Freiheiten für Geimpfte - Epidemiologische Sichtweise?

In der aktuellen Folge habt ihr besprochen, warum es aus juristischer Sicht nötig ist, die Beschränkung der Grundrechte für Geimpfte und Genesene zu beenden. Als Grund dafür habt ihr angeführt, dass keine individuelle mehr von diesen Menschen ausgeht.

Aber wie sieht es damit aus, das Impfungen bei hohen Inzidenzen zu Mutationsdruck Richtung Escape-Varianten führen? Das ist ja eine kollektive Gefahr, die am Ende zu weiteren Wellen führen kann.

Ich fand, dass hat in euer Diskussion gefehlt, da würde mich eure Meinung zu interessieren.

Ist denn überhaupt sicher, eine höhere Zahl Geimpfter zu einem höheren Mutationsdruck führt? Ist nicht der Effekt der Senkung der Infektiosität und damit der Ansteckungsraten viel stärker? In Israel z.B. sind glaube ich ca. 35% Prozent der Bevölkerung unter 16 und ein nennenswerter Anteil der über 16-Jährigen wollte oder konnte nicht geimpft werden. Trotzdem gingen die Inzidenzen rapide runter. Ist da irgendetwas über einen signifikant erhöhten Mutationsdruck bekannt?
Und selbst wenn es das Problem so geben sollte, was folgt dann daraus? Sind dann das Problem alle Geimpften und Genesenen oder nur die wenigen, die sich erneut infizieren? Nur die symptomatisch erkrankten oder alle? Heißt das am Ende sogar, dass Geimpfte und Genesene besonders stark isoliert und getestet werden müssen, weil sie ein höheres Mutationsrisiko haben? Das würde natürlich den Sinn der Impfungen insgesamt ad absurdum führen…
Kurz gesagt: ich verstehe nicht, was aus epidemiologischer Sicht das Problem daran sein soll, dass Geimpfte/Genesene ohne Schnelltest zum Friseur bzw. in den Baumarkt gehen können, ohne Symptome nicht mehr in Quarantäne müssen und bei der 1 Haushalt+1-Regel nicht mitzählen - denn mehr ist ja wohl zur Zeit nicht geplant.

Ich würde es so interpretieren, das nicht die Geimpften zu zum erhöhtem Mutationsdruck führen, die sind Teil der Lösung. Das Problem ist das hohe Niveau der Infizierten.

Geplant, ist im Moment bei Unterschreiten der Inzidenz von 100 zumindest die bundesweiten Beschränkungen fallen zu lassen, bei 165 werden die Schulen teilweise wieder geöffnet. Und wenn man sich das bisherige Handeln der Politik anschaut ist wohl damit zu rechnen, dass regional auch Anderes wegfällt.

Und klar, über einzelne Maßnahmen kann man immer diskutieren. Ich verstehe z. B. auch nicht, wie man sich in einem riesigen Baumarkt anstecken soll. Oder warum der Gartenbereich weiter geöffnet bleiben darf.

Aber gerade deswegen fehlt mir diese Sichtweise.

Wenn die Geimpften nicht das Problem sind, was bedeutet dann das „hohe Niveau der Infizierten“? Wenn es nur um ungeimpft Infizierte geht, was hat das Ganze dann überhaupt mit der Frage zu tun, was Geimpfte dürfen oder nicht dürfen? Oder stehe ich irgendwo auf der Leitung?

Also ich glaube das Problem entsteht aus dem Kontakt von Ungeimpften mit Geimpften:

Wenn in einer infizierten, ungeimpften Person eine Escape-Mutation zufällig entsteht, die zwar gegen die bisherhigen Varianten unterlegen ist und sich aufgrund dieser Unterlegenheit in Ungeimpften nicht ausbreiten würde, könnte diese Escape-Mutation sich aber in Geimpften sehr wohl ausbreiten. Die Wahrscheinlichkeit für eine Entstehung von Escape-Mutationen bei Geimpften steigt also mit zunehmender sozialer Aktivität von Geimpften.

Nach meinem Verständnis ist in der Tat das Hauptproblem die hohe Zahl der Infizierten, in denen es zu Mutationen kommen kann.

