„Freiheit“ zur Floskel des Jahres 2022 gewählt

Das Journalistische Medienprojekt Floskelwolke hat dieses Jahr „Freiheit“ zur Floskel des Jahres gewählt.

„Sozialtourismus“, „Klimakleber“ und die omnipräsente Kanzler-Wortschöpfung „Doppelwumms“ - sie alle finden sich aus der Jahresliste der Initiative „Floskelwolke“. Ihre Nummer eins wurde aber der „entwürdigte“ Begriff „Freiheit“.

Eine genauere Begründung dieser Auswahl ist hier zu finden:

https://twitter.com/floskelwolke/status/1609504745227522050?s=46&t=7llCbzXx-WE6nQTni8KQ1Q

An sich ähnlich relevant wie das Jugendwort oder das Unwort des Jahres, jedoch finde ich es hier viel spannender, wie sehr sich insbesondere die FDP und generell konservative über diese Wahl aufregen (und dabei ehrlich gesagt auch selbst bloßstellen):

Marco Buschmann (Bundesjustizminister):

Wer #Freiheit zur #FloskeldesJahres erklärt, hat nicht verstanden, wofür die Menschen in der #Ukraine oder im #Iran ihr Leben riskieren und was der Grundwert unserer Verfassung ist. Freiheit ist nicht die Floskel des Jahres, sondern das Gebot der Stunde.

https://twitter.com/marcobuschmann/status/1609575333908414464?s=46&t=7llCbzXx-WE6nQTni8KQ1Q

Volker Wissing (Bundesverkehrsminister):

Während in Deutschland einige #Freiheit zur „Floskel des Jahres“ küren wollen, kämpfen und sterben in der #Ukraine :ukraine: Menschen für ihre #Freiheit. :cry:

https://twitter.com/wissing/status/1609569632008163329?s=46&t=7llCbzXx-WE6nQTni8KQ1Q

Sind es nicht genau diese Politiker und die Leute in ihrer Blase, die seit Monaten von „Freiheit“ krakeelen wenn es um Böllern, Autobahnraserei, fehlendem Klimatschutz, Gendern, Aufhebung von Corona Maßnahmen,… geht und den Begriff der „Freiheit“ damit komplett ad absurdum geführt haben? Sie sagen „Freiheit“ und meinen dabei „Egoismus“.

Ich will das ganze gar nicht viel breiter treten, man kann sich ja mal die sehr treffenden Kommentare unter den Posts ansehen, da bekommen die beiden verlinkten Minister schon richtig fett weg.

Vorrangig finde ich es vor allem einfach unwürdig und saupeinlich für Politiker/Minister, dass sie hier einen Krawall über eine Entscheidung machen, die sie so offensichtlich selbst verursacht haben, dass es scheinbar wirklich jeder erkennt außer die Politiker selbst.

Noch dazu ist es ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die seit Monaten/Jahren auf dieser Welt für Freiheit kämpfen und ihr Leben riskieren, nur um dann mit Leuten gleichgestellt zu werden, die halt böllern und rasen wollen.

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Ich stimme dir absolut zu.

Natürlich versuche ich auch, die Gegenseite zu verstehen. Es ist nur logisch, dass diejenigen, die ihren Egoismus regelmäßig unter der Tarnkappe des Freiheitsbegriffs verbergen, sich nun echauffieren, wenn diese Tarnkappe gelüftet wird. Und natürlich versuchen diese Menschen die Tarnkappe wieder zu richten, indem sie versuchen, den Gegner zu diskreditieren.

Die Verteidigung egoistischen Verhaltens als „Freiheit“ funktioniert grundsätzlich nur, weil Freiheit (z.B. im Kontext des Ukraine-Krieges, der Befreiung vom Nationalsozialismus usw.) positiv konnotiert ist. Daher ist es für die Ferengi-Fraktion eben eine Gratwanderung, Freiheit einerseits positiv zu belegen und diese positive Belegung andererseits durch Egoismus auszunutzen.

Ähnliches in den USA: Jedes Mal, wenn die Waffenlobyy den ungeregelten Waffenbesitz als „Freiheit“ verteidigt, verliert der Begriff Freiheit dadurch ein wenig an Wert (vor allem beim politischen Gegner). Dieser Wert muss durch das Hervorheben von positiver Freiheit (z.B. der Gründungsmythos der USA) wieder verstärkt werden. So lange sich hier positive und negative Nutzung des Freiheitsbegriffs die Waage halten, geht das Konzept des egoistischen Missbrauchs des Freiheitsbegriffs auf.

Zurück in Deutschland: Hier wurde der Fehler gemacht, dass diese Waage aus dem Gleichgewicht geraten ist. Der Begriff der Freiheit wurde von Konservativen und FDP über eine so lange Zeit negativ genutzt und es gab die letzten Jahre so wenig positives Reinforcement des Freiheitsbegriffs, dass der Begriff gekippt ist, was in der Wahl zur Floskel des Jahres endete. Und da wird jetzt der Ukraine-Konflikt genutzt, um den Freiheits-Begriff wieder positiv zu belegen.

