virologe ist und sich seine wissenschaftliche Tätigkeit primär auf öffentliche Gesundheitsversorgung bezieht. Er ist Epidemiologe hat aber keine Veröffentlichungen zu Virus Epidemien oder Viren im Allgemeinen.