Wenn diese nun auf die aktiven geimpften stoßen, können sich Varianten mit immune escape auch bei diesen bzw. über diese weiter ausbreiten, insbesondere, wenn der immunschutz nicht (z.B. bei älteren) oder noch nicht stark ist.

Das Thema wird in der Tat bisher kaum diskutiert. Wir sollten mal Herrn Drosten oder Frau Ciesek fragen, wie relevant es ist.

Drosten hat ja im letzten Podcast die Gefahr von Mutanten relativiert, da diese alle konvergent zu mutieren scheinen.

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Der Virologe Martin Stürmer hat das gestern bei „Anne Will“ auch angesprochen (Entstehung neuer Varianten), aber ich kann seine Argumentation gerade nicht wiedergeben.
Im DLF ist Hajo Zeeb, Uni Bremen, heute ebenfalls auf diese Frage eingegangen (Audio im verlinkten Beitrag, ab ca. Min. 7:30) und hat da aus meiner Sicht eine relativ nüchterne Betrachtung geliefert („Damit wird man leben müssen“):

Was mich an dieser ganzen Debatte eher verwundert, ist, dass auch Genesene den anderen Gruppen vollständig gleichgestellt werden sollen. Ich kenne die Studienlage etc. dazu nicht, aber bei mir bleibt da ein mulmiges Gefühl, zumal es mittlerweile wirklich viele Berichte von Re- bzw. erneuten Infektionen gibt. Zudem hätte man diese Lockerungen (Ausnahme bei Ausgangsbeschränkungen in einigen Bundesländern usw.) auch schon vor Wochen oder Monaten realisieren können, denn auch da war es verfassungsrechtlich schon geboten.

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Das gibt es über Geimpfte auch. Ob das (in beiden Fällen) „wirklich viele“ sind? Kann auch ein Medienphänomen sein: Gruselgeschichten verkaufen sich einfach besser …

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Drosten ist der Frage am 14.4. nachgegangen [Link]. Konkret ging es um eine Studie aus Israel, die die Verbreitung unterschiedlicher Varianten bei nicht, halb und ganz geimpften untersucht hat. Das Ergebnis in Kürze: geimpfte infizieren sich um ein Vielfaches seltener, aber wenn sie sich infizieren, setzt sich die südafrikanische Variante etwas stärker durch als bei ungeimpften. Allerdings hab in allen Grupnnen 90+ % B117. Es geht also um den Bruchteil eines Bruchteils. Zur Einordnung: Die aktuelle Positivrate bei PCR-Tests in Israel liegt bei 0,2%! Und selbst dieses minimale Problem dürfte sich erledigt haben, wenn es im Herbst Vakzine gibt, die aktuellen Varianten abdecken.
Bezogen auf den ersten Beitrag im Thread sehe ich kein Argument, weshalb die Beendung der Grundrechtseinschränkungen für Geimpfte und Genesene zu „weiteren Wellen“ führen sollte.

Natürlich gibt es diese Fälle, genau so wie es auch Fälle gibt, in denen sich geimpfte infizieren. Aber auch hier ist wieder die Frage: Wie häufig ist das? Genesene reinfizieren sich sehr, sehr viel seltener und wenn sie es tun, bleiben sie häufig asymptomatisch und selbst wenn sie erkranken ist die ihre Viruslast höchstwahrscheinlich geringer als bei erstmalig Infizierten. Das ist zumindest der Forschungsstand den ich kenne.
Man ist sogar vorsichtiger bei den Genesenen, weil der Status auf ein halbes Jahr beschränkt ist. Diese Einschränkung gibt es bei Geimpften nicht, obwohl noch nichts darüber bekannt ist, wie lange die Immunisierung bei verschiedenen Impfstoffen anhält.

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Ich hatte verstanden (Quelle weiß ich nicht mehr), dass Genesene eine Dosis Vakzin bekommen sollen und dann als nachhaltig immun gelten.

Was gegen die Verbreitung von Virusmutationen helfen würde, wäre auf jeden Fall, wenn Test-und Quarantänepflicht für Einreisende nicht einfach abgeschafft würden.