Die Wahl zur Floskel des Jahres ist nebenbei keine Kritik am Konzept der Freiheit, sondern im Gegenteil: Es ist ein Weckruf, dass Freiheit etwas unglaublich wichtiges ist, welches jedoch aus populistisch-politischen Gründen zur Floskel verkommen ist. Wer Freiheit sagt, sollte auch Freiheit meinen, wer Freiheit sagt, aber Egoismus meint, macht Freiheit zur Floskel - und das ist das Problem.

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Bin da auch völlig bei dir.

Ausgerechnet die FDP demontiert den Freiheitsbegriff nachhaltig. Es wäre fast schon lustig wenn es nicht unsere Realpolitik betreffen würde.Und der „traurige Smiley“ von Volker Wissing schießt echt den Vogel ab, sowas von unangebracht scheinheilig.

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Das finde ich besonders wichtig und eben auch bemerkenswert, dass die beiden genannten Politiker scheinbar gar nicht verstanden haben, dass es nicht um den Begriff selbst, sondern dessen Verwendung geht.

Oder sie stellen eben beide diesen Strohmann auf, weil sie wissen dass sie die Argumentation der Floskelwolke zur Wahl des Begriffes nicht angreifen können, denn die „Abnutzung“ des Begriffs Freiheit für „belanglose“ Themen ist ja ein nicht von der Hand zu weisender Fakt.

So können sie dann wenigstens den vollkommen offensichtlichen Strohmann umhauen und sich von ihren Wählern noch etwas Applaus dafür einfangen.

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Was mich ein bisschen verwundert, welche Kreise das zieht. Mir persönlich war die „Floskel des Jahres“ nicht bekannt, im Gegensatz zum Jugendwort oder zum Unwort.

Ich habe daran auch relativ viel Kritik gelesen, weil die Auswahl der „Floskel des Jahres“ nicht von einer Jury bestimmt wird, sondern von lediglich zwei Journalisten. Außerdem wundert es mich, dass es gerade jetzt so viel Aufmerksamkeit bekommt (insb. Artikel auf tagesschau.de). Habe von den anderen Floskeln der vorherigen Jahre keine Artikel dazu gefunden. Kann aber auch einfach am „Streisand-Effekt“ liegen, wobei sich Buschmann & Wissing, soweit ich das erkennen kann erst nach dem Tagesschau-Artikel geäußert haben.

Was man aber trotzdem merkt: Wie sehr man damit genau die Leute triggert, die ebendiesen Freiheitsbegriff ad absurdum führen. @Daniel_K hat es passend umschrieben:

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Das liegt schlicht daran, dass diese Ernennung vielen Leuten quasi aus der Seele spricht und ausdrückt, was @Lukas ja beschrieben hat, dass sich hinter induvidueller Freiheit gerne Verantwortungslosigkeit gegenüber anderen Menschen oder der Gesellschaft allgemein verbirgt.

Du meinst den „Sylt-Effekt“? :wink:

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Ich unterstütze die implizite Empfehlung an Buschmann und Wissing, im Zweifelsfall besser mal die Klappe zu halten, glaube aber wie @Lukas, dass es beiden hier eher darum geht, dem ganzen einen anderen Spin zu geben und zu behaupten, dass es in Deuschland mit der Freiheit nicht allzu weit her ist und man deshalb die FDP braucht. Die Verbindung mit dem Freiheitskampf der Ukraine ist mehr als ein bisschen eklig, wenn man bedenkt, dass Christian Lindner anfangs mit den russischen Plänen für die Ukraine eigentlich ganz einverstanden war - so berichtete es jedenfalls Andrij Melnyk.

2021 wurde übrigens „Eigenverantwortung“ zur Floskel des Jahres gekürt. FDP-Sprache neigt eben derzeit dazu, besonders floskelhaft und inhaltsleer zu sein.

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Treffer! Versenkt! :smile:

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Ich habe nicht alle Posts gelesen und teile die Auffassung des Ursprungsposts komplett!

Ich habe aber eine kurze Frage: Warum wird zwischen FDP und Konservativen differenziert? Die FDP ist am Erhalt des gesellschaftlichen Status quo genauso interessiert, wie Konservative und verhält sich im Moment auch wie eine konservative Partei.

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Stimme dir zu, wollte gerne zuerst auf die im Post benannten Politiker eingehen und noch hinterher schieben, dass es noch weitere Blitzbirnen anderer Parteien gab, die sich echauffiert haben.

Vorrangig waren es aber FDP Politiker, da gab es noch einige weitere.