Ärztevertreter:innen haben die geplante Ausnahmeregelung für Genesene und Geimpfte bei der Einreise scharf kritisiert. Dazu zählt etwa die Testpflicht. „Es wäre fatal, wenn Geimpfte und Genesene künftig von allen Testpflichten etwa bei der Einreise ausgenommen würden“, sage die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD), Ute Teichert, den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Gerade mit Blick auf die neuen Virusvarianten sei es wichtig, den Überblick zu behalten, sagte Teichert. Ohne umfassende Tests sei dies nicht möglich. >

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Das ist wohl der Trump’sche Ansatz: Keine Tests, keine Mutationen :wink:

Eine „Ausnahme von allen Testpflichten bei der Einreise“ plant ja so weit ich weiß niemand. Soweit ich weiß, sollen die Ausnahmen für Geimpfte und Genesene bei Einreisen aus Virusvariantengebieten nicht gelten. Zudem sind Testen und Quarantäne ja noch mal sehr verschieden was ihre Eingriffstiefe angeht.
Die entscheidende Frage ist doch, ob das Risiko, dass Geimpfte eine Mutation einschleppen, so groß ist, dass es Maßnahmen rechtfertigt. Und da würde ich sagen: Ein PCR-Test ist auf jeden Fall zumutbar, aber eine Quarantäne höchstens bei der Einreise aus Virusvariantengebieten.
Nochmal: Geimpfte/Genesene haben insgesamt ein 80% geringeres Risiko sich überhaupt zu infizuieren und wenn, dann infizieren sie sich in 9 von 10 Fällen mit der lokal dominierenden Variante.

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Ich meine auch gelesen zu haben, dass die Stiko sechs Monate nach einer Infektion eine einmalige Impfung empfiehlt. In der jetzt geplanten Bundesverordnung gelten einmalig geimpfte Genesene auch als Geimpfte. Aber auch in diesem Fall gibt es natürlich keinerlei Aussage darüber, wie lange der Impfschutz dann anhält - hinter das „nachhaltig“ würde ich also ein Fragezeichen machen.

Definitiv! Ich hatte diese Meldung im Hinterkopf, aber kann nicht einschätzen, ob das wirklich „viele“ sind, wahrscheinlich eher nicht im Vergleich zur Gesamtzahl…: Mitteldeutschland: Mehr als 400 Coronafälle trotz zweimaliger Impfung | MDR.DE

Sandra Ciesek zitiert dazu im heutigen Podcast eine amerikanische Studie. Es sind ziemlich wenige (aber AZ setzen die in den USA m.W. nicht ein).

Kann mir jemand eine wissenschaftliche Studie zeigen, die belegt, dass man Genesene genauso wie Geimpfte und Getestete betrachten kann? Ich verstehe diese Entscheidung der Politik nicht. Wie lange darf die Genesung eigentlich her sein? Wenn sich jemand im März 2020 infiziert hat, sollte er eigentlich nicht die selben Rechte haben wie jemand, der kürzlich seine zweite Impfung erhalten hat.

Das fordert ja auch niemand. Sämtliche Verordnungen in Bund und Ländern begrenzen den Genesenen-Status auf einen Zeitraum von 6-7 Monaten nach Feststellung der Infektion.
Hier ein paar Studien über die Wahrscheinlichkeit von Re-Infektionen bzw. die Dauer der Immunität von Genesenen:
https://science.sciencemag.org/content/371/6529/eabf4063
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)00575-4/fulltext
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)00675-9/fulltext

Ein Überblick befindet sich auch auf der RKI-Website: RKI - Coronavirus SARS-CoV-2 - Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19

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Es gibt dazu tatsächlich Studien nach denen Genesene mit einer sehr hohen Immunantwort auf eine einzelne Dosis reagieren und einen ähnlichen und vielleicht sogar besseren Schutz ausbilden als doppelt Geimpfte. Bei einer zweifachen Dosis gab es kaum einen Mehrwert, deshalb wird nur eine empfohlen. Das ist also zur Abwechslung mal nicht pure Spekulation sondern macht tatsächlich Sinn.

Wie lange der Impfstoff hält wissen wir deshalb noch nicht weil wir ja noch nicht einmal 6 Monate flächig impfen. Diese Info wird später ergänzt werden müssen.