Hier auch nochmal eine gute Zusammenfassung von Stefan Niggemeier auf Übermedien:

Er spricht auch nochmal an, was ich oben geschrieben habe:
Selbst wenn man berücksichtigt, dass die „Floskelwolke“ ein preisgekröntes Projekt ist – nach welchen Kriterien sollte die rein subjektive Wahl von Pertsch und Stiehl eine objektive Relevanz haben

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Grundsätzlich macht die Differenzierung schon Sinn. Die FDP besteht letztlich seit jeher aus zwei Flügeln, dem wirtschaftsliberalen Flügel (Linder, Westerwelle…) und dem bürgerrechtsliberalen Flügel (Baum, Leutheusser-Schnarrenberger und co.). Diejenigen in der FDP, die stark wirtschaftsliberal, aber kaum bürgerrechtsliberal sind, könnten in der Tat genau so gut in der CDU sein. Also ein Friedrich Merz z.B. könnte auch im wirtschaftsliberalen Flügel der FDP sein, ein Christian Lindner könnte auch in der CDU sein.

Dennoch ist die FDP als Ganzes deutlich bürgerrechtsliberaler als die CDU, daher: Wann immer es um die Abwägung von Freiheit vs. Sicherheit geht, gibt es tiefe Gräben zwischen FDP und CDU, bei diesen Fragen (z.B. ob mehr Überwachung / höhere Strafen sein sollten) ist die FDP oft eher der natürliche Verbündete der Grünen, Piraten und sogar Linken und weniger der Verbündete der CDU.

Leider ist die FDP eigentlich seit der Ära Westerwelle, also seit etwas über 20 Jahren, konsequent vom wirtschaftsliberalen Flügel dominiert, wodurch sie in öffentlichen Debatten oft nicht von der CDU zu unterscheiden ist. In der Ampelkoalition hat die FDP es immerhin hin und wieder geschafft, sich in bürgerrechtsliberalen Fragen gegen die SPD, die leider in dieser Hinsicht oft ähnlich konservativ wie die CDU ist, zu positionieren…

Kurzfassung: Es ist schon etwas komplizierter als „FDP = Konservative“.

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Aber welche harte Objektivität soll ein Begriff wie Freiheit den haben? Sprache ist an sich schon immer irgendwo unpräzise und erst Recht wenn sie in nur einem Wort ein so komplexes, gesellschaftliches Konstrukt wie Freiheit erfassen will.

Da sind solche Diskussionen, wie hier gerade, ja nicht nur vorprogrammiert, sondern sogar notwendig wenn es darum geht Begrifflichkeiten auszuloten. Kann gut sein, dass „Freiheit“ allein als Wort irgendwann die kleine Schwester von „Egoismus“ ist, wenn einige in Politik und Gesellschaft so weitermachen.

Ich gebe dir voll Recht, in dem was du schreibst.

Gemeint war aber etwas anderes: Die Aussage war, welchen Nachrichtenwert die „Floskel des Jahres“ hat. Wo ist da die objektive Relevanz?

Da nimmt beim obigen Kommentar auch die Medien & Nachrichtenagenturen in die Pflicht: „Und dazu gehört auch der Reflex von Medien und Nachrichtenagenturen, jedes subjektive Ranking, jede Vergabe irgendeines Preises oder Negativpreises, mit einer Nachricht zu verwechseln und so zu tun, als hätten hier irgendwelche offiziellen oder dafür zuständige Gremien ein Wort ausgezeichnet – und nicht einfach nur zwei Journalisten gesagt, was sie politisch doof finden.

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Die Relevanz entsteht dadurch, dass offenbar viele Leute sich denken (und sagen), yesss(!), auf den Punkt gebracht! Es gibt ja auch jede Menge Medien, die es für relevant halten was Richard David Precht zu irgendwelchen Themen zu sagen hat, von denen er keine Ahnung hat, und der ist nur eine einzige Person. Wäre die „Floskel des Jahres“ irgendetwas langweilig-dummes gewesen, wär’s halt maximal eine Randnotiz geworden.

(Wobei es natürlich von Vorteil ist, gut vernetzter Journalist zu sein, um überhaupt irgendwo Platz zu finden.)

Naja, genaugenommen gab es auch schon immer – über die Jahrzehnte mehr oder weniger stark – einen nationalliberalen Flügel, der bspw. in den 50er Jahren einen „Stopp der Entnazifizierung“ forderte. Mit Alexander von Stahl war ein prominenter Vertreter dieses Flügels bspw. mal Generalbundesanwalt, der dann später u.a. die Junge Freiheit in Gerichtsprozessen vertrat. Der bürgerrechtsliberale Flügel war zwar eigentlich spätestens seit der sozialliberalen Koalition der deutlich stärkere, aber das dürfte sich mittlerweile gewendet haben. Es hat schon einen Grund, weswegen deine Beispiele für prominente Vertreter bereits Politrentner/innen sind, während man so Leute wie Kemmerich oder Schäffler meiner Meinung nach durchaus als national-liberal bezeichnen kann.

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Und es kam auch nicht von ungefähr, dass die FDP bis zu dieser Legislaturperiode im Plenarsaal rechts von der Union saß.

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